Yves Bizeul

Ist unser rechtlicher Umgang mit Religion integrationsfördernd?

Eine französische Perspektive

Der rechtliche Umgang mit Religion wird in Frankreich durch den Grundsatz der Laizität bestimmt. Darunter versteht man die Forderung nach einer strikten Neutralität des Staates gegenüber allen religiösen, aber auch religionskritischen Überzeugungen. Der Laizitätsexperte Jean Baubérot unterscheidet sieben Verständnisse der Laizität in Frankreich,1 die jeweils eine andere Wirkung auf die Integration haben:

1. Die sog.  gallikanische Laizität geht mit einer strengen Kontrolle der Religion durch den Staat einher. 1905, bei den Debatten um das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat, brachte Émile Combes, damaliger Premierminister, eine Gesetzesinitiative ein, die eine strenge Überwachung der religiösen Gemeinschaften, vor allem der damals noch antirepublikanischen katholischen Kirche durch den Staat im Geiste des Gallikanismus des Ancien Régime und der „Organischen Artikel“ Bonapartes von 1802 vorsah. Heute verfolgt der Staat das Ziel, den Islam durch eine normierte Institutionalisierung zu überwachen. Integration soll in diesem Fall durch Steuerung der Einzelnen und der Religionsgemeinschaft durch den Staat erfolgen.

2. Ein zweiter Typus von Laizität ist die sog. antireligiöse bzw. antiklerikale Laizität. Diese Position wurde 1905 vor allem durch den sozialistischen Abgeordneten Maurice Allard vertreten. Heute findet man sie unter den radikalsten Anhängern der Aufklärung, so z. B. bei Henri Peña-Ruiz, Régis Debray, Catherine Kintzler oder den Freimaurern der Loge Grand Orient de France wieder. Integration soll hier die Folge der Durchsetzung einer für alle verpflichtenden „politischen Ersatzreligion“ – des Laizismus – sein.

3. Die Befürworter einer strikten Laizität wollen eine klare Trennung der politischen und religiösen Sphären. Damals, 1905, gehörten Jules Ferry, Ferdinand Buisson und Georges Clemenceau dazu. Ihr Modell einer Trennung von Staat und Kirche war durch den Protestantismus geprägt: Die Einzelnen sollen religiöse Vereine von unten bilden, in denen sie unabhängig vom Staat ihre jeweilige Religionsgemeinschaft organisieren und ihre Religion frei praktizieren. Integration soll nach diesem Laizitätsmodell von unten im Rahmen einer pluralistischen Zivilgesellschaft erfolgen.

4. Die Anhänger der inklusiven Laizität suchten 1905 nach einem Konsens mit der damals immer noch höchst einflussreichen katholischen Kirche. Laut Jean Jaurès, Francis de Pressensé und Aristide Briand, dem Vorsitzenden der Kommission zur Vorbereitung des Gesetzes von 1905, sollten sich die Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften nach ihren jeweiligen Traditionen frei organisieren und der Staat in dieser Angelegenheit neutral bleiben. Diese moderate Sichtweise hat sich letztendlich im Gesetz von 1905 durchgesetzt. Integration sollte die Folge des Konsenses zwischen dem neo-royalistischen und dem republikanischen Frankreich sein.

5. Ein fünfter Laizitätstypus, die offene Laizität, wird heute von der Ligue Française de l’Enseignement et de l’Éducation Permanente (LFEEP) und von (oft protestantischen) Intellektuellen wie dem verstorbenen Paul Ricœur, von Jean Baubérot oder Jean-Paul Willaime bevorzugt. Aber auch Katholiken plädieren derzeit für diese Deutung der Laizität, so Philippe Portier, der in Anlehnung an Marcel Gauchet die Auswirkung der allmählichen Durchsetzung einer „Solidarität von Singularitäten“ und einer „reflexiven Moderne“ auf die Beziehung zwischen Staat und Kirche untersucht. Sie alle nehmen für eine Anerkennung des kulturellen Pluralismus und für eine offenere und tolerantere Laizität (laïcité plurielle) Stellung. Auch Politiker stehen dieser Laizitätsform durchaus positiv gegenüber, so Nicolas Sarkozy, als er Staatschef war, oder heute Emmanuel Macron, ein Schüler Paul Ricœurs. Macron will bald Leitlinien für eine Neustrukturierung des Islam verabschieden. Hier sind lockere Steuerung und Selbstorganisation die beiden Grundsäulen von Integration.

