Johannes Kandel

Islam und Demokratie (Teil 1)

Die „Islamische Charta“ des Zentralrats der Muslime in Deutschland

Ursprung, Absichten und Ziele

Vor sechs Jahren, am 20. Februar 2002, veröffentlichte der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ (ZMD) ein Grundsatzdokument mit dem ambitiösen Namen „Die Islamische Charta“. Da der ZMD seit April 2007 mit dem Islamrat, der DITIB und dem „Verband der Islamischen Kulturzentren“ (VIKZ) zum „Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland“ zusammengeschlossen ist und das Gremium keine neue Grundsatzerklärung veröffentlicht hat, ist davon auszugehen, dass auch die anderen Verbände die Positionen der Charta teilen. Auch haben sie sich in der Vergangenheit häufig positiv auf die Charta bezogen. Die Charta hat eine Doppelfunktion. Sie ist Selbstdarstellung nach außen und gibt Aufschluss über die Haltung des organisierten Islam in Deutschland zur Demokratie, und sie zeigt uns zugleich den internen Selbstverständnisdiskurs von Muslimen in der „Diaspora“ über Menschenrechte, säkularen Rechtstaat, Demokratie und Pluralismus.

Die Charta ist eine aus der Situation nach dem 11. September 2001 geborene Grundsatzerklärung, die „der Mehrheitsgesellschaft eine umfassende, klar formulierte und verbindliche Antwort“ geben will, „wie die Muslime zu den Fundamenten des Rechtsstaates, zu seinem Grundgesetz, zu Demokratie, Pluralismus und Menschenrechten stehen“. Das Dokument, das inzwischen ins Englische, Französische, Türkische und Arabische übersetzt wurde, hat in Deutschland eine lebhafte Debatte ausgelöst und zu kritischen Nachfragen und Einwänden Anlass gegeben. Sie bezogen sich vor allem auf die Fragen nach dem Verhältnis von Scharia, säkularem Staat, Menschenrechten, Rechtsstaat, Demokratie und Pluralismus.1

Die Charta lässt aufhorchen: Deutschland soll für Muslime „nicht nur Lebensmittelpunkt, sondern auch Mittelpunkt ihres Interesses und ihrer Aktivität sein“ (These 16), und der ZMD verspricht, „ein zeitgenössisches Verständnis der islamischen Quellen“ zu fördern, „welches dem Hintergrund der neuzeitlichen Lebensproblematik und der Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in Europa Rechnung trägt“ (These 15). Der ZMD will eine „Vertrauensbasis“ schaffen, die ein „konstruktives Zusammenleben der Muslime mit der Mehrheitsgesellschaft und allen anderen Minderheiten ermöglicht“ (These 17), und er will „in Zusammenarbeit mit allen anderen gesellschaftlichen Gruppierungen einen wesentlichen Beitrag zu Toleranz und Ethik“ leisten. Er verurteilt „Menschenrechtsverletzungen überall in der Welt“ und bietet sich als Partner im Kampf gegen „Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus und Gewalt“ an (These 18). Die Reihenfolge der genannten, zu bekämpfenden Übel ist zu beachten und auch, dass weder Islamismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus genannt werden. Doch gemessen am internationalen innerislamischen Diskurs zur Vereinbarkeit von Islam und Demokratie sind die zitierten Sätze um Vertrauen werbende, couragierte Aussagen. Die Charta verspricht einen positiven Ansatz, die vom ZMD gemeinte „eigene muslimische Identität in Europa“ mit den Grundwerten zu verbinden, denen sich Europa verpflichtet sieht.

Muslime sehen es, so These 6, als „ihre Lebensaufgabe“ an, „Gott zu erkennen, ihm zu dienen und Seinen Geboten zu folgen“. Muslimsein bedeutet die vollständige Ergebung in den Willen Gottes. Es heißt in These 8, dass der Islam „Glaube, Ethik, soziale Ordnung und Lebensweise“ zugleich sei und Muslime „im täglichen Leben aktiv dem Gemeinwohl“ dienen wollen. Zugleich seien sie mit den Glaubensbrüdern und -schwestern in aller Welt, d. h. der weltumspannenden „umma“, solidarisch. Hier wird eine „ganzheitliche“ Position formuliert, die im Blick auf das Gesellschaftliche und Politische präzisiert werden müsste. In welchem Umfang soll „der Islam“ auch die Grundregeln des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit im säkularen, demokratischen Rechtsstaat bestimmen? Im Grundsatz ist klar: Religion soll nicht nur Privatsache, sondern eine öffentliche Angelegenheit sein; deshalb werden auch am Ende der Charta, in These 20, konkrete Forderungen erhoben, die Muslimen in Deutschland eine „würdige Lebensweise“ ermöglichen und ihre Partizipation in den zentralen Funktionsbereichen einer modernen Gesellschaft gewährleisten sollen.

Scharia und Grundgesetz – bedingte Rechtstreue?

Das „islamische Recht“ bildet, wie es in These 3 heißt, mit der „islamischen Lebensweise“ die „Grundlage des islamischen Glaubens“. Aus Sicht des ZMD ist die Scharia die maßgebliche und verbindliche Grundregel muslimischen Lebens auch in Deutschland, obwohl die Reizvokabel „Scharia“ bewusst vermieden wird. Die Rede vom „islamischem Recht“ und von der „islamischen Lebensweise“ als Basis des „islamischen Glaubens“ deutet darauf hin, dass der ZMD Scharia als einen ganzheitlichen Korpus moralisch-ethischer Orientierungen und Forderungen sowie rechtlicher Bestimmungen versteht, der von den Anweisungen für den Gottesdienst über Speise- und Bekleidungsvorschriften bis zur Regelung von Rechtsmaterien wie Straf-, Vertrags-, Ehe-, Familien- und Erbrecht reicht.

