Liane Wobbe

Ismailiten feiern Thronjubiläum

60 Jahre Imamat von Karim Aga Khan IV.

Am 11. Juli 2017 feierten die Gemeinden der Shia Imami Ismaili Muslime (Ismailiten) weltweit den Beginn des Diamantenen Jubiläumsjahres ihres jetzigen Imams, den sie auch „Mowlana Hazir Imam“ nennen. Denn genau 60 Jahre ist es her, dass seine Hoheit Karim Aga Khan IV. im Testament seines Großvaters zum 49. Imam der Ismailiten-Gemeinde deklariert wurde.

Einige Tage vorher kündeten nur vereinzelte ismailitische Websites das „Diamond Jubilee“ an. Außerhalb ismailitischer Medien fand sich der einzige Hinweis auf diesen Feiertag in einer Glückwunschrede des kanadischen Premierministers Justin Trudeau: „… An diesem Tag lade ich alle Kanadier ein, über das Beispiel von Aga Khan nachzudenken, der uns fortwährend inspiriert, Mitgefühl gegenüber all denjenigen zu zeigen, die weniger glücklich sind als wir selbst … Allen kanadischen Ismailiten, die das Diamond Jubilee feiern, wünsche ich Khushali Mubarak!“1 Nach dem Feiertag erschienen bei YouTube dann zahlreiche Videos zum Thronjubiläum. Eine schöne Aufnahme zeigt eine feierliche und musikalisch untermalte Prozession zur Residenz des Aga Khan in Aiglemont: Über 400 Mitglieder schreiten andächtig und begleitet von devotionalen Gesängen zum Haus ihres Imams, um ihm Ehrerbietung zu seinem 60. Thronjubiläum entgegenzubringen. Als der Imam mit seiner Familie heraustritt, spricht ihm der Leiter des internationalen Forums in seiner Dankesrede die Loyalität der weltweiten Ismaili-Gemeinde zu.2 Weitere Videos präsentieren, wie Ismailis in aller Welt den Tag begehen, mit Dandiyatänzen und Feuerwerk in Indien,3 Kumbatänzen in Tansania4 oder traditionellen Qasidarezitationen in Tadschikistan.5 Und in der eigens produzierten Jubiläumshymne „Jubilee Mubarak Mawla“, die auf allen Kanälen erklingt, bringen die Gläubigen ihren Dank gegenüber ihrem verehrten Mowla Hazir Imam zum Ausdruck: „Shukr hai Mawla … Zikr hai Mawla“ (Danke Mowla … Das Gedenken gebührt Mowla).6

Geschichte der Ismailiten (Nizariten)

Die Shia Imami Ismaili Muslime bilden die größte Gruppe des ismailitischen Schiitentums, das sich dadurch auszeichnet, dass die Anhänger Ali, den Schwiegersohn und Cousin des Propheten Muhammad, als ersten legitimen Nachfolger (Kalif) und Imam betrachten und dessen Nachkommen als Stellvertreter des Propheten in bestimmten Imamreihen anerkennen.

Die Gemeinde der Ismailiten entstand im 8. Jahrhundert, nach dem Tod Dscha‘far as-Sadiqs, den sie als 5. Imam betrachten. Während die Mehrheit dessen Sohn Musa folgte, aus der die Zwölferschia hervorging, erkannte eine kleine Gruppe den Sohn Ismail als 6. Imam an, aus der sich die Ismailiten-Schia entwickelte. Diese dehnte ausgehend vom Gründungsgebiet des heutigen Irak die Anhängerschaft der Ismailiten mittels einer aktiven Mission (daʿwa) auf Arabien, Palästina, Syrien, Persien, Indien und Ägypten aus und schuf bis Ende des 11. Jahrhundert unter der Kalifendynastie der Fatimiden eines der mächtigsten Reiche innerhalb der islamischen Welt. Der Tod des 18. Imams al-Mustansir im Jahr 1094 führte zur ersten Spaltung der Ismailiten. Während die Gemeinden in Ägypten und teilweise in Syrien dem jüngsten Sohn al-Musta‘li folgten – aus ihnen gingen die Musta‘liten hervor –, bekannten sich die persischen und wenige syrische Gemeinden zum erstgeborenen Sohn Nizar und wurden als Nizariten bezeichnet.7

Zur Zeit der Kreuzzüge nahmen die Nizariten die Burg Alamut sowie weitere Festungen und Burgen in Persien und Syrien ein. Die Stürmung von Alamut im 13. Jahrhundert durch die Mongolen bedeutete das Ende für den Nizaritenstaat in Persien, und die ismailitischen Gruppen zogen sich in die Gebiete Nordpersiens zurück. Dem Korangebot der Vorsicht (taqiyya) folgend, verbargen sie hier bis Ende des 18. Jahrhundert ihren Glauben, indem sie sich als Sufis oder Zwölferschiiten tarnten. Erst mit dem 42. Imam bekannten sie sich wieder in der Öffentlichkeit.