6. Ein sechster Typus, die identitäre Laizität, wird vor allem von der rechtpopulistischen Partei Front National (Rassemblement National) vertreten. Die Vorsitzende dieser Partei, Marine Le Pen, braucht die Laizität, um sie als Waffe gegen den Islam einzusetzen und um die nationale Identität zu stärken. Baubérot spricht von einer „verfälschten Laizität“ (laïcité falsifiée) und Dimitri Almeida von der „Konstruktion einer postrepublikanischen Laizität“ durch den Front National. Integration erfolgt in diesem Rahmen durch den Ausschluss des anderen und die Durchsetzung einer für alle verbindlichen völkischen Leitkultur.

7. Die laïcité concordataire ist die spezielle Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche in den drei Departments „Bas-Rhin“, „Haut-Rhin“ sowie „Moselle“. Als das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche in Frankreich erlassen wurde, standen diese Gebiete unter deutscher Souveränität.

Laizität und die Vielfalt der Kulturen

Für ihre Anhänger entfaltet die Laizität eine integrative Wirkung im Staat und sichert den sozialen Frieden trotz Vielfalt der Religionen und der Kulturen ab. Allerdings ist der Dogmatismus mancher Laizisten bei der Integration der Migranten und ihrer Nachfahren eher hinderlich als förderlich. Denn er fördert gerade – als Trotzreaktion – die Verfestigung oder sogar die Verbreitung radikaler Überzeugungen. Vor allem die Verbote religiöser Symbole sind keineswegs integrationsfördernd. Die öffentliche Sphäre wird heute breit als Öffentlichkeit (die Straße) und nicht nur als staatliche Sphäre (staatliche Gebäude) oder als die Personen der Beamten, wie Raphaël Liogier sie versteht, definiert. Durch das Urteil der Plenarversammlung des Kassationsgerichtshofs, das 2014 ein Kopftuchverbot in der Kindertagesstätte „Baby Loup“ nicht aufhob, gilt heute das Prinzip der Laizität sogar in bestimmten Privatvereinen. Riva Kastoryano stellt fest, dass die Nordafrikaner in Frankreich aufgrund der Virulenz der Debatten um die Laizität und die Extension des Wirkkreises dieses Grundsatzes die Quelle ihrer kollektiven Identität vor allem im Islam finden, die Türken in Deutschland hingegen in erster Linie in der türkischen Nationalität.

Um dieser spannungsgeladenen Situation Herr zu werden, versucht der Staat derzeit, nicht nur härter gegen den Rassismus und die alltägliche Diskriminierung der Migranten bzw. Migrantennachfahren vorzugehen, sondern auch dem Islam entgegenzukommen, ihn zugleich aber auch enger zu überwachen. 2003 gelang es dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy, nach dem Muster des protestantischen Bundes und des Repräsentativrates der französischen Juden eine zentrale institutionelle Vertretung der französischen Muslime als Ansprechpartner des Staates einzurichten. Der neue „Conseil français du culte musulman“ (CFCM, französischer muslimischer Zentralrat) soll den Dialog zwischen Politikern und Vertretern der zweitgrößten religiösen Gemeinschaft Frankreichs auch auf regionaler Ebene erleichtern. Ziel des „Dialogs“ zwischen ungleichen Partnern ist es aber auch, extremistische Auswüchse zu bekämpfen, Streitereien zu schlichten und eine reibungslose Ausübung der Religion in der Privat- bzw. Kollektivsphäre zu ermöglichen. Die französische Regierung wollte durch die Schaffung der neuen repräsentativen Institution auch die Identifikation der Muslime mit Frankreich und mit der Republik festigen und so einen „französischen Islam“ schaffen.

2014 veröffentlichte der CFCM eine „staatsbürgerliche Vereinbarung der Muslime Frankreichs für ein gutes Zusammenleben“. Darin wird betont, dass der Islam mit den Gesetzen der Republik problemlos vereinbar sei und keine Änderungen oder Anpassungen der Gesetzgebung erfordere. Die Gründung des Islamrats 2003 ermöglichte die Einführung islamischer Seelsorger in der Armee, in Gefängnissen und Krankenhäusern. Parallel dazu hat die „Fondation de l’islam de France“ (Stiftung des Islam in Frankreich), die vom ehemaligen Premierminister Bernard Cazeneuve gegründet und Jean-Pierre Chevènement anvertraut wurde, verschiedene Aktionen zur Verbesserung der nichtreligiösen Ausbildung von Imamen eingeleitet. Sie fördert die Forschung im Bereich Islamwissenschaft und Bildungsprojekte auch finanziell.