Wie ist eine solche Position, in der auch ein politischer Geltungs- und Gestaltungsanspruch steckt, mit den fundamentalen Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes in Einklang zu bringen? Soll die Scharia auch in Deutschland „durchgesetzt“ werden? Da die rituellen Pflichten, das Glaubensbekenntnis (schahada) und das tägliche fünfmalige Gebet sowie das Fasten, das Almosengeben (zakat) und die Pilgerfahrt nach Mekka zur Scharia gehören, praktizieren Muslime in Deutschland bereits „Scharia“. Dieser Teil der Scharia ist für jeden Muslim völlig unverzichtbar, gleich wo er lebt.2 Das unterstrich der Vorsitzende des ZMD, Axel Ayyub Köhler. Der ZMD vertrete einen „Mainstream-Islam, wie er überall auf der Welt praktiziert“ werde.3 Die Scharia sei für Muslime in Deutschland „ein Weg, eine Richtschnur“, sie enthalte „Lebensgrundsätze“ und „Ethik“. Der ZMD verlange aber nicht, „dass die Scharia in Deutschland eingeführt wird“, gleichwohl solle man von den Muslimen „nicht verlangen, dass wir Lebensgrundsätze so einfach umschreiben“.4

Der ZMD, so scheint es, erhebt über die Beachtung der rituellen Pflichten hinaus keinen Anspruch auf die Gestaltung der Lebensverhältnisse für Muslime in Deutschland nach den Grundsätzen der Scharia, etwa durch die Forderung nach Einführung schariarechtlicher Regelungen (z. B. im Erb-, Ehe- und Familienrecht). Auch der Generalsekretär des ZMD, Aiman Mazyek, bekräftigt, dass ein Muslim „ein loyaler Bürger sein und gleichzeitig nach dem Koran leben“ könne. Im Blick auf das islamische Recht würde der ZMD „Einschränkungen“ akzeptieren: „Wir haben zum Beispiel deutlich gemacht, dass Ehe- und Prozessrecht, das Grundgesetz, dass wir das hundertprozentig anerkennen, auch wenn vielleicht in der Sharia das eine oder andere da anders ausgelegt ist. Da zieht das Grundgesetz.“5

Das Grundgesetz soll demnach Vorrang vor bestimmten schariatischen Regelungen behalten. Doch eine nähere Erläuterung bleibt aus, und so lässt sich aus Köhlers und Mazyeks Bemerkungen schlussfolgern: 1. Die das Ehe-, Erb-, Familien- und Strafrecht betreffenden Teile der Scharia (Körperstrafen wie z. B. Auspeitschen, Handabhacken) werden im Grundsatz nicht in Frage gestellt. Eine prinzipielle Distanzierung von diesen, mit den universalen Menschenrechten nicht kompatiblen Rechtsgrundsätzen erfolgt nicht. 2. Es wird eingeräumt, dass unter den Bedingungen einer nicht-muslimischen Rechtsordnung im Blick auf diese Rechtsmaterien „Einschränkungen“ akzeptiert werden müssen. Das ist demokratietheoretisch eine überaus heikle Position, da sie doch offensichtlich an dem Ideal eines islamischen Staates festhält, in dem die Scharia im Vollsinne gilt. Dazu passt ferner, dass Mazyek in einem Interview die Demokratie in Deutschland als die „gegenwärtig“ beste Staatsform bezeichnet. „Gegenwärtig“? Was kommt danach? Der Islamische Staat?6 Darauf deuten auch Aussagen des Konvertiten Murad Wilfried Hofmann, eines der Autoren der Charta, hin. Die „göttliche Scharia“, so erklärte er in einem Interview, spiele für die Muslime in der Demokratie die gleiche „begrenzende Verfassungsrolle“ wie „unabänderliche Verfassungsgrundlagen“ für nicht-muslimische Mehrheiten in Parlamenten.7 Das bedeutet, dass für Muslime eben nicht das Grundgesetz und die allen politischen Mehrheitsentschlüssen entzogenen „unabänderlichen Verfassungsgrundlagen“ (Art. 1 und 20 GG in Verbindung mit der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79,3 GG) gelten, sondern die „göttliche Scharia“. Hofmann wird noch deutlicher: „Als eine Ideologie können wir uns mit Demokratie nicht anfreunden, aber als ein Mechanismus zur Verhinderung von Machtmissbrauch ist Demokratie nicht nur mit dem Islam kompatibel, sondern jeder anderen Regierungsform überlegen.“8 Hofmann sagt nicht, was er unter „Ideologie“ versteht, doch aus dem Kontext lässt sich vermuten, dass er damit die säkularen Wertgrundlagen der modernen Demokratie meint. Das ist eine überaus problematische Position, weil die moderne rechtsstaatliche und pluralistische Demokratie ohne eine säkulare Ordnung mit ihrer Trennung von Staat und Religion nicht bestehen kann.

Was ist Scharia?

Es ist unter islamischen Rechtsgelehrten und nicht-muslimischen Islamexperten umstritten, was Scharia eigentlich ist. Scharia ist „nicht etwa ein Gesetzbuch, sondern ein höchst komplexes System von Normen und Regeln dafür, wie Normen aufgefunden und interpretiert werden können“9. Nach „herrschender Meinung“ ist sie „göttliches Gesetz“, ein Korpus von (nur wenigen) Rechtsvorschriften im Koran (ca. zehn Prozent des Textes) und moralisch-ethischen Handlungsanweisungen. Umstritten ist, ob sie überhaupt als „Recht“ im modernen Sinne zu verstehen ist und/oder Moral, Ethik und Recht zugleich ist.

Es muss auch nach dem Grad der Normierung gefragt werden, d. h. ob Scharia tatsächlich bis ins Einzelne gehende rechtliche und ethische normative Anweisungen für die einzelnen Muslime und die „umma“ enthält oder nur allgemeine Grundwerte, Orientierungen und Leitlinien formuliert, die den wechselnden Lebensumständen durch aktuelle Rechtsauslegung (usul-al-fiqh = Jurisprudenz) flexibel angepasst werden können. Welche Bestimmungen der Scharia sind unveränderlich und jeder Interpretation entzogen, und welche sind „beweglich“, d. h. der dynamischen Rechtsauslegung im Blick auf sich ständig ändernde Umstände zugänglich?10 Das sind offene Fragen und Themen kontroverser Diskurse. Die Schariadebatte spielt in der Auseinandersetzung zwischen Islamisten, konservativ-orthodoxen und „progressiven“ Muslimen eine zentrale Rolle. Es geht um die religiöse Autorität im Islam, d. h. um die Deutungshoheit. Wir wissen, dass es in der 1400-jährigen Geschichte des Islam heftige Auseinandersetzungen darüber gegeben hat, wie das „göttliche Gesetz“ normativ-ethisch ausgelegt und politisch-institutionell in die gesellschaftliche Wirklichkeit umgesetzt werden soll.

