Rainer Hagencord / Helga Kretzschmar (Hg.)

Jahrbuch Theologische Zoologie, Bd. 2/2017: Das Tier in Religion, Kultur und Ethik. Neue Wahrnehmung des Tieres in Theologie und Spiritualität

Rainer Hagencord / Helga Kretzschmar (Hg.), Jahrbuch Theologische Zoologie, Band 2/2017: Das Tier in Religion, Kultur und Ethik. Neue Wahrnehmung des Tieres in Theologie und Spiritualität, Lit Verlag, Münster 2017, 94 Seiten, 19,90 Euro.

Bei der letzten Bundestagswahl hat eine halbe Million Deutsche ihre Stimme einer der drei Parteien gegeben, bei denen der Tierschutz im Mittelpunkt steht. Die gesellschaftliche Bedeutung tierethischer Fragen wächst.

Das zunehmende Gewicht des Themas ist an den Kirchen nicht spurlos vorübergegangen, die sich aber auch schon seit Jahrzehnten gelegentlich zum Tierschutz geäußert haben. Die päpstliche Enzyklika Laudato si‘ (2015) erklärt im Blick auf die Tiere, der Mensch sei „berufen, alle Geschöpfe zu ihrem Schöpfer zurückzuführen“. Auch in der EKD, beim Evangelischen Kirchentag und in der kirchlichen Publizistik bis zur Gemeindeebene schlägt es sich nieder. In diesen gesellschaftlichen Trend gehört auch die Gründung des „ökumenisch, interdisziplinär und interreligiös“ arbeitenden „Instituts für Zoologische Theologie“ an der (katholischen) Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster im Jahr 2009 unter Leitung des Theologen und Biologen Rainer Hagencord.

Acht Jahre nach der Gründung erscheint nun das zweite Jahrbuch des Instituts (Bd. 1 erschien 2014), dessen Charakter man als eine Mischung aus akademisch-theologischer Einrichtung, Bildungsinstitut und tierschützerischem Aktionszentrum beschreiben kann. Dementsprechend uneinheitlich erscheint auch der vorliegende Band, der keine klassisch akademische Jahrbuchpublikation ist noch sein will. Die große Mehrheit der Autoren ist als Umwelt- und Tierschutzaktivisten engagiert. Ihr fachlicher Hintergrund reicht von Theologie (ev./kath.) und Medizin über Biologie bis zu Islamwissenschaften; religiös sind die Beitragenden (soweit erkennbar) katholisch, evangelisch, islamisch und bei Qigong beheimatet. Eine thematische Gliederung der Beiträge fehlt, sodass autobiografisch Erzählendes und Exegetisches, Philosophisches und Kulturwissenschaftliches unverbunden und nicht erkennbar geordnet nebeneinanderstehen.

Rainer Hagencord zeichnet kurz die Geschichte der Mensch-Tier-Natur-Beziehung nach und begrüßt die wachsende kirchliche Aufmerksamkeit, die sich z. B. in Laudato si‘ zeige. Diese Enzyklika, die für eine umfassende Schöpfungsverantwortung inklusive Umwelt- und Tierschutz eintritt, wird von mehreren Autoren rezipiert.

Manfred Kollig durchforstet die Bibel im Hinblick auf die wichtige Rolle der Tiere, ohne exegetisch allzu tief einzusteigen. Allerdings gibt es einige Ausflüge, die deutlich von der Ex- zur Eis-Egese („Hineinlegung“ statt Auslegung) fortschreiten, etwa bei den Spekulationen über die Motive hinter tierbezogenen Geboten des Alten Testaments, die gut zur modernen Befindlichkeit, aber nur bedingt zum biblischen Text passen (Zubereitungsverbot von Mutter und Jungtier, Ex 23,19; Sammelverbot für Vogelmutter mit Küken, Dt 22,6).

Der evangelische Pfarrer Ulrich Seidel plädiert für die Einheit alles Lebenden. Dabei orientiert er sich zum einen an östlichen Religionen und schlägt zum anderen eine neue Bewertung der Sintfluterzählung vor. Seine Helden sind Mahatma Gandhi, der aktuelle Papst und Albert Schweitzer. Ja, selbst Martin Luther sei (in den Tischreden) fest davon ausgegangen, dass auch sein Hund in den Himmel komme. Die notwendigen ethischen Leitlinien findet er biblisch in der Goldenen Regel, dem Einsatz für die Schwachen und in Jesu Gewaltlosigkeit.