Der 46. Imam Hassan Ali Schah (1800 – 1881) erhielt aufgrund seines familiären und freundschaftlichen Verhältnisses zum persischen Herrscher von diesem den Adelstitel Aga Khan (pers., Herr, Fürst) verliehen, welcher auf alle weiteren Imame übertragen wurde. Nachdem 1840 Aga Khan I. seinen Sitz aus dem Iran nach Indien verlegt hatte, sprach ihm 1866 der Oberste Gerichtshof in Bombay den Status als Inhaber der geistlichen und weltlichen Autorität über die gesamte Gemeinde der Shia Imami Ismailis zu. Für die Ismailiten, die in Indien auch als Khojas bezeichnet wurden, bedeutete das ihre rechtliche Anerkennung als eine schiitisch-ismailitische Gemeinde.

Der 47. Imam und Aga Khan II. (1830 – 1885) kümmerte sich um die Verbesserung des Erziehungs- und Fürsorgewesens seiner Anhänger in Indien, Persien und dem Mittleren Osten. Sein Sohn Sultan Muhammad Shah (1877 – 1957), Aga Khan III., galt als großer Reformer und Politiker. Um den Status der Ismailiten als eigene Gemeinde zu festigen, ordnete er neue Richtlinien und Organisationsformen an. Die Spenden seiner Anhänger nutzte er für den Bau von Schulen und Krankenhäusern sowie für verschiedene Modernisierungsprojekte. Besonders viel lag ihm an der Entwicklung von Rechten, Bildung und Selbstverantwortung der Mädchen und Frauen.

Am 11. Juli 1957 wurde sein Enkelsohn, Karim al-Husseini, zum 49. Imam und Aga Khan IV. deklariert und gilt seitdem als Imam az-Zaman (arab.), als gegenwärtiger Imam aller Ismailiten. Am 13. Dezember 1936 in Genf geboren und aufgewachsen in Nairobi, studierte er Wirtschaft und Orientalistik in Harvard und Cambridge. Im Jahr seiner Inthronisation verlieh ihm die Königin von England den Titel „His Highness“. Aga Khan IV. setzte die progressive Politik und die Reformarbeit seines Großvaters fort, indem er zahlreiche Institutionen ins Leben rief, die in erster Linie dem materiellen und gesundheitlichen Wohlergehen und der Bildung von Ismailiten, aber auch von Nichtismailiten in verschiedenen Länder zugutekommen. Genannt sei hier v. a. das „Aga Khan Development Network“ (AKDN), die weltweit größte private Entwicklungshilfeorganisation, die Krankenhäuser, Bildungs- und Kultureinrichtungen Landwirtschaftsprojekte und Frauenprogramme v. a. in Indien, Pakistan, Zentralasien und Ostafrika unterstützt. Neben seinem weltlichen Engagement leitet Aga Khan IV. auch das spirituelle Leben seiner Gemeinden weltweit, indem er sie besucht und ihnen zeitgemäße Anweisungen (Farmane) übermittelt. Sein Hauptwohnsitz befindet sich in Aiglemont, nördlich von Paris.

Das Aga Khan Development Network

Das AKDN ist eine der weltweit größten privaten Entwicklungshilfeorganisationen, deren Aktionsschwerpunkte sich auf die Unterstützung von Gesundheit, Bildung und Kultur in muslimischen Gesellschaften beziehen, vor allen in Gegenden, in denen Ismailiten leben, wie in Süd- und Zentralasien, im Nahen und Mittleren Osten, in Ost- und Westafrika. Dem AKDN als Dachorganisation unterstehen den jeweiligen Aktivitäten entsprechend verschiedene Unterorganisationen wie z. B. die Aga Khan Agency for Microfinance (AKAM), die Aga Khan Foundation (AKF), die Aga Khan Education Services (AKES), der Aga Khan Fund for Economic Development (AKFED), die Aga Khan Health Services (AKHS) oder der Aga Khan Trust for Culture (AKTC).