Ein zentrales Thema war stets das Verhältnis von Religion und Politik, Religion und Staat, d. h. z. B. die Frage, ob eine – zumindest pragmatische und faktische – Trennung von Religion und Politik denkbar sei. Der Damaszener Philosoph Sadik Jalal Al-Azm hat auf die Frage, ob der Islam mit dem „säkularen Humanismus“ vereinbar sei, zugespitzt geantwortet: „Dogmatisch gesehen, nein – historisch gesehen, ja.“ Und er fügte hinzu: „Die Versöhnung des ‚historischen Ja’ mit dem ‚dogmatischen Nein’ ist von existentieller Bedeutung ...“11 Die Kontroverse zwischen dem „dogmatischen Nein“ und dem „historischen Ja“ prägt bis heute den innerislamischen Diskurs zwischen traditionalistischen, konservativ-orthodoxen und islamistischen Strömungen sowie (einigen wenigen) „progressiven“ (liberalen) Reformern.

Wo steht der ZMD in dieser Debatte? Wie setzt er sich mit der Frage nach Umfang und Verbindlichkeit islamischen Rechts in einem nicht-muslimischen Land auseinander? Wie können Muslime dauerhaft in einem nicht-muslimischen Land mit einer nicht-muslimischen Rechtsordnung leben? Das war eine Frage, die islamische Rechtsgelehrte in dem Maße beschäftigte, wie die Kommunikation zwischen islamischer und nicht-islamischer Welt zunahm und immer mehr Muslime sich längere Zeit im nicht-muslimischen Raum aufhielten.

Die traditionelle islamische Rechtslehre bot für die Problematik des dauerhaften Aufenthaltes von Muslimen in nicht-muslimischer Umgebung z. B. folgende Interpretation an: Sie teilte die Welt in das Gebiet des Islam, „dar-al-Islam“, das „Land des Friedens“, und das nicht-muslimische Gebiet des Krieges, „dar-al-harb“, ein. Im „dar-al-Islam“ herrscht der Islam religiös und politisch, es gilt islamisches Recht. Im „dar-al-harb“ herrschen nicht-muslimische Gewalten, und es gilt die nicht-muslimische Rechtsordnung. Entscheidend sind also nicht die Mehrheitsverhältnisse, sondern die politischen Machtverhältnisse. „Dar-al-Islam“ und „dar-al-harb“ befinden sich im Prinzip im permanenten Kriegszustand, obwohl es in der Praxis immer Phasen des Waffenstillstands gibt.

Diese Einteilung findet sich im Koran nicht, sie ist reine Rechtskonstruktion islamischer Rechtsgelehrter. Für den Muslim in der „Diaspora“ bedeutet das: Er ist einerseits faktisch der nicht-muslimischen Rechtsordnung unterworfen, andererseits bleibt er, gleichgültig wo er sich befindet, islamischem Recht verpflichtet. Aber in welchem Maße? Wie kann diese Spannung aufgelöst werden? Der Muslim kann nur in einem Land leben, in dem ihm mindestens die freie Religionsausübung zugestanden wird. Wird dieses Minimum nicht gewährt, so müsste er auswandern oder sich dafür einsetzen, dass in dem nicht-muslimischen Land, in dem er lebt, in der Zukunft auch das islamische Recht (Scharia) für alle gilt. Das kann auf friedlichem Wege, durch islamische Mission (da’wa) geschehen oder, wie bei den gewaltbereiten Islamisten und Dschihadisten, durch revolutionär-militante Transformation.

Einige mittelalterliche Rechtsgelehrte haben die traditionelle Einteilung um eine weitere Kategorie ergänzt: um das „dar-al-ahd“, d. h. das „Land des Vertrages“ oder „dar-al-sulh“, das „Land des Friedensschlusses“. Offensichtlich ist hier der Kriegszustand zwischen „dar-al-harb“ und „dar-al-Islam“ einer Vertragsbeziehung gewichen, die eine Art „Waffenstillstand“ oder auch friedliche Koexistenz festschreibt.12

Die Formulierungen in der These 10 der Charta deuten auf diese Denkfigur mittelalterlicher Rechtstheorie hin: „Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten, solange sie ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen können. Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind.“

Die Bezeichnung der genannten Rechtsgegenstände (Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung) als „Verträge“ ist befremdlich. Die Bundesrepublik Deutschland schließt in diesen Rechtsangelegenheiten mit Muslimen, weder als Individuen noch als kollektiven Einheiten, keine Verträge, sondern sie erwartet selbstverständlich die Akzeptanz der Rechtsordnung, die Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung regelt und die für alle in gleicher Weise gilt. Es ist eine andere Frage, ob der deutsche Staat im Rahmen seines staatskirchenrechtlichen Regelwerkes vertragliche Kooperationen mit Religionsgemeinschaften eingehen will, z. B. im Blick auf soziale Dienstleistungen, Bildung (Religionsunterricht) oder die Militärseelsorge.

An diesem Punkt wird besonders deutlich sichtbar, dass der ZMD bemüht ist, der eigenen Klientel in der Sprache traditionellen islamischen Rechts die Akzeptanz der deutschen Rechtsordnung nahe zu bringen, allerdings um den Preis, dass bei den nicht-muslimischen Adressaten der Eindruck erzeugt wird, der ZMD betrachte die dauerhafte Existenz von Muslimen in Deutschland als Ergebnis vertraglicher Vereinbarungen. Verträge aber sind auch kündbar. Es entsteht der fatale Eindruck, der sich schon bei den Aussagen zur Scharia aufdrängte, dass die deutsche Rechtsordnung nur als Provisorium auf dem Weg zu einem islamischen Staat betrachtet wird und das eigentliche Staatsideal des ZMD der islamische Staat bleibt.

Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn die Religionsfreiheit als der eigentliche Grund für die Akzeptanz des säkularen und demokratischen Rechtsstaates hervorgehoben wird. Weil das Grundgesetz Muslimen die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG garantiert, so dass sie „ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen können“, deshalb akzeptiert der ZMD das Grundgesetz gemäß islamischen Rechtsdenkens als „lokale Rechtsordnung“ – und auch nur deshalb. Gleichzeitig gilt aber „das islamische Recht“, d. h. die Scharia, als höchste Autorität, wenn auch nur im Blick auf die religiös-kultischen Vorschriften. Wird die „lokale Rechtsordnung“ (das Grundgesetz) vom ZMD nur deshalb akzeptiert, weil das islamische Recht sie dazu vertraglich verpflichtet und man darauf setzt, ggf. durch vertragliche Vereinbarungen Spielräume für die Anwendung islamrechtlicher Bestimmungen (z. B. im Ehe-, Familien- und Erbrecht) zu gewinnen?13 Es wird ein Vertragsvorbehalt formuliert, der in These 11 durch die Formulierung „daher“ zum Ausdruck kommt: „Ob deutsche Staatsbürger oder nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit. Daher akzeptieren sie auch das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben. Der Koran untersagt jede Gewaltausübung und jeden Zwang in Angelegenheiten des Glaubens.“14 Die Kritik an diesem „Vertragsvorbehalt“ konterte der ZMD mit dem Hinweis, dass das islamische Recht unbedingt zur Einhaltung von Verträgen verpflichte.15

Damit unterstreicht der ZMD erneut, dass im Verhältnis zum Staat für ihn das islamische Recht gilt, aber dieses zur Vertragstreue verpflichte. Es ist gleichwohl keineswegs auszuschließen, dass die „im Zentralrat vertretenen Muslime“ aufgrund besonderer Umstände zu der Meinung gelangen könnten, dass die Vertragsbedingungen von dem „Vertragspartner“ (der Bundesrepublik Deutschland) verletzt worden seien. Insofern kann diese islamrechtliche Vertragskonstruktion im Blick auf die Akzeptanz von säkularer Rechtsordnung und demokratischem Rechtsstaat nicht befriedigen. Es kann ja nicht sein, dass eine religiöse Minderheit die Bedingungen diktiert, unter denen sie bereit ist, die fundamentalen Verfassungsprinzipien anzuerkennen, und sich vorbehält, diese Anerkennung auch wieder zurückzunehmen, wenn der „Vertragspartner“ vermeintlich die Geschäftsgrundlage verlässt. Wird die Charta in dieser zentralen Verfassungsfrage nicht präzisiert, so ist es gerechtfertigt, eine solche Position als einen Vorbehalt im Blick auf die geforderte Rechtstreue zu bezeichnen. Die deutsche Rechtsordnung und das Grundgesetz werden zwar faktisch gemäß den Kategorien des islamischen Rechtes anerkannt, gleichwohl wird nicht der Versuch unternommen, die Anerkennung eines säkularen, demokratischen und pluralistischen Rechtstaates grundsätzlich theologisch und islamrechtlich zu fundieren.

Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Der weltanschaulich neutrale Staat darf von Muslimen als Voraussetzung für die Gewährung von Religionsfreiheit und Körperschaftsrechten keine theologische oder religionsrechtliche Begründung der Akzeptanz von Demokratie verlangen. Er kann und muss aber „Rechtstreue“ einfordern, und er kann einen zivilgesellschaftlichen Diskurs unterstützen, in dem solche Begründungsfragen im Kontext von Debatten über eine politische „Basiskultur“ offen diskutiert werden. Die Zivilgesellschaft hat einen Anspruch darauf, plausible Gründe zu erfahren, wie Rechtstreue theologisch und islamrechtlich überzeugend fundiert werden kann. Dass dies – trotz einiger Ansätze – bedauerlicherweise noch nicht geschehen ist, ist umso erstaunlicher, da es ja nicht an substantiellen innerislamischen Diskursen und anschlussfähigen Ansätzen in dieser Frage mangelt.

Der iranische Philosoph und Reformer Abdolkarim Soroush hat in einem Gespräch beim Wissenschaftskolleg in Berlin 2005 auf die bedeutende Arbeit des ägyptischen Rechtsgelehrten Ali Abd al-Raziq (1888-1966) verwiesen, der 1925, ein Jahr nach der Abschaffung des Kalifats im Osmanischen Reich, ein Buch mit dem Titel „Der Islam und die Prinzipien des Regierens“ veröffentlichte. Hier entfaltete al-Raziq die These, dass der Islam gar keine politische Theorie enthalte. Es gebe im islamischen Recht dagegen einen „freien Raum“ (mantiqa al-faragh) für die freie, vernunftgemäße Entscheidung der Menschen. „Dieser Raum“, so erklärte Soroush, „dehnt sich aus oder schrumpft je nach Auslegung (‚ijtihad’ = die vernunftgemäße Prüfung) der Rechtsgelehrten. Für al-Raziq sind Staat und Regierung Teil dieses freien Raumes. Wie der Prophet gehandelt hat, gehört seiner Epoche an, ist aber kein Vorbild, dem spätere Generationen folgen müssen.“16

