Intoleranter Atheismus

Der religiöse Wandel in säkularisierten westeuropäischen Gesellschaften lässt sich nicht mithilfe eines einzigen Mottos beschreiben. Bezeichnend sind vielmehr die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander unterschiedlicher Entwicklungen: fortschreitende Säkularisierung und gleichzeitig Wiederkehr der Religion, radikale Bestreitung und gleichzeitig Fundamentalisierung religiöser Wahrheit. Die „neuen“ Atheisten gehören genauso zu unserer Religionskultur wie das Phänomen, das – reichlich unbestimmt – als „Wiederkehr der Religion“ bezeichnet wird. In pluralistischen Gesellschaften müssen sie zusammen leben: die konfessionslosen, atheistischen und postchristlichen Zeitgenossen mit den christlichen, muslimischen, buddhistischen Gläubigen. Offensichtlich fordern die neuen Atheisten für sich Sonderrechte. Sie wähnen sich im Status des Aufgeklärtseins. Auf das gläubige Bewusstsein blicken manche respektlos herab.

Richard Dawkins wurde weltweit nicht als Atheist, sondern als Evolutionsbiologe bekannt. Auch deshalb wurde sein 560-seitiges Buch „The God Delusion“ („Der Gotteswahn“) beachtet. Aus dem Wissenschaftler ist inzwischen jedoch ein aggressiver Missionar des Atheismus geworden, der aus Gläubigen Atheisten machen möchte – und dies mithilfe seines Buches. Neben Dawkins sind weitere Autoren zu nennen, u. a. Christopher Hitchens, dessen Buch („Der Herr ist kein Hirte“) auch ins Deutsche übersetzt und vielfältig rezipiert wurde. Dawkins Werk liegt seit Wochen in jeder Bahnhofsbuchhandlung aus. Es wird gekauft, gelesen und diskutiert, obgleich der Autor auch mit geschickter Rhetorik seine fehlenden Kenntnisse in Sachen Theologie, Philosophie und Geschichte der Religionen kaum verbergen kann. Bei ihm findet sich ein vermeintlich naturwissenschaftlich orientierter Generalangriff auf die Religionen, die allesamt auf die Anklagebank gesetzt und als Wahnvorstellung pathologisiert werden. Naturwissenschaftliche Welterkenntnis führe weg vom Glauben und hin zum Atheismus. Das wird von ihm behauptet und suggeriert.

Nun ist die Religionskritik so alt wie die Religion selbst. In historischer Perspektive ist der Atheismus der nachgeborene Stiefbruder des Gottesglaubens. Er lebt vom Protest und vom Widerspruch. Selbstverständlich gibt es krankmachende Religiosität und den Missbrauch der Religion. Aber es gibt auch krankmachende Religionslosigkeit und einen „evolutionären Humanismus“, der die Würde des Menschen nicht achtet und seine Freiheit und Verantwortlichkeit leugnet. Auch der Atheismus kann intolerant werden, vor allem, wenn er sich mit dem Mantel der Wissenschaftlichkeit umgibt. Bemerkenswert ist schon, wie sehr manche Atheisten darum bemüht sind, ihre vermeintlich wissenschaftliche Weltdeutung politisch zu verallgemeinern.

Eine solche Tendenz zeigt sich nicht nur in den genannten aktuellen Publikationen, sondern auch in atheistischen Verbänden. Obwohl ihre Mitgliederzahlen äußerst begrenzt sind, beanspruchen sie dennoch für sich einen exklusivistischen Gestaltungsauftrag und erheben im Namen der Wissenschaft eine naturalistische und atheistische Weltanschauung zur Norm. Dagegen muss sehr deutlich gesagt werden: Von den „Folgelasten der Toleranz“ (Jürgen Habermas) kann auch das ungläubige Bewusstsein nicht entlastet werden. In einer pluralistischen, liberalen politischen Kultur wird nicht nur den Gläubigen zugemutet mit Nichtglaubenden in Respekt zusammen zu leben. Diese Zumutung gilt auch umgekehrt. Manche Atheisten tun sich damit ausgesprochen schwer. Der selbstreflexive Umgang mit den Grenzen der Vernunft und der Wissenschaft hat sich keineswegs schon überall herumgesprochen. Der Lernprozess, sich damit abzufinden, dass es in einer liberalen Demokratie auch gläubige Bürger dauerhaft geben wird, die ihr Leben und Handeln vor Gott verantworten wollen, steht manchen Propagandisten eines Atheismus und evolutionären Humanismus noch bevor.


Reinhard Hempelmann