Michael Domsgen / Dirk Evers (Hg.)

Herausforderung Konfessionslosigkeit. Theologie im säkularen Kontext

Michael Domsgen / Dirk Evers (Hg.), Herausforderung Konfessionslosigkeit. Theologie im säkularen Kontext, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2014, 244 Seiten, 28,00 Euro.

Mit dem vorliegenden Sammelband macht die theologische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erstmals den Versuch, sich aus der Gesamtheit aller ihrer Disziplinen heraus dem Thema Konfessionslosigkeit zuzuwenden.

Im ersten Teil (11-72) werden religionstheoretische Aspekte in den Blick genommen. Michael Domsgen äußert sich zur Eignung des Leitbegriffs „Konfessionslosigkeit“. In seinen Interpretationsspielräumen lasse dieser unterschiedliche Grundthematiken zu. So bearbeitet der Autor die Aspekte der Entkirchlichung, der religiösen Unbestimmtheit und der multiplen Säkularität. Obwohl gerade die Pluralität der Ausprägungen den Terminus „Konfessionslosigkeit“ an seine Grenzen bringt und er nur eine grundlegende Tendenz beschreiben kann, befürwortet der Autor den Begriff, auch in Ermangelung eines besseren.

Ernst-Joachim Waschkebeleuchtet als Alttestamentler den Kontext des Dekalogs, speziell des ersten Gebots. In seiner Intoleranz gegenüber polytheistischen Auffassungen stelle es ein „Unikum“ in der altorientalischen Religionsgeschichte dar und finde seine Fortschreibung im Bilderverbot. Die heutigen Existenzfragen, ob überhaupt mit Sinn von Gott zu reden oder an ihn zu glauben sei, stellten indessen keine Thematik der Bibel dar.

Auf die Widersprüche zwischen religionssoziologischen Befunden und theologischen Deutungen bezüglich Konfessionslosigkeit geht Jörg Dierkenein. Gräben klafften zwischen Annahmen „forcierter Säkularität“ und ebenso grundsätzlicher Religionsoffenheit, zwischen religiöser Ungebundenheit und der beobachteten Wiederkehr der Religion. Der Autor geht auf Typen soziologischer und theologischer Deutungsfiguren ein und sucht nach Aufgaben der Theologie in ihrem Innen- und Außenverhältnis. Zur theologischen Urteilsfähigkeit in Sachen Religion gehöre auch, deren Negation mitzubedenken.

Der zweite Teil (75-149) orientiert sich an historischen Perspektiven. Udo Schnelle schaut auf die Erfolgsgeschichte der frühchristlichen Gemeinden. Er stellt eine hohe Anschlussfähigkeit in Bezug auf vorhandene Traditionsströme fest, ebenso die Bereitschaft, sich an Debatten zu beteiligen und mit Bestehendem zu vernetzen. Er bezieht auch die Strukturen der Gemeinden ein und führt deren Attraktivität auf Faktoren wie Zugehörigkeit ohne Vorbedingungen, Offenheit, Sozialverhalten und Wohltätigkeit, intensive persönliche Kommunikation, anspruchsvolle Theorie und Praxis sowie ein Maß an Exklusivität zurück.

Ein Bild der frühchristlichen Apologetik entwirft Jörg Ulrich. Als „Inseln der Rechtgläubigkeit“ werden die heiligen Kirchen im wilden Meer zu Sammelplätzen und Zufluchtsorten. Die Prioritäten liegen hier noch unabhängig von Mitgliederzahlen und Ausbreitung auf dem inneren (Lehr-)Zustand und dem äußeren Erscheinungsbild der Kirche. Diese Sicht trat mit fortschreitender Zeit in den Hintergrund, und die christliche Kirche definierte sich aus ihrem Selbstverständnis heraus als größte Religion. Als präsent zu haltende Grundsätze gibt Ulrich mit auf den Weg, sich eine solche Sicht, bei der das Quantitative nicht im Vordergrund steht, als Gelassenheit gegenüber Mitgliederzahlen anzueignen. Ebenso könne man durch das Wissen um Christen und Gemeinden in der gesamten Welt gestärkt werden, und man solle das kirchliche Selbstverständnis als verlässliche Anlaufstelle bewusst halten.

Mit einem Sprung in die Neuzeit geht Friedemann Stengel der Thematik nach, was an kritischen und produktiven Fragen aus der Betrachtung der Situation der Kirche in der DDR für die heutige Situation fruchtbar zu machen sei. Im Blick sind dabei damalige kirchliche Strukturen, innerkirchliches Verhalten und theologische Ansätze. Der Autor stellt die Ergebnisse von Workshops vor, die innerhalb der Theologischen Tage 2013 in Halle zum Thema „Aufgearbeitete Vergangenheit“ veranstaltet wurden.