Al-Raziq wurde für seine „häretischen“ Thesen von der Al-Azhar Universität ausgeschlossen und verfemt. Er starb 1966 verbittert und vergessen. Seit einigen Jahren, so berichtete Soroush, wird sein Buch wieder nachgedruckt und gelesen. Offensichtlich ist es muslimischen Verbandsvertretern in Deutschland aber nicht bekannt. Auf Büchertischen der Mitgliedsorganisationen des ZMD findet sich so manches fromme Werk, an der Seite von orthodox-konservativen und auch islamistischen Schriften. Der ZMD wäre gut beraten, sich auch mit jenen Autoren zu beschäftigen, die substantielle Beiträge zur kritischen Koranhermeneutik, zur Scharia-Debatte und zur politischen Theorie geliefert haben bzw. die bis heute produktiv sind, z. B. Mohammed Iqbal, Fazlur Rahman, Mohamed Talbi, Nasr Abu Zayd, Farid Esack, Abdullahi An-Na’im, Ebrahim Moosa, Sadik al-Azm, Muhammad Shahrur, Khaled Abou-El-Fadl, Ismail Ragi Al-Faruqi, Chandra Muzaffar, Riffat Hassan, Amina Wadud und Asma Barlas, um nur einige zu nennen.17 Man muss auch nicht nur in die Ferne schweifen. So hat der Lehrstuhlinhaber für Islamische Theologie an der Universität Münster, Muhammad S. Kalisch, die Forderung nach einem „neuen Igtihād“ (einer neuen rationalen Rechtsfindung) im Blick auf die Diskussion der Minderheitensituation von Muslimen im säkularen Staat erhoben. Er hat in einem bemerkenswerten rechtsphilosophischen Beitrag deutlich gemacht, dass das islamische Recht als „Vernunftrecht“ betrachtet werden müsse. Bei konsequenter Anwendung könne gezeigt werden, dass es zwischen Islam und Menschenrechten, Islam und Demokratie keinen prinzipiellen Gegensatz gebe.18

Islam und Menschenrechte

Die wichtigste These der Charta ist These 13, in der es um Menschenrechte geht. Sie zeigt das Spannungsfeld zwischen Scharia und säkularem Recht noch einmal in aller Deutlichkeit: „Zwischen den im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung besteht kein Widerspruch. Der beabsichtigte Schutz des Individuums vor dem Missbrauch staatlicher Gewalt wird auch von uns unterstützt. Das Islamische Recht gebietet, Gleiches gleich zu behandeln, und erlaubt, Ungleiches ungleich zu behandeln. Das Gebot des islamischen Rechts, die jeweilige lokale Rechtsordnung anzuerkennen, schließt die Anerkennung des deutschen Ehe-, Erb- und Prozessrechts ein.“

Der ZMD sieht Individualrechte im Koran verankert und „von Gott gewährt“. Es ist zu fragen, ob die Formulierung „von Gott gewährt“ auf eine theologische Letztbegründung der unverlierbaren Würde des Menschen abzielen soll. Bekanntlich lässt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 auf der metarechtlichen Ebene die Begründung der „Würde“ des Menschen offen, ja musste sie offen lassen, weil die Erklärung ein Kompromiss von Staaten war, deren Vertreter aus sehr verschiedenen religiösen und philosophischen Traditionen kamen. Die einen begründeten die Menschenrechte religiös, die anderen philosophisch (Naturrecht, Kantianismus). Muslimische Rechtsgelehrte haben auch eine Begründung der Menschenwürde vorgelegt und dabei auf den Gnadenakt Gottes gegenüber dem Menschen abgehoben. Der Mensch sei von Gott mit einer Vorzugsstellung gegenüber allen anderen Geschöpfen ausgestattet und als „Stellvertreter“ („khalifa“) Gottes „geehrt“ worden.19 Daraus könnte die „gleiche Würde“ des Menschen, ungeachtet der Differenzen von Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Kultur etc., abgeleitet werden. Doch an diesen bedeutsamen muslimischen Menschenrechtsdiskurs schließt die Charta nicht an und konkretisiert ihn nicht, sondern formuliert zwei grundlegende Einschränkungen, die in den Formulierungen „Kernbestand“ und „westlich“ sichtbar werden. Was versteht der ZMD unter „Kernbestand“? Welche Teile der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gehören nicht dazu? Das bleibt offen.

Die Einschränkung „westlich“ verweist darauf, dass die Autoren der Charta den Universalismus der Menschenrechte, der nicht kulturalistisch auf „christlich-abendländische“ Werte reduziert werden darf, unreflektiert lassen. Sie verkennen, dass er nicht allein das Ergebnis „westlichen“ Menschenrechtsdenkens ist, so sehr auch „westliche“ Prägungen in der historischen Genese der Menschenrechtsidee aufscheinen mögen. Der Universalismus der Allgemeinen Menschenrechtserklärung ist ein politisch-pragmatischer Konsens zwischen Partnern, die aus verschiedenen religiösen und philosophischen Strömungen und Traditionen kommen. Sie haben sich auf den Begriff der Menschenwürde als ein anthropologisches Minimum verständigt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“ (Artikel 1). Im Konsens ist ferner ein Katalog von unverlierbaren und unveräußerlichen Menschenrechten definiert worden, wobei Menschenwürde sowie Ursprung und Herkunft der Menschenrechte unterschiedlich (religiös und/oder philosophisch) letztbegründet werden.

Der ZMD steht dagegen geistig ganz offensichtlich in der Tradition der Islamischen Menschenrechtserklärungen von 1981 und 1990, die die Geltung der Menschenrechte unter Scharia-Vorbehalt stellen.20 Es ist sehr aufschlussreich, wenn Axel Ayyub Köhler, seit Februar 2006 Nachfolger von Nadeem Elyas im Vorsitz des ZMD und auch an der Charta beteiligt, zur Begründung von Menschenwürde schreibt: „Die Würde ist dem Menschen unter erheblichen Auflagen von Gott verliehen worden. Alle Rechte des Menschen – auch die Menschenrechte (!) – sind damit an Pflichten gebunden. Die Vermittlung und Verinnerlichung der Regel, dass islamische Rechte immer an Pflichten gebunden sind, gehört zu den wesentlichen Erziehungszielen.“21 Dass Köhler die Würde des Menschen als von Gott, dem Schöpfer menschlichen Lebens, verliehen betrachtet, ist zunächst eine legitime „Letztbegründung“. Problematisch wird es aber, wenn die Erfüllung von „Pflichten“ gegenüber Gott zur Bedingung für die Berufung auf universal geltende Menschenrechte und deren tatsächliche Wahrnehmung erklärt wird. Dieser Argumentation zufolge können dann areligiöse Menschen, zumindest in einem islamischen Staat, nicht in den Genuss von Menschenrechten kommen, denn sie akzeptieren ja weder die religiöse Letztbegründung noch die aus dieser erhobenen Verpflichtungen. Auch Andersgläubige kämen nicht in den vollen Genuss der Menschenrechte, da sie zwar eine „religiöse Letztbegründung“ anerkennen, aber in der Frage der Pflichterfüllung den islamischen Geboten und Verboten natürlich nicht folgen können.

