Wolfgang Behringer / Claudia Opitz-Belakhal (Hg.)

Hexenkinder - Kinderbanden - Straßenkinder

Wolfgang Behringer/Claudia Opitz-Belakhal (Hg.), Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2016, 468 Seiten, 29,00 Euro.

Der Historiker Johannes Dillinger veröffentlichte im Jahr 2013 eine Abhandlung über die Rolle von Kindern in Hexenprozessen (vgl. MD 6/2014, 234-236). Er grenzte sein Untersuchungsfeld eng ein und beschränkte sich auf die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen im Kontext europäischer Kultur. Wolfgang Behringer und Claudia Opitz-Belakhal legen nun einen Sammelband vor, der sich der Thematik annimmt und auf Vorträge einer Tagung zurückgeht. Diese versammelte zahlreiche profilierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, u. a. auch Johannes Dillinger, und erweiterte das Untersuchungsfeld in mehrfacher Hinsicht. Das Thema der in Hexenprozesse verstrickten Kinder wurde auf der Tagung und dem daraus hervorgegangenen Band in den weiteren Kontext auffälliger oder marginalisierter Kinder eingebettet. Es finden sich somit auch Beiträge, die sich nicht auf Hexereikontexte beziehen, etwa einer über die Herrnhuter Kindererweckung von 1727. Im Rahmen der Erweiterung des Untersuchungsfeldes wurde auch die Beschränkung auf europäische kulturelle Kontexte und die ausschließlich historische Perspektive aufgehoben.

Der Band gliedert sich in fünf Sektionen unterschiedlichen Umfangs. Die erste Sektion mit dem Titel „Kindheit und Hexenglaube“ umfasst vier Beiträge. Eva Labouvie thematisiert Schwangerschaft und Geburt als Lebensphasen, die eng mit Hexereiängsten verknüpft waren, und stellt den Umgang mit diesen Ängsten dar. Außerdem sind Beiträge von Claudia Jarzebowski, Iris Gareis und Markus Meumann enthalten, wobei letzterer die Verknüpfung von Bettelei und Hexenglauben untersucht. Die zweite Sektion präsentiert drei Beiträge unter dem Titel „Straßenkinder und Kinderbanden in der Vergangenheit“.

Die dritte Sektion, die mit sechs Beiträgen die umfangreichste ist, widmet sich Kindern als Opfern und Tätern in Hexenprozessen. Der eröffnende Aufsatz von Rita Voltmer befasst sich mit der Frage, welche Rolle die Jesuiten und ihre Schulen bei der Verbreitung des Kinderhexenparadigmas spielten: Auch wenn dieses nicht auf die Jesuiten zurückgeht und es sich schon vor der Gründung der Gesellschaft Jesu finden lässt, so erscheinen sie als transnationaler Akteur eine bedeutende Rolle als Katalysator für die Verbreitung des Paradigmas gespielt zu haben. Die weiteren Texte widmen sich dem Thema „Hexenkinder“ in bestimmten Gebieten Europas (z. B. Südwestdeutschland, Schweiz, Nord-Norwegen).

Die vierte Sektion trägt den Titel „Kinderdevianz im Licht von Jurisprudenz und Pädagogik“ und umfasst drei Beiträge. Wolfgang Schild geht einer rechtshistorischen Frage nach und erörtert, inwieweit Kinder in der frühen Neuzeit im juristischen Sinne als zurechnungsfähig galten. Hierbei ist zu beachten, dass in Hexenprozessen Fragen nach der Zurechnungsfähigkeit und der psychischen Gesundheit der Angeklagten und der Zeugen durchaus verhandelt wurden und das Urteil und das Strafmaß beeinflussen konnten. Pia Schmid stellt Kinder vor, die als Gruppe nicht im negativen Sinne auffielen, sondern durch ihr auffälliges religiöses Engagement die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf sich zogen, wobei sie ein Beispiel aus der Herrnhuter Brüdergemeine wählt. Falk Brettschneider geht sozusagen auf der anderen Seite des Spektrums der Lebenswelt von Kindern nach, die in Zuchthäusern lebten bzw. überleben mussten.

