Rachid Benzine

Islam und Moderne. Die neuen Denker

Rachid Benzine, Islam und Moderne. Die neuen Denker, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2012, 273 Seiten, 24,95.

Seit Jahren gibt es ein starkes Interesse am Islam, doch der Islam „als spirituelle Realität und noch mehr als sich ständig wandelnde intellektuelle Ressource wird – absichtlich oder aus Unkenntnis – ignoriert“, stellt Rachid Benzine in der Einleitung (13) seines 2004 erschienenen Überblicks „Les nouveaux penseurs de l’islam“ fest, das nun in deutscher Übersetzung im Verlag der Weltreligionen erschienen ist. Der im deutschen Titel genannte Begriff der Moderne fehlt im französischen Originaltitel, doch bezeichnet der deutsche Titel das Anliegen des Autors präziser. Denn es geht Benzine nicht bzw. nicht nur um die Darstellung des zeitgenössischen Islam als „plurales Phänomen“ (14), sondern um die exemplarische Vorstellung jener muslimischen Autoren, die die Kluft zwischen dem traditionellen Islam und der Moderne wahrnehmen und als Chance und Herausforderung aufgreifen. Daher gelten Benzine nur jene Autoren als neue Denker des Islam, die die Notwendigkeit erkannt haben, „den Islam selbst zu überdenken“ (13), und sich durch eine „kritische Aufgeklärtheit“ (19) auszeichnen, um dem Zentrum der Moderne, der „Idee des Individuums“ (19), gerecht zu werden. Kennzeichen jener modernen Herangehensweise an die Traditionen des Islam sind die Einbeziehung neuer Bezugswissenschaften wie Soziologie und Sprachwissenschaft, die Betonung der hermeneutischen Frage, die historisch-kritische Herangehensweise an den Koran sowie das Eintreten für Demokratie und Gewissensfreiheit. Damit schließt der französische Islamwissenschaftler, der in Marokko geboren ist, leider all jene muslimischen Autoren aus, die als moderne Antimodernisten bezeichnet werden können und vor allem in konservativen oder islamistischen Kreisen rezipiert werden.

Der Autor skizziert zunächst die Entwicklung von den ersten Reformbestrebungen im Islam nach der Landung Napoleons in Alexandria (1798) bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Er beschränkt sich dann bei der Vorstellung der „neuen Denker“ auf acht Autoren, die aus unterschiedlichen Regionen der Welt stammen und trotz mancher Überschneidungen doch unterschiedliche Akzentuierungen in ihren Ansätzen erkennen lassen: Abdolkarim Soroush aus dem Iran beantwortet die Frage nach der Ursache unterschiedlicher Koraninterpretationen zu unterschiedlichen Zeiten mit der „Theorie der Kontraktion und Expansion des religiösen Wissens“ (31ff). Der in Algerien geborene, aber bis zu seinem Tod im Jahr 2010 in Frankreich wirkende Mohammed Arkoun überträgt hingegen Überlegungen des Dekonstruktivismus auf die Koranexegese (56ff). Einen anderen Weg beschreitet der Pakistaner Fazlur Rahman, der überwiegend in Kanada und den USA gelehrt hat: Der Koran sei als Buch der Ethik zu verstehen und nicht als „Rechtsdokument, zu dem ihn die muslimischen Rechtsgelehrten gemacht haben“ (124). Amin al-Khūli, Muhammad Khalafallāh und Nasr Hamid Abu Zaid vertreten den ägyptischen Islam und zeichnen sich durch ihre sprach- und literaturwissenschaftliche Herangehensweise an den Koran aus. Der Koran wird als Text wahrgenommen, und Interpretation ist nach Abu Zaid „die andere Seite des Textes“ (186), ohne die der Text ohne Bedeutung bleiben würde. Die „tunesische Schule“ wird durch Abdel­madjid Charfi vertreten, der das Dogma von Muhammad als Siegel der Propheten so deutet, dass der Mensch nun frei von jeglicher Bindung an religiöse Institutionen sei (193ff). Schließlich wird mit Farid Esack ein Theologe aus Südafrika vorgestellt, der eine islamische Befreiungstheologie entwickelt hat und im Hinblick auf die Interpretation des Korans kritisch nach den Interessen der Ausleger fragt. Nur eine Exegese, die sich ihrer eigenen Begrenztheit bewusst sei und für Gerechtigkeit eintrete, ist nach Esack dem Islam angemessen (221ff).

Eine Zusammenschau der vorgestellten modernen Denker des Islam zeigt nicht nur, dass alle kritisch an den Koran herangehen und zwischen dem Wort Gottes und dem geschriebenen Wort differenzieren. Erstaunlich ist auch, dass fast alle Wissenschaftler zunächst in traditioneller Weise in der Koranexegese ausgebildet wurden, bevor sie ihre eigenen kritischen Theorien entwickelten. Ebenso ist den meisten vorgestellten Denkern gemeinsam, dass sie in ihrer Heimat aufgrund ihrer Gedanken bedroht und bekämpft wurden, sodass viele von ihnen ins Exil gehen mussten.

Benzine selbst ist sich bewusst, dass eine Auswahl immer die Kritik provoziert, dass wichtige Vertreter nicht genannt werden. In der Tat ist seine Auswahl gut überlegt und deckt die unterschiedlichsten Regionen der islamischen Welt ab, doch ist – gerade im Hinblick auf die deutsche Leserschaft – nicht verständlich, warum kein Vertreter der sogenannten „Ankaraner Schule“ aus der Türkei berücksichtigt wurde, dafür aber mehrere Vertreter aus Ägypten mit ihrem literaturwissenschaftlichen Ansatz.

Die Darstellung der acht „neuen Denker des Islam“ lebt vor allem davon, dass diese selbst zu Wort kommen. Die mittellangen Zitate sind in den meisten Fällen gut gewählt, nur im Hinblick auf Mohammed Arkoun bleibt die Darstellung trotz der Erklärungen zu den Zitaten unverständlich. Störend sind auch manche Bewertungen, die nicht belegt sind, so zum Beispiel, wenn Amin al-Khūli ohne stichhaltige Argumentation als „erster moderner muslimischer Wissenschaftler“ bezeichnet wird (140). Benzines Sprache ist bisweilen zu verblümt, anstatt in präzisen Beschreibungen die Gedankengänge der „neuen Denker“ vorzustellen. Besonders ärgerlich sind aber unsinnige Passagen, die mehrfach begegnen: Was sollen zum Beispiel „reale Ereignisse“ sein, „die fiktiven Helden widerfahren sind“ (152), oder was ist „eine technische Ausbildung in angewandter Kunst“, die Abu Zaid vor seinem Studium abgeschlossen hat (165)? Leider trüben solche Mängel den positiven Gesamteindruck des Werkes.


Ralf Lange-Sonntag, Schwerte