Einer der Mitautoren der Islamischen Charta, der Konvertit Murad Wilfried Hofmann, in dessen Schriften der Ausdruck „Kernbestand“ der Menschenrechte vorkommt, stellt fest „dass die Menschenrechte im Islam nicht voll mit den Menschenrechtspakten übereinstimmen“. Der Islam ist für ihn ein „komplementäres Menschenrechtssystem“. Er kenne nicht nur „alle klassischen Menschenrechte schon seit 1400 Jahren“, sondern habe diese „besser verankert ... als der Okzident mit allen seinen Pakten“.22 Auch Hofmann formuliert die Bedingung des Glaubens an Gott als Voraussetzung für den Respekt und die Gewährleistung von Menschenrechten: Die „Respektierung der Menschenrechte steht und fällt damit letztlich mit dem Glauben an Gott“23. Wenn die Scharia nach Hofmann „als göttliches Recht letztlich nicht zur Disposition steht“24 und die Berufung auf Menschenrechte und deren Inanspruchnahme an die Erfüllung religiöser Pflichten gebunden wird, so gelten sie nur eingeschränkt für religiöse Menschen. Insofern bleibt ein grundlegender Widerspruch zwischen der Scharia, dem göttlichen „Grundgesetz“ für Muslime, und den universalen Menschenrechten bestehen.

Das wird unmittelbar aus der Formulierung ersichtlich, dass das „Islamische Recht“ gebiete, „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich“ zu behandeln. Bezeichnenderweise hebt die These 11, in der sich der ZMD zum Grundgesetz als „lokaler Rechtsordnung“ bekennt, das „aktive und passive Wahlrecht der Frauen“ hervor. Ganz offensichtlich war im Verband ein vorbehaltloses Bekenntnis zum Art. 3 GG (Männer und Frauen sind gleichberechtigt) nicht konsensfähig. Immer wieder wird in Verlautbarungen und Publikationen muslimischer Verbände auf die „Gleichwertigkeit“ der Frau vor Gott und die von Gott gegebenen unterschiedlichen Zuweisungen von Pflichten verwiesen. Die Rede von der Gleichwertigkeit vor Gott bedeutet jedoch keineswegs zwingend die Akzeptanz gesellschaftlicher Gleichberechtigung in Familie und Gesellschaft.

Weitere schariarechtlich begründete Einschränkungen finden sich im Blick auf die Religionsfreiheit. Zwar wird in These 11 die Religionsfreiheit ausdrücklich bejaht, inklusive des Religionswechsels, dennoch bleibt unklar, ob hier tatsächlich die Religionsfreiheit im Sinne des Menschenrechts der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 18) gemeint ist. Zum einen lässt die Formulierung in These 14 aufmerken, wo von einem „vom Koran anerkannten religiösem Pluralismus“ die Rede ist. Ein „koranischer religiöser Pluralismus“ ist jedoch etwas anderes als ein auf allgemeinen Menschenrechten fußender gesellschaftlicher und politischer Pluralismus, der die völlige Gleichberechtigung der Wahrheitsansprüche aller Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften gewährleistet sowie das Recht, sie ohne Behinderung öffentlich zu vertreten. Der „koranische religiöse Pluralismus“ beschränkt sich dagegen nur auf die „Buchreligionen“ Judentum und Christentum und gewährt diesen Duldung, nicht aber gleichberechtigte Anerkennung. Im Rahmen der Geltung der Scharia haben Juden und Christen als „Buchbesitzer“ (ahl-al-kitab) zwar ein Existenzrecht, sie dürfen ihre Religion unter Auflagen leben, werden allerdings nicht als Vollbürger, sondern als „Schutzbefohlene“ (dhimmis) betrachtet.25 Atheisten schließt dieser „koranische religiöse Pluralismus“ gänzlich aus. Vor diesem Hintergrund ist es schon überaus befremdlich, dass Murad Wilfried Hofmann das „islamische Minderheitenrecht“ für das „liberalste Statut für Andersgläubige“ hält, „das die Welt bis heute gesehen oder normiert hat“.26

In der Debatte um Pluralismus werden häufig zwei Suren zitiert. „Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht“ (5,48). Und: „Ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen (indem wir euch) von einem männlichen und einem weiblichen Wesen (abstammen ließen), und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr euch (auf Grund der genealogischen Verhältnisse) untereinander kennt. (Bildet euch aber auf eure vornehme Abstammung nicht zu viel ein!) Als der Vornehmste gilt bei Gott derjenige von euch, der am frömmsten ist. Gott weiß Bescheid und ist (über alles) wohl unterrichtet“ (49,13).

Als Beleg für praktizierten Pluralismus wird sodann auf die verschiedenen Ethnien, Sunniten und Schiiten, Muslime und Nicht-Muslime, sowie auf verschiedene soziale Gruppen verwiesen, die in islamischen Staaten leben. Das ist zunächst nicht mehr als die schöpfungstheologische Feststellung von faktischer Vielfalt, die als von Gott gewollt definiert wird. Offen bleibt, was daraus normativ-politisch folgt: Pluralismus als Prinzip gleichberechtigten Wettbewerbs unterschiedlicher Interessen im Sinne einer partizipativen Demokratie oder „religiöser Pluralismus“ im Rahmen der Scharia? Der Befund ist klar: Pluralismus wird in der herrschenden Meinung der Rechtsgelehrten – von den Klassikern bis zu den Zeitgenossen – nur innerhalb des Rahmens der Scharia anerkannt. Treffend kommentiert die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer diesen Tatbestand: „Pluralismus ist nur innerhalb des vielbeschworenen, aber nur selten definierten ‚Rahmens des Islam’ und nur ‚auf dem Boden der Scharia’ möglich und zulässig. Damit stellt sich einmal mehr die Frage danach, wer den unantastbaren Kern oder Rahmen des Islam, bzw. der Scharia definiert und damit auch die Grenzen legitimer Meinungsvielfalt und Auseinandersetzung festlegt.“27