Das AKDN ist keine konfessionsgebundene Organisation, hier arbeiten Menschen verschiedener Religionen und Nationen. Es finanziert sich aus den Abgaben der Gemeinden, aus Spenden und aus der Kooperation mit zahlreichen internationalen Geldgebern wie der Weltbank, der Europäischen Kommission und der UN. Auch in Deutschland unterhält das AKDN bedeutende Beziehungen zu verschiedenen Kooperationspartnern wie dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem Auswärtigen Amt, der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG). Diese deutschen Kooperationspartner haben u. a. geholfen, in Tadschikistan, Pakistan und Afghanistan Straßen, Brücken, Wasserkraftwerke, Abwassersysteme und Krankenhäuser zu bauen. Auch bei der Restaurierung des Babur-Gartens und einer Moschee in Kabul unterstützte das Auswärtige Amt seit 2002 das AKDN mit ca. 600 000 Euro.8 In Ostafrika haben oben genannte Kooperationspartner u. a. dazu beigetragen, Energieinfrastrukturen zu schaffen und den Tourismus zu fördern. Darüber hinaus unterstützt das AKDN in Zusammenarbeit mit deutschen Universitäten und Migrationsforschungsinstituten hin und wieder Studien- und Hilfsprojekte in Bezug auf die Integration von afghanischen, iranischen und pakistanischen Gemeinschaften in deutschen Städten.9

Die Heiligen Schriften der Ismailiten

Die Shia Imami Ismaili Muslime wurden in der islamischen Geschichte aufgrund der Geheimhaltung ihres Glaubens gern als Batiniyya (arab. batin, verborgen), später nach dem 19. Imam Nizar als Nizariyya (Nizariten) bezeichnet. In der christlichen Geschichtsschreibung sind sie unter dem von ihren Gegnern in Syrien und Ägypten benutzten Begriff „Assassinen“, (arab. Haschischiyya, Haschischraucher) bekannt geworden. Heute lehnen sie den Begriff Nizariten ab und bezeichnen sich selbst als „Shia Imami Ismaili Muslime“ oder einfach „Ismailis“/„Ismailiten“.

Der Koran stellt für Ismailiten das wichtigste autoritative Buch dar. Sie glauben jedoch an eine geistige (batini) und eine weltliche (zahiri) Bedeutung der Verse. Nur der gegenwärtig amtierende Imam besitzt die göttliche Befugnis, die koranischen Lehren zu interpretieren und entsprechende Weisungen für das weltliche und spirituelle Leben seiner Anhänger zu geben.

Von besonderer theologischer und ritueller Bedeutung für Ismailiten sind Ginans (sansk. gnana/jnana, Wissen). Es handelt sich hier um hymnenartige Gedichte, die in den Gemeinden Westindiens, in Sind, Pandschab und Gujarat zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert mündlich überliefert und in der Khojki-Schrift aufgezeichnet wurden. Die Autorenschaft wird den Pirs (Missionare, die vom Imam abstammen) zugeschrieben. Als bekanntester Autor der Ginans gilt Pir Sadr ad-Din. Er bekehrte im 14. und 15. Jahrhundert zahlreiche Hindus der Lohana-Kaste aus Westindien zum Ismailitentum und verlieh ihnen den Namen Khoja (pers. Khwaja, Herr). Neben ethischen, mythologischen und kosmologischen Themen enthalten die Ginans Hagiografien der Pirs und Liebesgedichte, die dem Propheten Muhammad und dem Hazir Imam gewidmet sind.10 Viele Ginans verkörpern auch Elemente der Hindutraditionen. Denn um den Hindus die Annahme des ismailitischen Glaubens zu erleichtern, adaptierten die Pirs hinduistische Begriffe und Weltbilder. So werden z. B. der Koran als letzter Veda und der Sat Panth als Weg zur Erlösung vom Wiedergeburtenkreislauf bezeichnet.11

Während die in südasiatischen Sprachen aufgezeichneten Ginans ihre Wurzeln in Indien und Pakistan haben, benutzen Ismailiten zentralasiatischer, arabischer und türkischer Herkunft zur Rezitation devotionaler Gesänge eher Qasidas, deren Texte von Da‘is (Missionare, die nicht mit dem Imam verwandt sind) stammen. Nasir i-Khusrau (1004 – 1072) gilt z. B. als bekanntester Autor der persischen Qasidas.

Darüber hinaus gibt das Institut for Ismaili Studies in London Lehrbücher für die Gemeinden heraus, welche Anleitungen für eine zeitgemäße Umsetzung ismailitischer Lehren enthalten.

Die Lehren der Ismailiten

Nach dem Glauben der Ismailiten ist Gott das höchste Licht. Durch seinen Befehl (amr) schuf er die spirituelle und die materielle Welt. Nachdem sich die spirituelle Welt, die aus immateriellen Substanzen wie Seelen, Geistern und Engelwesen besteht, nach und nach verdichtete, bildete sich die physische Welt. Der Prophet Muhammad wird als Erscheinungsform des höchsten Lichtes gesehen. Danach folgt Ali ibn-Talib, sein Cousin und Schwiegersohn, dessen Ursprung dasselbe Licht ist und der als erster erblicher Nachfolger des Propheten und erster Imam gilt. Ismailiten glauben an das lebendige Imamat, das Muhammad über Ali bis auf den heutigen Imam weitergegeben hat.

