Grundlagen einer Theologie in der Christengemeinschaft

Gemäß ihrem Selbstverständnis ist die Christengemeinschaft eine Kirche ohne Dogmen, ohne verbindliche Lehraussagen. Diese Besonderheit erschwert das Gespräch mit ihr, weil mitunter unklar ist, was in der Gemeinschaft geglaubt wird und was nicht. In den letzten Monaten hat sich daher eine kleine Gruppe von Pfarrern der Christengemeinschaft bemüht, einen grundlegenden Text zur Theologie zu erarbeiten. Dieser Text ist ausführlich innerhalb der Priesterschaft diskutiert worden und wurde mit der Leitung der Christengemeinschaft abgestimmt. Er kann zwar nicht als eine lehrmäßig bindende Verlautbarung der Leitung der Christengemeinschaft, wohl aber als ein Konsenspapier bezeichnet werden.

Wir danken den beteiligten Autoren für die Abdruckerlaubnis. Der Text erscheint zeitgleich in der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“.


Vorbemerkung

Als die Christengemeinschaft 1922 als Bewegung für religiöse Erneuerung gegründet wurde, geschah das in der Erwartung und Gewissheit eines vollständigen Neubeginns in der Geschichte des Christentums. Diese klare innere Ausrichtung auf die Zukunft soll auch weiterhin das wichtigste Wesensmerkmal der Christengemeinschaft bleiben, aber es kann inzwischen auch deutlicher gesehen werden, dass es der Ergänzung bedarf. Die Christengemeinschaft ist nicht einfach eine Schöpfung aus dem Nichts, sondern markiert einen wichtigen Schritt in der Kirchenentwicklung. In ihrem Selbstverständnis wird sie sich deshalb nicht von der Vergangenheit her bestimmen, hat sich aber in ihrer Theologie Rechenschaft zu geben, woran sie geistig anknüpft.

Die Christengemeinschaft hat keinen „Religionsstifter“ im herkömmlichen Sinn, der nach eigenem Verständnis etwa eine „Offenbarung“ und einen damit verbundenen „Auftrag“ empfangen hätte.1 Schon eher könnte man das Entstehen der Christengemeinschaft mit der Reformation vergleichen. Aber auch da gibt es bei ihr keine herausgehobene Gründergestalt wie Luther, Zwingli oder Calvin. Wenn gelegentlich (außerhalb der Christengemeinschaft) gesagt wird, Friedrich Rittelmeyer habe die Christengemeinschaft gegründet, so ist das zumindest missverständlich, denn er hat zwar bei ihrer Gründung eine herausragende Rolle gespielt, kann aber doch nicht im engeren Sinn als der Inaugurator dieser Bewegung gelten. Noch viel weniger gilt das für Rudolf Steiner, auch wenn ohne seine Hilfe das Entstehen der Christengemeinschaft nicht möglich gewesen wäre.

Am Ausgangspunkt der Christengemeinschaft fanden sich einzelne Menschen, überwiegend jüngere evangelische Theologen, die auf der Suche waren und die Frage hatten, ob Religion überhaupt noch zeitgemäß sei und eine Zukunft habe. Unabhängig voneinander trat bei den Einzelnen diese Frage auf. Sie mussten erst zueinander finden und sich zusammenschließen, oftmals auf eigentümlichen Schicksalswegen.2 Von Rudolf Steiner und der Anthroposophie erhofften sie sich Hilfe, aber „sie suchten nicht den anthroposophischen Weg, sie suchten einen spezifisch religiösen“3. So gibt es zwar die enge Beziehung zur Anthroposophie, insbesondere durch das Wirken Rudolf Steiners, dennoch besteht keine Identität mit der Anthroposophie. Die Gründer suchten einen eigenen Weg zu Christus, eine neue Perspektive für christlich-religiöses Wirken.

Nachfolgend sollen wesentliche Grundsätze formuliert werden, die diesen Weg beschreiben. Sie können zugleich als Grundsätze für eine Theologie in der Christengemeinschaft gelten.

Grundsätze für eine Theologie in der Christengemeinschaft

1. Steiner hat den Gründern der Christengemeinschaft zwischen 1921 und 1924 in fünf Zusammenkünften (jeweils mit einer Dauer zwischen 4 und 18 Tagen) eine grundlegende Orientierung für ihr Wirken gegeben. Außerdem führte er viele Gespräche mit den führenden Repräsentanten der Christengemeinschaft. Diese Orientierungen gehören zu den geistigen Grundlagen der Christengemeinschaft und setzen bei denen, für die sie gegeben sind, eine unbefangene Offenheit für Anthroposophie voraus.