An zwei Stellen müht sich der ZMD um einen pragmatischen Umgang mit der Scharia. In These 11 akzeptiert er den Religionswechsel und auch das „Recht, eine andere oder gar keine Religion zu haben“. Wenn man das nicht nur als die Unterstreichung geltenden Verfassungsrechts sieht, so mag diese Positionierung überraschen, da „Apostasie“ nach Koran und Sunna bekanntlich ein todeswürdiges Verbrechen ist. Apostaten drohen im jenseitigen Leben Höllenstrafen (Suren 2,217; 3,77; 85-91, 106,177; 4,89; 115,137; 5,54; 16,106-107; 47,25-28,32) und im diesseitigen die Todesstrafe wegen Hochverrats.28 Der ZMD setzt sich hier offensichtlich in Widerspruch zu maßgeblichen islamischen Rechtsgelehrten der islamischen Welt. Welche Erklärung gibt es für diesen Schritt?

Zunächst bleibt offen, ob mit „Religionswechsel“ nur der Wechsel von einer anderen Religion zum Islam legitimiert werden soll und nicht umgekehrt. Der Bitte um Präzisierung, etwa durch eine eindeutige Formulierung über die Möglichkeit des „Austritts“ aus dem Islam, ist der ZMD bisher nicht nachgekommen.29 Ferner kommt hier eine andere Denkfigur islamischen Rechtsdenkens ins Spiel, das Prinzip der „maslaha“.30 Damit ist das Interesse, die Wohlfahrt der islamischen Gemeinschaft gemeint. Was der „umma“ nützt und notwendig ist, das ist „maslaha“. Für den Philosophen Abu Hamid Al-Ghazali (1058-1111) ist „maslaha“ der grundlegende Zweck, die zentrale Intention der Scharia in Bezug auf den Menschen: die Erhaltung der Religion, die Bewahrung des Lebens, der Nachkommenschaft, der Vernunft und des Eigentums. Nun kann es Situationen geben, in denen es im allgemeinen Interesse der „umma“ und zur Sicherung der Grundintentionen der Scharia notwendig werden kann, einzelne Scharia-Bestimmungen pragmatisch zu interpretieren oder, anders formuliert, sie in einem konkreten historischen Kontext nicht anzuwenden. Das bedeutet: Im Sinne des allgemeinen und notwendigen Interesses der muslimischen Gemeinschaft, z. B. dem eines guten Zusammenleben mit Nicht-Muslimen in Deutschland, positioniert sich der ZMD für den Religionswechsel.

Fazit

Trotz interessanter und bedenkenswerter Ansätze, Islam mit Menschenrechten und Demokratie zu versöhnen, bleiben viele Fragen offen, die in einem kritischen Dialog geklärt werden müssen. Im Mittelpunkt steht die Scharia-Frage. Wenn, wie immer wieder von den muslimischen Verbänden behauptet wird, Scharia flexibel und den gesellschaftlichen Umständen entsprechend verändert werden kann, dann muss klar und verbindlich gesagt werden, wie das angesichts fortwirkender dominant konservativ-orthodoxer, fundamentalistischer und islamistischer Auslegungen von Koran und Sunna gelingen soll. Es ist nicht damit getan, die Faktizität des demokratischen, pluralistischen Rechtsstaates anzuerkennen, es bedarf auch einer überzeugenden Begründung aus der eigenen religiös-kulturellen Tradition heraus. Dies muss geschehen, nicht weil der demokratische Staat eine solche Begründung als Bedingung für die Gewährung von Religionsfreiheit einfordern dürfte, sondern weil nur so ein glaubwürdiger und aufrichtiger Dialog gelingen und die von den Verbänden eingeforderte gesellschaftliche Anerkennung „des Islam“ erreicht werden kann.

In der nächsten Ausgabe des MD wird ein zweiter Beitrag zum Thema „Islam und Demokratie“ im Lichte von Grundsatzerklärungen aus dem deutschen organisierten Islam folgen, in dem sich der Autor mit dem „Grundsatzpapier“ der Schura Hamburg beschäftigt.


Johannes Kandel, Berlin


Anmerkungen

1 Islamische Charta, hg. vom Zentralrat der Muslime in Deutschland, 20.2.2002, Vorwort; vgl. dazu:

Johannes Kandel, Die Islamische Charta. Fragen und Anmerkungen, Islam und Gesellschaft Nr. 1, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2002. Weitere substantielle Kommentare: Tilman Nagel, Zum schariatischen Hintergrund der Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Koexistenz und Konflikt von Religionen im vereinten Europa, Göttingen 2004, 114ff; Thomas Lemmen, Die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland, in: Hans Waldenfels/ Heinrich Oberreuter (Hg.), Der Islam – Religion und Politik, Paderborn / München / Wien / Zürich 2004, 107; Rainer Brunner, Die „Islamische Charta“ des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Ein Beitrag zur Integration oder Mogelpackung? www.bpb.de/veranstaltungen/NTGHNT ; Rainer Glagow, Die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime. Eine kritische Wertung, in: Ulrich Dehn (Hg.), Islam in Deutschland – quo vadis? EZW-Texte 180, Berlin 2005, 28ff; Martin Affolderbach, Die „Islamische Charta“ – Ein Meilenstein für den Islam in Deutschland? In: Christen und Muslime. Verantwortung zum Dialog, hg. von den Evangelischen Akademien in Deutschland, Darmstadt 2006, 71ff.

2 Sehr knappe und zuverlässige Einführung in die Scharia, auch für Nichtfachleute verständlich: Christine Schirrmacher, Die Scharia. Recht und Gesetz im Islam. Holzgerlingen, 2007. Umfassende islamrechtliche Einführung zur Scharia: Tilman Nagel, Das Islamische Recht, Westhofen 2001, 3ff.