Staatliche Zugeständnisse an Muslime

Die französischen Behörden wollen die Finanzierung neuer Moscheen und die Ausbildung der Imame nicht weiter islamischen Ländern überlassen. Dies setzt allerdings eine stärkere Einmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten voraus, die klar gegen die Trennung von Staat und Religion verstoßen würde. Selbst ein strenger Laizist wie Jean-Pierre Chevènement setzte sich als Innenminister dafür ein, alle zur Verfügung stehenden Instrumente in Gang zu setzen, um den Bau von Moscheen finanziell zu fördern. Dieser erfolgt in Frankreich heute teilweise mit öffentlichen Mitteln. 2003 wurde in Lille das erste islamische Gymnasium Frankreichs eröffnet, das vom Staat finanzielle Unterstützung erhält.

Immer mehr Zugeständnisse werden den Muslimen von staatlicher Seite gemacht, um ihre Integration zu fördern. In manchen öffentlichen Schulkantinen und in Kasernen werden vegetarische Speisen angeboten – der Front National will hingegen in den öffentlichen Kantinen einen Tag mit Schweinefleisch einführen. Der Umsatz der Halāl-Fleischprodukte wird mittlerweile in Frankreich auf 5 bis 7 Milliarden Euro geschätzt. Er ist fast genauso hoch wie der Umsatz von Bio-Produkten. Manche schlagen die Einführung einer Steuer auf Halāl-Produkte vor, um den Islam in Frankreich zu finanzieren – schon Charles Pasqua hatte eine solche Maßnahme in den 1990er Jahren vorgeschlagen. Laut einer Ifop-Umfrage aus dem Jahr 2018 sprechen sich 70 Prozent der Franzosen dagegen aus und lediglich 29 Prozent sind dafür. Die Schlachtung der Tiere beim islamischen Opferfest findet auf Weisung des Staates in ausgewählten Schlachthöfen statt. Auf einigen Friedhöfen gibt es islamische Grabfelder, außerdem gibt es vom Staat bezahlte muslimische Seelsorger in Krankenhäusern, Gefängnissen und beim Militär.

Zugleich will man den Islam besser überwachen. Seelsorger und Imame müssen eine Ausbildung im Fach Laizität am Institut Catholique in Paris bzw. Strasbourg absolvieren. Auch die theologische Ausbildung der Imame soll verstärkt in Frankreich stattfinden.

Macrons religionspolitische Agenda

Die aktuelle Regierung will die Vermittlung der Laizität und religiöser Inhalte (le fait religieux) in öffentlichen Schulen gezielt stärken. Für Macron sind die beiden miteinander verbunden und für die Gesellschaft unverzichtbar. In einer Rede vom 4. Januar 2018 stellte Macron fest: „Wir haben angefangen, Maßnahmen in diesem Sinne zu treffen.“ Frankreich sollte der Ort sein, „an dem wir nichts über die Religionen und den ‚fait religieux‘ verheimlichen und an dem der religiöse Pluralismus voll anerkannt wird und sich frei entfalten kann“.

Man arbeite intensiv an dem Projekt und auch daran, es in der Bevölkerung zu vermitteln, kündigte Macron in der Sonntagszeitung Journal du Dimanche an. Details verriet er nicht. Ziel ist nach Macrons Worten eine Neujustierung der französischen Laizität. Am 9. April 2018 sagte er in einer Rede vor der französischen Bischofskonferenz, er wolle das beschädigte Band zwischen Staat und Kirche reparieren. Manche Anhänger der Laizität sahen in dieser Aussage ein grundgesetzwidriges Zugeständnis des Staatspräsidenten an die Katholiken, die 2013 im Rahmen der „Manif pour tous“ in Frankreich in großer Zahl gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und gegen das Adoptionsrecht für Homosexuelle und Lesben demonstriert hatten, und einen Verrat am Grundsatz der Laizität.

Ein echter Beitrag zur Integration könnte aber allein die Einführung eines Islamunterrichts in den öffentlichen Schulen, erteilt von staatlich geprüften Lehrkräften, leisten, wie dies derzeit in Deutschland oder in Belgien geschieht. In Frankreich findet aber nur im Elsass und im Mosel-Departement Religionsunterricht in öffentlichen Schulen statt.