2. Für die Gründer der Christengemeinschaft war Rudolf Steiner die maßgebende Autorität. Sie hatten die Erwartung und das Vertrauen, dass die durch ihn geschaffene Anthroposophie die Grundlage einer neuen Theologie sein könne und dadurch auch einer Erneuerung des religiösen Lebens. Als im Verlauf des Dornacher Kurses 1921 der Versuch gemacht wurde, den Willen der Entschlossenen in einer Verpflichtungserklärung zu formulieren, schien einigen eine Verpflichtung auf die Anthroposophie selbstverständlich zu sein. Im ersten Punkt der Erklärung wurde diese im ersten Entwurf deshalb als die Grundlage der neuen Theologie genannt: „Ich erkenne an, dass die Anthroposophie in entscheidenden Punkten die für eine religiöse Erneuerung heute vorauszusetzende neue Weltanschauung ist und über die nötigen Erkenntnisquellen für den neu zu gewinnenden Kultus verfügt.“4 Von Steiner jedoch wurde dieser Satz nicht für sachgemäß befunden. Er hatte ja bereits zu Anfang des Kurses betont: „Anthroposophie als solche kann nicht religionsbildend auftreten; Anthroposophie als solche muss sich die begrenzte Aufgabe stellen, als Geisteswissenschaft die gegenwärtige Kultur und Zivilisation zu befruchten, und es kann nicht in ihren Absichten liegen, selber religionsbildend aufzutreten.“5 So wurde also, einem von ihm gemachten Vorschlag folgend, dieser Satz der Erklärung geändert in: „Ich erkenne an, dass heute jede Bemühung um die religiöse Erneuerung zusammengehen muss mit der Bemühung um eine neue Weltanschauung, die behaupten kann, aus ursprünglichen Quellen heraus zur übersinnlichen Welt zu kommen, wie z. B. die Anthroposophie.“6 Damit übereinstimmend ist auch Steiners Auffassung, nicht jeder Priester müsse notwendig Anthroposoph sein. Denn man wird „nicht leicht hinwegkommen über den Glauben, dass gewisse Forschungsergebnisse der Anthroposophie durch die Dogmatik ausgeschlossen seien. Dass die wiederholten Erdenleben irreligiös, unchristlich seien, das werden doch noch viele glauben. Und es ist ja nicht eigentlich heute zu wünschen, dass man alle, die das noch nicht einsehen können, ausschließt, denn es ist doch das eigentliche religiöse Verhältnis dabei festzuhalten. […] Notwendig wäre allerdings, dass ein gewisser Kern von Persönlichkeiten da ist, die Anthroposophen sind. Aber das will mir eigentlich nicht notwendig erscheinen, dass alle Anthroposophen sind.“7

3. Dennoch gibt es eine nahe Beziehung der Christengemeinschaft zur Anthroposophie, auch wenn sie für keinen ihrer Priester einen verpflichtenden Charakter hat, da diese in ihrer Lehre frei sind.8 Anthroposophie ist für die Christengemeinschaft auch nicht das dogmatische Fundament ihrer Theologie (s.o.), denn sie ist ihrem Wesen nach Geisteswissenschaft, also gänzlich auf das menschliche Verstehen gegründet. Dabei wird vorausgesetzt, dass das menschliche Erkenntnisvermögen gegenüber dem bloß auf die Sinneswelt bezogenen Denken erweitert werden kann. Anthroposophie ist dann nicht wie eine Offenbarung gegeben, sondern muss denkend erarbeitet werden. Deshalb lehnt Rudolf Steiner auch jede Lehrautorität in der Anthroposophie ab: Nichts soll „aufgenommen werden auf Autoritätsglauben hin“9. Es genügt zunächst, wenn Anthroposophie als eine Art Arbeitshypothese genommen wird: „Man stelle sich nur einmal auf den Standpunkt der Frage: gibt es eine befriedigende Erklärung des Lebens, wenn die Dinge wahr sind, die da behauptet werden?“10 So kann Anthroposophie als ein Verstehensmodell für die Fragen des Christentums dienen. Dem Einzelnen bleibt es überlassen, was ihm von der Anthroposophie evident wird. In jedem Fall muss er für das, was er lehrt, selbst eintreten und kann sich nicht auf eine andere Lehrautorität gründen, auch nicht auf Steiner.