Der gegenwärtige Imam repräsentiert das Licht Gottes auf Erden. Dies wird unter anderem beim Eintreten in die Jamatkhana durch folgende Formel bestätigt: Hay Zinda (Der Imam ist anwesend), Kayam paya (Er ist für immer anwesend).12 Eine große Rolle spielt Tariqa, derWeg, den ein Ismaili zu gehen hat. Dieser teilt sich in den inneren, verborgenen (batini) und den äußeren, weltlichen (zahiri) Weg. Das ismailitische Prinzip der Taqiyya enthält die Erlaubnis oder Pflicht, seinen Glauben zu verbergen, wenn er in Gefahr ist. Angestrebt wird Qiyama, die geistige Auferstehung vor dem Tod, d. h. ein inneres Erwachen durch die Realisierung der Einheit zwischen dem „inneren“ und dem gegenwärtigen Imam.13

Bezüglich des Jenseitsglaubens teilen Ismailiten folgende Vorstellung: Nach dem Tod eines Menschen, der aus physischem Körper, Astralkörper und Seele besteht, löst sich der menschliche Körper. Der Astralkörper und die Seele verbleiben. Der Astralkörper ist ein Abbild des menschlichen Körpers und taucht mit der Seele in die spirituelle Welt hinein. In der spirituellen Welt bleibt der Astralkörper für eine unbestimmte Zeit mit der Seele verbunden und löst sich dann von ihr. Nun kann die Seele mit Allah verschmelzen.14

Organisation und Zeremonien ismailitischer Gemeinden

Das gemeinschaftliche Zentrum der Ismailis heißt Jamatkhana (pers., Haus der Gemeinde). Es steht für das Haus des Imams, und nur Anhängern der Ismaili-Gemeinde ist es erlaubt, dieses Haus zu besuchen. Einen wöchentlichen Feiertag gibt es nicht; während manche Gläubige täglich zum Gebet gehen, besuchen andere die Jamatkhana ein- bis zweimal wöchentlich.

Die Organisationder verschiedenen Gemeinden (Jamat) geht zum größten Teil auf die Gründung der Khoja-Gemeinden in Indien zurück. So untersteht jede Jamatkhana einem Mukhi/einer Mukhyani und einem Kamadia/einer Kamadyani, Vorsteher oder Vorsteherinnen, die sich um die Verwaltung der täglichen Rituale und religiösen Abgaben kümmern. Zur Zeit des Aga Khan III. entstanden nationale und regionale Verwaltungseinheiten, Councils und Religious Education Boards, die für die religiöse Erziehung und die Verteilung ismailitischer Literatur in den Gemeinden verantwortlich sind. Theologisch ausgebildeten Lehrern (Mu’allim) und Predigern (Wa’iz) obliegt die Vermittlung religiöser Lehrinhalte in den Jamatkhanas.15

Anhänger der Ismailis bezeichnen sich selbst als Momin (Gläubige). Um ein Momin zu werden und die Jamatkhanabetreten zu können, muss der oder die Gläubige einen Treueeid beim Imam ablegen, d. h. Bayat (auch Baya)nehmen. Früher wurden Missionare vom Imam ausgeschickt, um für die Gemeinschaft zu werben. Heute ist Mission fast unüblich, und Konversionen geschehen selten (meist durch Heirat). Die Finanzierung der Gemeinden erfolgt aus Spenden, die Mitglieder zahlen in der Regel 12,5 Prozent ihres Einkommens.

Die meisten Zeremonien der Shia Imami Ismaili Muslime sind Ausdruck der Verbundenheit mit dem gegenwärtigen Imam. An erster Stelle steht Bayat, das Treuegelübde gegenüber dem Imam, wobei es hier verschiedene Arten gibt. Neben der Konversionszeremonie existiert die Bayat, falls beide Eltern Ismaili sind, nach der Geburt eines Kindes. Bayat als eine wiederholte Bestätigung der Verbundenheit mit dem Imam sollte ein Ismaili so oft wie möglich in der Jamatkhana ablegen. Dann folgt die Du’a, das Gebet. Im Unterschied zu sunnitischen Muslimen und den Anhängern der Zwölferschia praktizieren Ismailis das Gebet dreimal am Tag: am Morgen, am Abend und in der Nacht. Diese Gebete enthalten Verse aus dem Koran, Listen der Imame und Bitten an den Imam der Zeit und sollten nach Möglichkeit in der Gemeinschaft durchgeführt werden. Zu besonderen Zeiten werden Chantas zelebriert, um Vergebung der Sünden zu erhalten. Weitere gemeinschaftliche Rituale sind die Zeremonie des Ab-e-safa, bei dervom Imam gesegnetes Wasser an die Gläubigen verteilt wird, oder Sukreet, das Einnehmen einer Süßigkeit, die aus Milch, Mehl, Zucker und gesegnetem Wasser besteht. Zeremonien ritueller Übergaben von gekochtem Essen wie Mehmani und Thar-Sufro drücken die Liebe und Verbundenheit zum Imam der Zeit aus.16