Viele Beiträge variieren ähnliche Themen in leicht unterschiedlicher Gewichtung, ohne wirklich Neues zu bringen. So werden immer wieder Umweltzerstörung und Tierleid beklagt und ökologische Katastrophenszenarien geschildert. Bärbel Wartenberg-Potter plädiert angesichts all dessen für eine „Erd-Gemeinschaft“ des Menschen, für eine „Treue zur Erde“ und zwar ausdrücklich als „Plädoyer für eine Hingabe (dedication) an die Erde, wie sie dem Heiligen und Sakramentalen gilt“. Hier wüsste man gerne, wie sie diese Naturfrömmigkeit und Erdhingabe im Verhältnis zur Treue zum Evangelium und zur Hingabe an den heiligen Gott bestimmt. Wie verhalten sich Schöpfung, Schöpfer und Geschöpf(e), wenn wir „Erdhingabe“ üben? Oder erschöpft sich das Evangelium in der Schöpfungsverantwortung und menschlicher Retterrolle?

Wartenberg-Potter und andere schreiben streckenweise im Duktus jenes Ethno-Kitsches, in dem naturbelassene Urwaldvölker und Stammesreligionen neben chinesischen Gemeinplätzen aus dem Managerseminar auftreten (wörtlich: „In chinesischen Schriftzeichen bedeutet das Wort Krise zugleich auch Chance“). Nicht nur hier grüßt die exotistisch-eurozentrische Projektion, Rousseaus Traum vom Edlen Wilden. Jared Diamonds Bestseller „Kollaps“ lieferte schon 2004 (dt. 2005) Dutzende historische Beispiele für die ökologische Selbstvernichtung von Naturvölkern und könnte bei den Autoren für etwas mehr Realismus betreffs der conditio humana sorgen.

Positiv sticht Asmaa El Maaroufis Beitrag zur Rolle des Tieres im Koran heraus. Ihr Überblick zu den exegetischen Ansätzen für eine islamisch begründete Tierethik versteht sich zwar auch als Plädoyer, gibt aber dennoch einen sachlichen Überblick über verschiedene Auslegungsströmungen der tierbezogenen Koranverse. Ihre Argumentation für eine stärkere Achtung des Tieres hebt auf drei Aspekte ab: die Gemeinschaftsbildung von Tieren (inklusive eigener Sprache!), die Nützlichkeit von Tieren für den Menschen und Gottes Beauftragung des Menschen als Statthalter auf Erden. Hier finden sich Parallelen zur biblischen Tradition.

Bedauerlich ist die geringe Interdisziplinarität der Herangehensweisen (besser gelöst war das im Jahrbuch 2014). Ulrich Seidel etwa deutet unter Berufung auf Darwin die Existenz tierischer Gefühle an. Hier ließe sich weiterfragen: Was bedeuten die neueren biologischen Fachdebatten über das Gefühlsleben von Tieren und die Existenz von „Kultur“ unter sozial lebenden Tieren für die theologische Tierethik? (vgl. Hal Whitehead/Luke Rendell: The Cultural Lives of Whales and Dolphins; Carl Safina: Beyond Words. What Animals Think and Feel, beide 2015).

Der Grund für die Aufnahme des weder literarisch noch inhaltlich überzeugenden abschließenden Rührstücks über die Rettung eines griechischen Straßenhundes erschließt sich nicht. Der Beitrag verstärkt den Eindruck, dass man nicht recht wusste, zu welcher Textgattung sich das Jahrbuch rechnen wollte, und dann von allem etwas machte. Zu vieles bleibt im Ton der Betroffenheit, des moralischen Appells und der Warnung. Das alles hat man schon oft gelesen. Stattdessen wünscht man sich mehr rigoros argumentierende, weiterführende ethische Reflexionen, vielleicht auch konkrete Anregungen für politische und kirchliche Konsequenzen. Warum ist das Schreddern männlicher Küken verwerflicher als die maschinelle Massenschlachtung erwachsener Hühner? Wenn man jede kategoriale Grenzziehung zwischen Mensch und Tier ablehnt, wie begründet man dann eine solche Unterscheidung zwischen Tier und Pflanze? Warum ist der Tierschutz im Westen so viel besser, wenn östliche und tribale Religionen und Kulturen angeblich so viel mehr Potenzial dafür bereithalten? Was bedeutet es, dass sich Tierethiker besonders oft mit kuscheligen Haustieren und eleganten Jagdkatzen befassen, seltener mit Hyänen und Ratten? Was erhofft man sich konkret von der Kirche? Was ist von Tiergottesdiensten und -friedhöfen zu halten?

Insgesamt leidet der Band an einem schwachen Lektorat, was sich in formaler Uneinheitlichkeit, zahlreichen Druckfehlern, einer bisweilen fantasievollen Rechtschreibung und einer gelegentlich einsturzgefährdeten Grammatik zeigt. Das ist angesichts des wichtigen und aktuellen Themas bedauerlich.


Kai Funkschmidt