3 Interview in der ZEIT, 19.4.2007.

4 Interview in der Welt, 4.3.2007.

5 Interview im Deutschland-Radio, 30.9.2006.

6 Interview in der Zeitschrift „Das Parlament“, Nr. 50, 10.12.2007. Es gibt ferner eine Reihe von Äußerungen des ehemaligen ZMD-Vorsitzenden Nadeem Elyas, die darauf hindeuten, dass für die Autoren der Charta der „islamische Staat“ im Prinzip das Lebensideal eines frommen Muslim bleibt. Nadeem Elyas, Das weiche Wasser wird besiegen den harten Stein, Aachen 1997; ders., Muslime ohne islamischen Staat? In: J. Beckermann / H. Engel (Hg.), Das Verhältnis von Staat und Kirche, Rupert Mayer Lectures 2001, Frankfurt/M. 2002.

7 Interview mit Murad Hofmann, 31.8.2004, www.islam.de

8 Ebd.

9 Mathias Rohe, Islamismus und Schari’a, in: Integration und Islam, hg. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2006, 124; dort weitere Lit. zur Scharia.

10 Ausgezeichnete Problematisierung bei Gudrun Krämer, „Der Islam ist Religion und Staat“: Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik im Islam, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Fundamentalismus, Terrorismus, Krieg, Weilerswist 2003, 52ff; vgl. auch Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999, 49ff; Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, Cambridge 1997.

11 Sadik al-Azm, Der Islam und der säkulare Humanismus, in: Khalid Al-Maaly (Hg.), Die arabische Welt. Zwischen Tradition und Moderne, Heidelberg 2004, 17 und 24.

12 Siehe zu diesen Begriffen: A. Abel, Dar-al-Harb, in: Encyclopedia of Islam, Bd. II, 126aff; ders., Dar-al-Islam, in: ebd., Bd. II, 127bff; Halil Incalik, Dar-al-Ahd, in: ebd., Bd. II, 116aff. Der muslimische Genfer Philosoph Tariq Ramadan hält diese Kategorisierung angesichts der global grundlegend veränderten politischen Kräftekonstellationen und gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse im Westen für obsolet. Er führt eine neue Kategorie ein: Der Westen sei für muslimische Minoritäten das „dar-al-shahada“, das „Land des Bekennens“, des „Zeugnisses“, Tariq Ramadan, Western Muslims and the Future of Islam, Oxford 2004, 62ff.

13 Siehe zu diesem Aspekt zutreffend Heiner Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007, 108ff.

14 Siehe dazu treffend Ludwig Ammann, Cola und Koran. Das Wagnis einer islamischen Renaissance, Freiburg / Basel / Wien 2004, 85.

15 Nadeem Elyas, Integration und Dialog – Stiefkinder unserer Generation – Lassen sich Muslime in eine nichtislamische Gesellschaft integrieren? In: Christen & Muslime. Verantwortung zum Dialog, hg. von den Evangelischen Akademien in Deutschland, Darmstadt 2006, 83.

16 „Das ist die Trennungslinie“, Abdolkarim Sorusch und Dieter Grimm über „Freiheit und Religion“, in: Internationale Politik 6/2005, 49f.

17 Vgl. dazu Christian W. Troll, Progressives Denken im zeitgenössischen Islam, Islam und Gesellschaft Nr. 4, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2005.

18 Muhammad Kalisch, Muslime als religiöse Minderheit. Ein Beitrag zur Notwendigkeit eines neuen Igtihad, in: T. G. Schneiders / L. Kaddor (Hg.), Muslime im Rechtsstaat, Münster 2005, 47ff.

19 Z.B. Suren 2,30-34; 17,70; 33,72; 95,4-6; Rotraud Wielandt, Menschenwürde und Freiheit in der Reflexion zeitgenössischer muslimischer Denker, in: Johannes Schwartländer (Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, 179ff.

20 Vgl. die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam“ des in London ansässigen „Islamrats für Europa“ vom 19.9.1981 und die „Kairoer Erklärung“ der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) vom 5.8.1990; siehe dazu v.a. Anne Duncker, Menschenrechte im Islam. Eine Analyse islamischer Erklärungen über die Menschenrechte, Berlin 2006.

21 Ayyub A. Köhler, Islam kompakt, Köln 2000, 90.

22 Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, Kreuzlingen 2000, 104, 97. An anderer Stelle heißt es, dass der Islam „eines der frühesten und umfassendsten klassischen Menschenrechtssysteme der Welt“ sei, Murad Hofmann, Der Islam als Alternative, München 1994, 157.

23 Ebd., 156.

24 Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, a.a.O., 104.

25 Vgl. Chafik Chehata, Dhimma, in: Encyclopedia of Islam, Bd. II, 231aff; C. Cahen, Dhimma, in: Encyclopedia of Islam, Bd. II, 227aff.

26 Hofmann; Der Islam im 3. Jahrtausend, a.a.O., 248.

27 Krämer, Gottes Staat als Republik, a.a.O., 139.

28 Von Mohammed wird folgender Ausspruch überliefert: „Wer die Religion wechselt, den tötet“, Al-Bukhari, Kitab al-jihad, Kapitel 149, Nr. 260; A. J. Wensinck, Concordance et Indices de la tradition Musulmane, Leiden 1943, Bd. 2, 247. Im Sudan (StGB aus dem Jahre 1991, Art. 126), im Jemen (StGB aus dem Jahre 1994, Art. 259), im Iran, in Saudi-Arabien, Katar, Pakistan, Afghanistan, Somalia und Mauretanien (StGB aus dem Jahre 1984, Art. 306) kann Abfall vom Islam noch heute mit dem Tode bestraft werden. Eine Fatwa der ägyptischen Al-Azhar Universität vom 23.9.1978 bestätigte die Todesstrafe für Apostaten.

29 Nagel, Zum schariatischen Hintergrund, a.a.O., 124.

30 Knappe Zusammenfassung bei Majid Khadduri, Maslaha, in: Encyclopedia of Islam, Bd. VI, 738b; Adel El-Baradie, Gottes Recht und Menschenrecht. Grundlagen der islamischen Strafrechtslehre, Baden-Baden 1983, 54ff.