Die wichtigsten Feiertage der Shia Imami Ismaili Muslime sind Salgirah, der Geburtstag ihres Imams am 13. Dezember, und der Imamat Day, die Inthronisationsfeier des Imams am 11. Juli (s. o.). Zu Chandraat, einem Neumondtag, kommen Ismailiten zusammen, um gemeinsam um Vergebung der Sünden zu bitten. Shukravari beej, ein Neumondtag, der auf den Freitag fällt, wird als Fastentag begangen. Alle sechs Monate werden Sataras, Zeremonien zur Festigung der Gemeinde, abgehalten. Zudem feiern Ismailiten das persische Neujahr Navroz und sunnitische Feiertage wie Ramadan, Id ul-Fitr, Id ul-Adha und Lailat ul-Qadr (Nacht der Offenbarung des Korans, 23. Tag von Ramadan). Anstelle der Pilgerfahrt nach Mekka wird Mehmani, eine Zusammenkunft mit dem Imam, angestrebt.17

Verhaltensvorschriften

In der Regel halten sich Ismailiten an die muslimischen Speisevorschriften. Bei Einladungen von Nichtmuslimen ist es ihnen erlaubt, auch Fleisch nichtgeschächteter Tiere zu essen. Durch die Religion bzw. den Imam vorgegebene Kleidervorschriften existieren nicht. Zahlreichen YouTube-Videos zufolge tragen Ismailiten auf Festen häufig landestypische Kleidung, sowohl in afrikanischen und asiatischen wie auch in westlichen Gemeinden. Nach der ismailitischen Tariqa gibt es auch keine äußeren Reinheitsvorschriften; von Bedeutung ist die innere Reinheit der Seele, die der Gläubige durch die Liebe zum Imam und das Halten der ismailitischen Vorschriften erhält. Auch bezüglich der Heirat existieren keine Vorgaben, einen Anhänger bzw. eine Anhängerin der Gemeinde zu wählen, und es bestehen viele Ehen mit Nichtismailiten. In den einzelnen Familien und Gemeinden wird das natürlich der kulturellen Herkunft oder religiösen Einstellung entsprechend praktiziert.

Was die kulturelle und ethnischeIdentität der Ismailiten betrifft, kann man heute von folgenden drei großen traditionellen Gruppen sprechen: 1. Die indischstämmigen Khoja-Ismailis, deren Mehrheit heute in Indien und Pakistan lebt; ein Großteil ist als Nachfahren indischer Einwanderer in Ostafrika sesshaft, ein weiterer Teil wohnt als „Twice Migrants“ aus Ostafrika oder direkt aus Indien und Pakistan kommend in Europa, Nordamerika, Australien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten. 2. Die zentralasiatischen Ismailis, deren Vorfahren aus Iran, Afghanistan, Kirgisistan, Tadschikistan, Baltistan, Badachschan und dem Hunzatal stammen. 3.  Ismailis, deren Vorfahren aus Syrien kommen. Trotz der unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Herkunft wird eine pan-ismailitische Identität, die auf die Religion und den Imam fokussiert ist, angestrebt.18

Die Ismailiten heute weltweit

Die Anzahl der Shia Imami Ismaili Muslime wird auf ca. 20 Millionen geschätzt. In über 30 Ländern vertreten, lebt ein Großteil heute mit etwa 1 500 000 Anhängern in Indien, v. a. in den Bundesstaaten Gujarat, Maharashtra und Rajasthan. Seit Aga Khan I. 1840 aus dem Iran nach Indien kam, entwickelten sich die Khoja-Ismailis hier zu einer wohlhabenden und gut organisierten Gemeinde. Zahlreiche Krankenhäuser und Schulen entstanden, z. B. die „Aga Khan Academy“ und das „Aga Khan Hospital“ in Hyderabad. Kulturelle Einrichtungen wurden gebaut oder restauriert, wie der „Aga Khan Palace“ in Puna, in dem sich die Asche Mahatma Gandhis befindet. Prunkvolle Jamatkhanas und öffentliche Prozessionen weisen auf einen repräsentativen Status der Ismailiten in diesem Land hin.