Systematische Impulse haben in den dritten Teil des Sammelbandes (153-244) Eingang gefunden. Dirk Evers rückt die Dogmatik als fragende Theologie und Reflexionsgestalt des christlichen Glaubens in den Mittelpunkt und erinnert an wichtige Aspekte des evangelischen Kirchenverständnisses. Anschließend sucht er nach Möglichkeiten, die Situation wachsender Konfessionslosigkeit als Herausforderung kirchlichen Handelns zu verstehen. Kernaufgaben wie Mission, Ökumene und interreligiöser Dialog stehen für ihn im Zentrum.

Einen Exkurs zum „iconic turn“ und zur Bildtheorie bietet Malte Dominik Krüger. Trotz deren durchaus religiöser Dimension habe die Theologie bisher eher Abstand gehalten von der Wende zum Bild. Die protestantische Verpflichtung auf das Wort könne aber mithilfe bildtheoretischer Deutungen sogar in der Gegenwart gestärkt werden. Zaghafte Annäherungen und Sensibilisierungen fänden momentan beispielsweise in der Wiederentdeckung des Liturgischen, Rituellen und Sinnlichen statt.

Erschließungspotenzial in der Debatte um Konfessionslosigkeit und Konfessionalität sehen Marianne Schröter und Christian Senkel in den Überlegungen des Systematikers Hermann Timm. Er unternahm eine Deutung des Alltags, die auf die Entdeckung von Sinnressourcen abzielt. „Wie das Religiöse im Alltäglichen stattfinden kann, soll erläutert werden an dem eminenten Fall von Wirklichkeit, der Zwischenfall genannt wird“ (H. Timm, Zwischenfälle, Gütersloh 1983, 12f). In dem Ordnungsprinzip eines Diariums werden unverfügbare Begebenheiten und Begegnungen, sogenannte „kleine Kontingenzen“ dargestellt – als symbolische Grundierungen des Alltags. Laut den Autoren kann das Christentum „mehr zum Leben sagen, wenn es eigene und andere konfessionelle Selbstthematisierungen überschreitet, als wenn es dies unterlässt. Der Konfessorik dämmert so gesehen ein Abschied, evangelische Symbolkultur dämmert herauf“ (214).

Daniel Cyranka fragt, ob im Osten Deutschlands eine spezielle Mission nötig sei, wer oder was eigentlich „ostdeutsch“, und in diesem Sinn der „Normalfall“ sei. Festschreibungen charakterisierten Ostdeutschland als mehrheitlich nichtreligiöse Gegend, was einen essenziellen und systemisch-kollektiv repräsentierten Unterschied zu anderen Gegenden herstelle: Der Osten erscheint als Ausnahme, Ostdeutsche würden zu den „Anderen“. Es wird vorgeschlagen, im Bereich der kontextuellen Theologie konkrete Aspekte wie Lokalität, Globalität und Ökumenizität in ein Verhältnis zu setzen. Die Frage nach interkultureller Theologie vor Ort und der Identität von Christen und Christinnen in Ostdeutschland und deren Kontexteinbindung wird nötig.

Ein Weg dafür ist laut Michael Domsgens Schlussaufsatz die religiöse Kommunikation, die nicht nur in Form von Kirchlichkeit wahrgenommen werden könne. Über die Stärkung familiärer Beziehungen, der Zusammenhänge von Fremd- und Selbstsozialisation oder über das Neudenken von religiösem Lehren und Lernen helfe man, religiöse Kommunikation zu initiieren und zu befördern. Religiöse Indifferenz ergebe sich auch daraus, dass Glaubensthematiken und die Deutung von geteilten Erfahrungen so selten zur Sprache kämen. Die Kirchen als Impulsgeber dieser Kommunikation müssten sich auf Bekanntes beziehen, aber zugleich darüber hinausweisen und Ergebnisse offen lassen. Um zu „zeigen, was man liebt“, brauche es in erster Linie keine „Großnarrative“, sondern zunächst einmal die Gabe des Zuhörens.

Der Aufsatzsammlung gelingt es, entlang der theologischen Disziplinen sehr verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven und Schreibweisen Raum zu geben. Nicht alle Beiträge sind für die Diskussion von gleicher Relevanz. Aber insgesamt gewinnt das sonst eher aus empirischen Studien bekannte und schwer fassbare Thema „Konfessionslosigkeit“ an Zugängen und Denkimpulsen.


Teresa Knoch, Halle / Saale