4. Was die Einrichtung und Ordnung des Kultus betrifft, herrscht innerhalb der Christengemeinschaft die Auffassung, dass es hier einer geistigen Kompetenz bedarf, die bei Rudolf Steiner vorausgesetzt wird. Daher sind die von ihm gegebenen Ritualtexte und seine Hinweise zur Ausübung des Kultus für die Priester der Christengemeinschaft maßgebend. Doch ist auch hier die Freiheit gewahrt, indem am Anfang nicht eine dogmatische Forderung steht, sondern im Vollzug des Kultus das Erleben seiner geistigen Realität. Nicht durch theologische Erwägungen werden in der Christengemeinschaft Kultuswortlaute akzeptiert und bestätigt, sondern sie bestätigen sich selbst in der religiösen Erfahrung. Wer diese Erfahrung nicht machen kann, wird sich eben auch nicht mit der Christengemeinschaft verbinden. Die Zugehörigkeit zur Christengemeinschaft gründet sich auf diese Erfahrung. Für die Priester der Christengemeinschaft gibt es darüber hinaus eine verpflichtende Bindung an den Kultus. Der Wille, ihn in der gegebenen Form auszuüben, muss unabhängig davon sein, wie weit der Priester in seinem Verständnis schon gekommen ist. Auch solche liturgischen Wortlaute, die für ihn zunächst vielleicht schwer verständlich sind, stehen ihm nicht zur Disposition. Die Liturgie ist also nicht das Ergebnis theologischer Reflexion, sondern umgekehrt der Möglichkeit nach Ausgangspunkt für ein Verständnis der religiösen Erfahrung und somit Grundlage der Theologie. Entsprechend weist Steiner auf den „Kultus und die ihm zugrunde liegende Lehre“ hin11 Das Erleben seiner geistigen Wirklichkeit und zugleich die Möglichkeit des Verstehens sind so im zeitgemäßen Kultus verbunden. Der erste Grund einer Theologie in der Christengemeinschaft ist also religiöse Praxis und religiöses Erleben. Daran schließt sich die dem Kultus und seinem Wortlaut „zugrunde liegende Lehre“ an.

5. In der Christengemeinschaft herrscht die Auffassung, dass die Wortlaute der Liturgie ihrem Wesen nach nicht Anthroposophie, sondern in einem weiteren Sinn „Evangelium“ sind. Das heißt, das Wort Christi kann durch sie erfahren werden. Deshalb gilt im Prinzip das über die Liturgie Gesagte in entsprechender Weise auch für die biblischen Schriften. Ein Unterschied besteht nur darin, dass deren Sprache 2000 Jahre und älter ist und der ganz anderen Bewusstseinsverfassung der damaligen Menschen entstammt. Aus diesem Grund ist hier im Allgemeinen ein weit höheres Maß an Interpretation nötig als bei der für unsere Zeit gegebenen Liturgie.

6. Religiöse Erfahrung, Kultus (Liturgie) und Evangelium bilden so in der Christengemeinschaft die Grundlage ihrer Theologie.

Zusammenfassung

• Rudolf Steiner hat der Christengemeinschaft zur Existenz verholfen durch grundlegende Orientierungen für ihre Begründer und durch die Vermittlung des Kultus.

• Die Christengemeinschaft hat eine enge Beziehung zur Anthroposophie. Sie ist dennoch keine anthroposophische Gründung, sondern hat ihre eigenen Wurzeln.

• Die Inhalte der Anthroposophie können eine oft entscheidende Interpretations- und Verständnishilfe für das Evangelium, die Liturgie und das religiöse Erleben sein. Sie sind aber – auch für die Priester der Christengemeinschaft – kein verpflichtender Glaubens- oder Lehrinhalt.

• Die maßgeblichen Grundlagen der Theologie in der Christengemeinschaft sind die biblische Offenbarung, der Wortlaut der Liturgie und die religiöse Erfahrung im Vollzug des Kultus.


Michael Debus (Stuttgart), Susanne Gödecke (Kiel), Frank Hörtreiter (Hannover), Johannes Roth (Kassel), Arnold Suckau (Bonn), Michael Wiehle (Freiburg)


Anmerkungen

1 Wie etwa Joseph Smith und die Mormonen (1830) oder Charles Russell und die Zeugen Jehovas (1870).

2 Vgl. Hans-Werner Schroeder: Die Christengemeinschaft – Entstehung, Entwicklung, Zielsetzung, Stuttgart 2001, und Rudolf Gädeke: Die Gründer der Christengemeinschaft – Ein Schicksalsnetz, Dornach 1992.

3 Spätere Charakterisierung Steiners, GA 260a, 5.10.1924, 397.

4 GA 343, 4.10.1921.

5 GA 343, 26.9.1921.

6 GA 343, 4.10.1921.

7 GA 342, 13.6.1921.

8 Der Priester muss allerdings seine theologischen Einsichten am Wortlaut der Liturgie (und entsprechend am Evangelium, s.u.) messen. Wenn sie dem von ihm ausgeübten Kultus widersprächen, würde er sich selbst und seine Tätigkeit in Frage stellen, womit seine Lehrfreiheit an ihre Grenzen käme.

9 GA 254, 18.10.1915, und zahlreiche weitere Vortragsstellen.

10 GA 9, 21.

11 GA 260a, 5.10.1924, 397.