In Pakistan spricht man heute von ca. 500 000 Ismailis, bei denen zwei Gruppen zu unterscheiden sind. Zum einen die vornehmlich in Sindh und Pandschab lebenden Khojas, die ihr Erbe aus der Mission Pir Sadr ad-Dins tragen, zum anderen die in Gilgit-Baltistan, im Hunzatal und in Chitral beheimateten Ismailiten, die ihre Tradition auf den Missionar Nasir i-Husrau zurückführen und zu den zentralasiatischen Gemeinden gehören. In den Bergregionen unterhält die Aga-Khan-Stiftung zahlreiche Projekte, die dem Gesundheitswesen, der Ökologie und der Bildung gewidmet sind, wie z. B. die „Aga Khan University“ in Karimabad. Dabei stehen Gleichstellung und Förderung der Berufstätigkeit von Frauen im Vordergrund, wie die Leiterin eines ismailitisch geführten Handwerksbetriebs in Hunza bestätigt: „Dass Frauen einen eigenen Beruf haben, wird bei uns gefördert. Wir können Schreinerinnen, LKW-Fahrerinnen oder Pilotinnen werden … Ismailitinnen dürfen alles, solange es irgendwie machbar ist.“19 Dass Ismailiten in Pakistan aufgrund ihres Minderheitenstatus aber auch zu den Opfern sunnitischer Extremisten gehören, zeigt traurigerweise ein Anschlag auf einen vollbesetzten Ismaili-Bus in Karachi im Mai 2015.20

Im Iran leben heute etwa 30 000 Ismailiten, die meisten in Hurasan, Teheran, Kirman und Yazd. Unter dem dominanten Regime der Zwölferschiiten praktizieren viele Gemeinden eine Art Assimilierung.21

In Afghanistanleben die meisten Ismailiten im Gebiet Badachshan. In den 1990er Jahren wurde hier das AKDN erstmalig mit dem Bau von einzelnen Schulen und Krankenhäusern aktiv. Seit 2002 unterstützt die Hilfsorganisation den Wiederaufbau des Landes mit zahlreichen Bildungs-, Gesundheits-, Landwirtschafts- und Restaurationsprojekten (s. o.), und es entstanden zudem 20 Jamatkhanas.Trotz dieser Unterstützung werden Ismailiten auch in Afghanistan als religiöse Minderheit immer wieder Opfer von Diskriminierung.22

Mit rund 200 000 Anhängern bildet Tadschikistan das zentralasiatische Land mit den meisten Ismailiten. Bis zur Auflösung der Sowjetunion waren die Ismailiten in Tadschikistan völlig abgeschnitten von ihrem Imam und konnten ihren Glauben nur heimlich praktizieren. Auch hier leistete das AKDN Unterstützung im Rahmen verschiedener Entwicklungshilfeprogramme, zu denen u. a. der Bau einer Universität in Chorug gehört.23

In Syrien umfasst die Gemeinde der Ismailiten heute ca. 200 000 Mitglieder und gehört nach den Christen zur zweitgrößten Minderheit. Die meisten Ismailis leben in Salamiyah, Hama und Al Ladhiqiyah. Seit in Syrien Bürgerkrieg herrscht, ist auch diese religiöse Minderheit bedroht, und Medien berichteten immer wieder von Übergriffen auf ismailitische Familien.24

In den späten 1890er Jahren gingen viele Khoja-Ismailiten aus Westindien nach Ostafrika und ließen sich in Sansibar, Kenia, Tansania und Uganda nieder. Mithilfe der Unterstützung des Aga Khan III. bauten sie eigene Schulen, Krankenhäuser und Gemeindehäuser.

Im Zuge der Afrikanisierungspolitik in den 1970er Jahren emigrierten viele von ihnen nach Großbritannien, Kanada und in die USA. Besonders beliebt war Kanada, da aufgrund der Freundschaft des Aga Khan IV. mit dem damaligen Premierminister Pierre Trudeau die Ismailiten hier eine erleichterte Einbürgerung erfuhren. Das „Aga Khan Museum“ in Toronto und die Ehrenbürgerschaft des Aga Khan IV. zeugen ebenfalls von der engen Verbundenheit des Imams zu diesem Land. Toronto und Ottawa bilden heute die Hochburgen eingewanderter Khoja-Gemeinden aus Ostafrika, Indien und Pakistan.25 Auch Großbritannien wurde zu einem beliebten Einwanderungsland ismailitischer Familien. Mit ca. 15 000 Anhängern lebt hier die größte Ismaili-Gemeinde Europas, die meisten Ismailiten leben in London. 1977 wurde in London das „Institut für Ismaili Studies“ gegründet, das in Kooperation mit europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern arbeitet und sich dem Studium des Ismailitentums durch Forschungsprojekte, Seminare, den Aufbau einer Bibliothek und der Herausgabe der Buchreihe „Ismaili Heritage Series“ widmet.