Die vier Beiträge des fünften Abschnitts wenden sich Fragen der Gegenwart zu und richten den Blick auf Lateinamerika und Afrika. Markus Wiencke analysiert Sozialbeziehungen von Straßenkindern, die in Mwanza, Tansanias zweitgrößter Stadt, leben, und zeigt auf, wie Gewalt in diese Netzwerke eingeschrieben ist. Hartwig Weber berichtet über Straßenkinder und Gangmitglieder in den Großstädten Kolumbiens. Der Beitrag ist eher deskriptiv ausgerichtet und durch eine romantisierende Note geprägt. Felix Riedel gibt einen Überblick über Kinder im Kontext von Hexereivorstellungen und Hexenverfolgungen in unterschiedlichen Ländern Afrikas südlich der Sahara. Er geht dabei begrifflich differenzierend vor und arbeitet zunächst heraus, dass Hexereivorwürfe gegen Kinder in ihrem gegenwärtigen Ausmaß in Afrika ein junges Phänomen darstellen. Er geht dabei insbesondere auf die Rolle ein, die charismatische oder pentekostale Kirchen sowie westafrikanische Filmproduktionen für die Verbreitung dieser Vorstellungen spielen. Zum Thema Filme merkt er an, dass auch ältere amerikanische oder europäische Horrorfilme, die selbstverständlich auch in afrikanischen Kontexten rezipiert werden, Kinder als Agenten des Bösen präsentieren (etwa Carrie, The Exorcist, The Omen) und somit das Motiv des Hexenkindes nicht als genuin „afrikanisch“ verstanden werden sollte. Im abschließenden Beitrag wendet sich der Ethnologe Alexander Rödlach der Frage zu, inwieweit die AIDS-Problematik in Afrika mit Hexereivorwürfen gegen Kinder verknüpft wird. Er nimmt insbesondere das südliche Afrika mit Zimbabwe in den Blick, evaluiert die vorliegende Literatur und rekurriert auf seine eigenen Feldforschungsaufenthalte. Er zieht folgenden Schluss: Auch wenn ein enger Zusammenhang beider Faktoren durchaus von verschiedenen Akteuren behauptet werde und nach der Logik funktionalistisch ausgerichteter sozialwissenschaftlicher Theorie naheliege, müsse er erst empirisch nachgewiesen werden. Breit angelegte Studien fehlen jedoch, sodass voreilige Schlüsse vermieden und Einzelbeobachtungen nicht verallgemeinert werden sollten.

Die in der fünften Sektion verhandelten Themen werden auch in den allgemeinen Informationsmedien thematisiert. So berichten Nachrichtenmagazine (z. B. TIME) oder -sender (z. B. CNN oder Al-Jazeera) über Kinderhexen in Afrika oder Hexenverfolgungen in Neuguinea (letztere Region wurde im vorliegenden Band ausgespart). Die Beiträge können helfen, den oft reißerisch gehaltenen Medienbeiträgen über diese Phänomene, die im Sinne des „Edutainments“ nicht selten auf Schockeffekte setzen, mit einem kritischen und differenzierenden Blick zu begegnen. Gleichzeitig werfen sie implizit die Frage auf, inwieweit in einer globalisierten und durch Migration geprägten Welt solche Vorstellungen auch hier in Deutschland und im Kontext von Kirchengemeinden auftreten können und nicht nur ein historisches Phänomen darstellen, sodass kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur vor dem Horizont historischer Fragestellungen für die Problematik sensibilisiert sein sollten.

Der besprochene Band kann in zweierlei Hinsicht dienlich sein: Er bietet die Möglichkeit, Kenntnisse über frühneuzeitliche Hexereivorstellungen und Hexenverfolgungen zu vertiefen, und er bietet Einblicke in zeitgenössische Hexereivorstellungen und darauf bezogene sozialwissenschaftliche Analyseansätze.


Harald Grauer, Sankt Augustin