Seit 2015 gibt es Überlegungen, in den öffentlichen Schulen der drei östlichen Departements das Fach „Religiöse Bildung“ einzuführen, in dessen Rahmen alle monotheistischen Religionen – darunter auch der Islam – behandelt werden sollen. Das Fach soll von katholischen und evangelischen Lehrkräften in Kooperation mit Vertretern des Islam unterrichtet werden. Es geht dabei allerdings nicht um einen echten Islamunterricht.

Anerkennende Laizität

Die Laizität ändert sich von einer „kämpfenden Laizität“ („laïcité de combat“) in eine „anerkennende und kontrollierende Laizität“. Man nimmt sogar Verletzungen des Laizitätsgrundsatzes in Kauf, um die Gefahr des religiösen Fundamentalismus und des politischen Islam in den Griff zu bekommen und die Integration der Migranten und ihrer Kinder bzw. Kindeskinder zu fördern. Das hat zur Folge, dass Marine Le Pen sich als einziger echter Garant der Laizität profilieren kann.

In Frankreich wie auch in Deutschland verfolgen die meisten Politiker das Ziel, die Entstehung eines aufgeklärten und modernen Islam zu fördern. Der deutsche Weg, um dies zu erreichen, scheint leichter begehbar zu sein als der französische. Freilich ist sowohl in Frankreich als auch in Deutschland das Argumentieren strikt, die Praxis aber flexibel (Janine Ziegler). In Frankreich hat man aber einen problematischen Konflikt zwischen einer politischen Religion (Eric Voegelin), dem Laizismus, und dem radikalen Islamismus. In Deutschland kann man leichter die Verbreitung eines gemäßigten Islam fördern: durch die Einführung eines vom Staat kontrollierten Islamunterrichts, durch die theologische Ausbildung von Imamen an staatlichen Hochschulen und durch die Förderung von theologischen Fakultäten, in denen eine wissenschaftliche Arbeit zum Islam stattfindet, historisch-kritische exegetische Methoden angewandt werden und ein positives Bild Gottes – das des mitfühlenden Gottes des islamischen Theologen aus Münster Mouhanad Khorchide, das von der DİTİB kritisiert wird – vermittelt wird.

Obwohl man in Frankreich immer noch einen problematischen Konflikt zwischen dem Laizismus und dem radikalen Islamismus beobachtet, hat das französische System, was die Integration der Migranten anbetrifft, nicht völlig versagt, und dies trotz der bekannten großen Probleme in den „banlieues“ (soziale Brennpunkte in den Vororten der Großstädte). Zahlreiche Zuwanderer der zweiten und dritten Generation sind dort gut eingegliedert oder leben, wie die chinesischen Migranten, friedlich in Parallelgesellschaften. Die soziale Mobilität und die Zahl der Mischehen steigen langsam. Schon jetzt haben sich vor allem auf lokaler Ebene, in den Verwaltungsämtern und in den Vereinen, sog. „ethnische“ Eliten gebildet. Sie sind präsent in den Medien, in der Wirtschaft und in der Politik. Man stellt auch den Aufstieg eines islamischen Lobbyismus in politischen Angelegenheiten fest. Zugleich gehören immer mehr Migranten aus dem Maghreb und Schwarzafrika zur Mittelschicht.

Nach einer Ifop-Umfrage für das Journal du Dimanche 2016 besteht die größte Gruppe unter den Muslimen (46 Prozent) aus Menschen, die entweder weitgehend säkularisiert oder dabei sind, sich vollständig in die französische Gesellschaft zu integrieren, ohne ihre Religion zu leugnen. Eine zweite Gruppe, die 25 Prozent der Muslime ausmacht, ist frommer und legt mehr Wert auf identitäre Fragen. Sie lehnt allerdings die völlige Verschleierung ab. Die letzte Gruppe (28 Prozent) besteht aus gläubigen Muslimen, die ein Wertesystem vertreten, das den Grundsätzen der Republik eher widerspricht. Junge Menschen, die arbeitslos sind, und Konvertiten sind in dieser Gruppe überrepräsentiert (50 Prozent).

Das Meinungsforschungsinstitut Ifop macht 2018 einen positiven Bewusstseinswandel der Franzosen gegenüber dem Islam aus. 56 Prozent der Bevölkerung halten ihn 2018 laut Umfrage für vereinbar mit den Werten der französischen Gesellschaft – also auch mit der Laizität – und nur 43 Prozent nicht. 2016 war das Verhältnis genau umgekehrt.


Yves Bizeul
 

Anmerkungen

  1. Vgl. Jean Baubérot: Les 7 laïcités françaises, Paris 2015.