Als der Vater des Aga Khan IV. starb, verlegte dieser seinen Sitz nach Frankreich. Dort leben ca. 5000 Ismailiten.26

Die Gemeinde der Ismailiten in Deutschland umfasst ca. 2000 Anhänger mit Jamatkhanas in Essen, Frankfurt, Bösel und Berlin. Über Aktivitäten deutscher Ismailiten dringt nichts nach außen, nur die Website einer Jugendgruppe in Paderborn verweist in englischer Sprache auf ismailitische Institutionen und Personen.27 Die Berliner Gemeinde besteht aus ca. 100 Mitgliedern. Aufgrund der Bürgerkriege und der Diskriminierung religiöser Minderheiten in Afghanistan und Syrien kommt ein Großteil der Ismailiten in Deutschland aus diesen beiden Ländern.28 2006 erhielt Karim Aga Khan IV. den Toleranz-Preis der Evangelischen Akademie Tutzing. Der Preis galt seinem Eintreten für Respekt vor der Vielfalt der Kulturen und der Religionen, insbesondere der Aussöhnung zwischen der islamischen Welt und dem Westen. 2010 wurde im Martin-Gropius-Bau in Berlin die vom „Aga Khan Trust for Culture“ organisierte Ausstellung „Schätze des Aga Khan Museums – Meisterwerke islamischer Kunst“ gezeigt mit über 200 Werken (Gemälde, Manuskripte, Keramiken aus verschiedenen islamischen Ländern), die aus dem Besitz Aga Khan IV. stammten, mit dem Ziel, die Vielfältigkeit der islamischen Kultur darzulegen.

Außenwahrnehmung und Selbstdarstellung

Abschließend sei gesagt, dass die Ismailiten in den westlichen Medien einen guten Ruf genießen, zum einen aufgrund der weltweiten Wohltätigkeitsaktivitäten und Entwicklungshilfeprogramme ihres spirituellen Oberhauptes, zum anderen aufgrund ihrer Anpassungsbereitschaft an die Gesellschaft ihres jeweiligen Umfeldes, ihrer progressiven und frauenfreundlichen Einstellung sowie ihres toleranten Auftretens gegenüber Andersgläubigen. So wird Aga Khan IV. auch oft als Repräsentant eines toleranten Islam dargestellt. Von konservativen Sunniten und Zwölferschiiten werden Ismailiten häufig kritisiert aufgrund ihres inneren Verständnisses koranischer Regeln, der Verehrung ihres gegenwärtigen Imams und ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber westlichen Lebenskonzepten.

Was die Selbstdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit ismailitischer Gemeinden betrifft, so werden trotz der Nichtzugänglichkeit der Zeremonien für Nichtismailiten in den Jamatkhanas in Kanada, Texas oder Großbritannien Führungen, Programme und Dialogveranstaltungen angeboten. Nach Aussagen eines Mitgliedes der Berliner Gemeinde liegt auch den Ismailiten in Deutschland viel daran, dass sie von außen wahrgenommen werden. Dies gestaltet sich jedoch etwas schwierig, da es hier keine direkten Ansprechpartner oder Vereine gibt, die zur Kontaktaufnahme einladen. Präsentationsveranstaltungen für Nichtismailiten sind zwar in Planung, konnten jedoch in deutschen Städten aus innergemeindlichen und organisationsbedingten Gründen noch nicht umgesetzt werden. So ist es interessierten Nichtismailiten in Deutschland auch (noch) nicht möglich, eine ismailitische Gemeinde zu erleben. Hier sind vielleicht beide Seiten gefragt, den Dialog zu „suchen“. Eine Kostprobe der Schönheit und Tiefe des ismailitischen Glaubens kann man auf jeden Fall schon einmal erfahren, wenn man auf YouTube oder eventuell bei einem Konzert den devotionalen Gesängen indischer Ginans oder persischer Qasidas lauscht.


