Islam

Iranischer Reformtheologe zu Gast in Berlin

Iranischer Reformtheologe zu Gast in Berlin. Nicht weniger als eine Neuinterpretation des Prophetentums Muhammads forderte der iranische Philosoph und Theologe Mohammad Mojtahed Shabestari in einem Vortrag zum Thema „Islam und Demokratie“ im Juni 2012 in Berlin. Der Abend an der Humboldt-Universität zu Berlin wurde von der dortigen Theologischen Fakultät und der EZW veranstaltet.

Der Koran müsse im Lichte des historischen Muhammad verstanden werden, nicht umgekehrt Muhammad im Lichte des Korans, sagte der hohe schiitische Geistliche. Der Koran sei eine „prophetische Lesart der Welt“, das heißt, Muhammad habe – als Prophet, und das bedeutet zunächst: als Mensch – die Hinweise auf Gott, die er in der Schöpfung, im Wort und in der Rechtleitung erfahren habe, seinen Mitmenschen mitgeteilt. Ist der Koran erst einmal so verstanden, muss man in ihm nicht „absolutes“ Wissen suchen, sondern wird darin Hinweise auf Gerechtigkeit und die Würde des Menschen finden, um nur zwei Beispiele zu nennen, und zwar wie sie jeweils in ihrer Zeit wegweisend waren. Diese Wegweiserfunktion muss in der Auslegung aufgegriffen und auf die Situation heute angewandt werden. Die wichtigste Rolle kann und muss dabei die Vernunft spielen, die dem Menschen zu diesem Zweck von Gott gegeben ist. Diese im schiitischen Islam wurzelnde Haltung bietet Ansätze, die Demokratie auch aus islamischer Sicht als ein System zu begreifen, das besser geeignet ist als andere Systeme, um Werte wie Gerechtigkeit, Menschenwürde, Freiheit und gerechte Teilhabe in der Gesellschaft zu verwirklichen. „Was alle angeht, soll auch von allen geregelt werden“ – ein solches Demokratieverständnis kann auch vom Koran aus begründet werden, der als solcher kein bestimmtes Herrschaftssystem bevorzugt. Dass der Koran weithin strikt als unmittelbares „Wort Gottes“ aufgefasst wird, ist die Folge einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung im Islam, die aber, so Shabestari, nicht konstitutiv ist für das Muslimsein. Denn dieses beruhe allein auf zwei Bedingungen, besser: auf zwei Bezeugungen, nämlich der Einheit und Einzigkeit Gottes und des Prophetentums Muhammads.

Die Schwierigkeiten, die aus derlei Überlegungen in der islamischen Welt entstehen, und den Widerstand der religiösen Eliten, der allenthalben einer solchen offenen und reflektierten Position entgegengebracht wird, haben vielleicht wenige so erfahren und sind wenigen so bewusst wie Mojtahed Shabestari, der nach wie vor in seiner Heimat lebt und arbeitet. Der Gelehrte (geb. 1936) ist einer der führenden iranischen Geistlichen, der hermeneutische Grundfragen in der lebendigen Auseinandersetzung mit der modernen protestantischen Theologie und westlichen Denkern erarbeitet hat und seit Jahrzehnten in den Diskurs über eine zeitgemäße Islaminterpretation einbringt. Seine Thesen kann er auf vielfältige Weise mit Argumenten aus der islamischen Theologie- und Philosophiegeschichte belegen. Shabestari war (vor der islamischen Revolution in Iran) von 1970 bis 1978 Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg. Nachdem er in den Iran zurückgekehrt war, wurde er 1980 Mitglied des Parlaments, entfremdete sich der politischen Entwicklung aber zunehmend. 1985 wurde er auf einen Lehrstuhl für Theologie an die Universität Teheran berufen und spezialisierte sich neben der islamischen Philosophie auf das Fach Vergleichende Religionswissenschaften. Seinen Lehrstuhl musste er vor einigen Jahren räumen, nachdem Mahmud Ahmadinedschad die iranische Präsidentschaft übernommen hatte. Er führte regelmäßig international bedeutsame Konferenzen zum christlich-islamischen Dialog durch.

In vielen Vorträgen und Publikationen befasst sich Mohammad Mojtahed Shabestari mit dem Verhältnis von Islam und Demokratie, von Staat und Religion und fragt nach den notwendigen Bedingungen für ein Islamverständnis, das die Grundlagen des islamischen Glaubens auf der Basis einer intellektuell akzeptablen hermeneutischen Theorie interpretiert. In Berlin konnte man Zeuge einer intellektuell anspruchsvollen, klar reflektierten Darlegung einer genuin islamischen Begründung für ein zeitgemäßes Demokratieverständnis werden. Aus dem Munde eines iranischen Theologen mag sie noch schwerer wiegen. Freilich muss man nach Lage der Dinge leider feststellen, dass es wenige, allzu wenige muslimische Einzelstimmen sind, wie die des 2010 verstorbenen Literaturwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid oder des Philosophen Abdolkarim Sorush, aber auch des Frankfurter Theologen Ömer Özsoy, die in diese Richtung vorstoßen.

(Literatur: Unterwegs zu einem anderen Islam – Texte iranischer Denker, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Katajun Amirpur, Freiburg i. Br. u. a. 2009; Katajun Amirpur / Ludwig Ammann (Hg.), Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg i. Br. u. a. 22006)


Friedmann Eißler