Liane Wobbe


Anmerkungen

  1. http://pm.gc.ca/eng/news/2017/07/11/statement-prime-minister-imamat-day  (Abruf: 22.7.2017, aus dem Englischen übersetzt von Liane Wobbe).
  2. www.youtube.com/watch?v=2qCwgdZMlxk ; www.youtube.com/watch?v=5FcWsWkpeKQ&list=RD5FcWsWkpeKQ#t=0 abger. am 01.08.2017. S. auch die Berichterstattung über diese Zeremonie unter www.ismaili.net/heritage/node/33100  (Abruf: 1.8.2017).
  3. www.youtube.com/watch?v=sDNpJD_c0-I  (Abruf: 26.7.2017).
  4. www.youtube.com/watch?v=y5JttqznuwI  (Abruf: 26.7.2017).
  5. www.youtube.com/watch?v=7waimr-riFw  (Abruf: 26.7.2017).
  6. Mowla ist eine Abkürzung für Mawlana/Mowlana/Maulana, www.youtube.com/watch?v=T_URVIjRN-E  (Abruf: 27.7.2017).
  7. Zur Zeit der Fatimiden bildeten sich innerhalb der Ismailiten die Drusen, die Nizariten und die Musta‘liten heraus. Letztere spalteten sich in Sulaimanis und Dawudis. Das Zentrum der Sulaimanis befindet sich im Jemen, das der Dawudis in Indien, wo sie unter der Bezeichnung „Dawudi-Bohoras“ bekannt sind.
  8.  www.zeit.de/2003/34/AgaKhan  (Abruf: 30.6.2017).
  9. Siehe hierzu u. a. www.akdn.org/de/where-we-work/europe/germany; https://sofis.gesis.org/sofiswiki/Studie_zur_Integration_ausgewählter_Migrantengruppen_in_Deutschland  (Abruf: 10.10.2017).
  10. Vgl. Schimmel 1995, 22, 132.
  11. Vgl. Daftary 2003, 202-210; Davis 2006, 111; Klemm 2011, 87f.
  12. Vgl. Dossa 1985, 94.
  13. Vgl. Davis 2007, 34ff.
  14. Diese Erläuterung verdanke ich Amin Hassam (E-Mail vom 7.9.2017).
  15. Vgl. Dossa 1985, 88; Daftary 2003, 239.
  16. Vgl. ebd., 131-167.
  17. Vgl. Davis 2007, 26-33.
  18. Vgl. http://ismaili.net/Source/1121b/02.html  (Abruf: 10.7.2017).
  19. Bergmann 2015, 97; vgl. www.youtube.com/watch?v=g_xgcH81FVc  (Abruf: 30.6.2017).
  20. Vgl. www.bbc.com/news/world-asia-32721136 (Abruf: 28.8.2017).
  21. Vgl. Daftary 2003.
  22. Vgl. Yahia Baiza, Institute of Ismaili Studies London, April 2015, www.ecoi.net/local_link/302485/439377_de.html  (Abruf: 29.7.2017).
  23. Vgl. Daftary 2003, 238.
  24. Vgl. www.taz.de/!5201186  (Abruf: 1.8.2017).
  25. Vgl. http://ismaili.net/Source/1121b/02.html  (Abruf: 10.7.2017).
  26. Vgl. www.leparisien.fr/magazine/grand-angle/aga-khan-l-imam-philanthrope-12-06-2014-3917133.php  (Abruf: 15.9.2017).
  27. Vgl. https://sjpaderborn.wordpress.com/paderborn-2  (Abruf: 20.7.2017).
  28. Diese Aussage verdanke ich Amin Hassam (Gespräch am 11.9.2017).

Literatur

Asani, Ali: Ecstasy and Enlightenment. The Ismaili Devotional Literature of South Asia, London 2002

Bergmann, Hajo: Straße der Achttausender, München 2015

Daftary, Farhad: Kurze Geschichte der Ismailiten, übers. von Kurt Maier, Würzburg 2003

Davis, Jimmy: The Shia Imami Ismaili Muslims. A Short Introduction, Raleigh 2007

Dehn, Ulrich: Toleranzpreis für Aga Khan IV., in: MD 7/2006, 271

Dossa, Parin Aziz: Ritual and Daily Life: Transmission and Interpretation of the Ismaili Tradition in Vancouver, British Columbia 1983

Halm, Heinz: Die Kalifen von Kairo. Die Fatimiden in Ägypten 973 – 1074, München 2003

Halm, Heinz: Die Schiiten, München 2005

Kassam, Tazim R.: Songs of Wisdom and Circles of Dance. Hymns of the Satpanth Ismaili Muslim Saint Pir Shams, Albany 1995

Klemm, Verena: Orthodoxie versus Heterodoxie. Europäisch-christliche Konzepte und Begrifflichkeiten in den Schia-Studien, in: Schnepel, Burkhard/Brands Gunnar/Schönig, Hanne (Hg): Orient, Orientalistik, Orientalismus, Bielefeld 2011, 71-91

Meyer, Nora: Karim Aga Khan IV. – religiöses Oberhaupt und Mäzen für Kunst und Kultur, in: MD 7/2010, 273-275.

Schimmel, Annemarie, Meine Seele ist eine Frau, München 1995

Sperl, Stefan/Shackle Christopher (Hg.): Qasida Poetry in Islamic Asia and Africa. Classical Traditions and Modern Meanings (Studies in Arabic Literature), Leiden u. a. 1996

Thomsen, Henrike: Ein Fürst träumt von Afghanistan, www.zeit.de/2003/34/AgaKhan (Abruf: 30.6.2017)