Marion Küstenmacher, Tilmann Haberer, Werner Tiki Küstenmacher

Gott 9.0 Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird

Marion Küstenmacher, Tilmann Haberer, Werner Tiki Küstenmacher, Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010, 319 Seiten, 22,99 Euro


Richard Rohr hält in seinem Vorwort mit Lob nicht zurück: „Gott 9.0 weist Ihnen einen völlig neuen Weg in Richtung Klarheit, Glück und gesunde Spiritualität. Sie werden vieles mit neuen Augen sehen.“ Zwei bekannte bayerische Pfarrer und eine evangelische Theologin haben in ihrem neuen Buch versucht, die geistige Entwicklung der Menschheit in einem System darzustellen. Neben der Schilderung gesellschaftlicher Entwicklungen liegt ihr Schwerpunkt dabei auf den Veränderungen des Gottesbildes. Ganz im Sinne ihrer „Simplify“-Erfolgsstrategie geht es in diesem Buch um das Motto „Simplify your faith“.Es ist Allgemeinwissen, dass Gottesbilder sich im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung verändern: Ein kleines Kind betet anders als ein alter Mensch. Die Autoren glauben, dass der Schlüssel zum Verständnis unterschiedlicher Gottesbilder im Bewusstseinszustand des jeweiligen Menschen zu finden ist. Alle drei Autoren beschäftigen sich nach eigenen Angaben seit über 20 Jahren mit den neun verschiedenen Charaktertypen des Enneagramms. Dabei hätten sie erstaunt festgestellt, dass mehrere Personen trotz des eindeutig gleichen Enneagrammtyps deutliche Unterschiede in ihren Reifegraden und Gottesbildern aufweisen würden. Unter Einbeziehung von ebenfalls neun Bewusstseinsstufen konnten sie für sich das Rätsel lösen. Die neun „vertikalen“ Stufen, die im vorliegenden Buch beschrieben werden, verstehen sie als eine ideale Ergänzung zu den neun „horizontalen“ Typmustern des Enneagramms. Das Stufenmodell haben die Autoren von zwei Amerikanern, einem Psychologen (Clare Graves, 1914-1986) und einem Philosophen (Ken Wilber, geb. 1949) übernommen. Zwar werden diese Einsichten transpersonaler oder integraler Psychologie von Vertretern esoterischer Lebenshilfe intensiv aufgegriffen, sie spielen aber in der akademischen Psychologie keine Rolle. Mit der Wahl eines solchen Modells ist also eine wichtige Vorentscheidung getroffen worden. Das Modell geht beispielsweise von der Behauptung aus, dass ein Mensch nach seiner Geburt die Evolutionsgeschichte des Bewusstseins durchläuft. Während die warmen Farben der ersten Bewusstseinsstufen (beige, rot, orange und gelb) die Erweiterung des Ichs symbolisierten, stünden auf den höheren Stufen mit den kühleren Farben (purpur, blau, grün und türkis) die Gemeinschaft und das Wir im Mittelpunkt. Warum das so sein soll, wird nicht erläutert.Das Buch ist sehr verständlich geschrieben und kommt spielerisch daher. Die vielen Fallbeispiele stammen direkt aus dem Alltag, und natürlich dürfen auch illustrierende Zeichnungen des Erfolgs-Cartoonisten nicht fehlen. Zur besseren Unterscheidung sind die neun Stufen auch mit charakteristischen Farben verbunden – Bewusstseinsstufe 3.0 entspricht rot, 4.0 blau oder 6.0 grün. Bevor die einzelnen Stufen erklärt werden, wird dem Leser ein kleiner Selbsttest angeboten, um herauszufinden, auf welcher Stufe der Leser momentan schwerpunktmäßig lebt.Den Hauptteil des Buches macht die Beschreibung der neun Wahrnehmungsstufen Gottes aus. Auf jeder Stufe werden einzeln die Kategorien Mensch, Gesellschaft, Gott, Jesus und Glaube untersucht. Während der roten Phase (Gott 3.0) werde Jahwe als Kriegsgott wie im Alten Testament wahrgenommen. Gott 4.0 (blau) stelle Gott als unseren Vater vor. Die orange Phase (Gott 5.0) sei mit der Aufklärung und der Reformation verbunden, während Gott 6.0 (grün) die Verbundenheit mit allem betone und Gott in allen Religionen finden lasse (Ende der Mission und interreligiöser Dialog). Gott 7.0 (gelb) meine Zusammenschau, Vernetzung und Nondualität, die Paradoxien aushalte. Die Stufen 8.0 und 9.0 schließlich sind als Postulate und Zukunftsmusik formuliert – hier gehe es um Allverbundenheit und „Gott als unser Werdenkönnen“.Im letzten Teil des Buches werden weitere Konzepte der integralen Weltsicht Ken Wilbers dargestellt und mit Zitaten christlicher Mystiker und der Bibel verbunden. Zusätzlich zu den neun Stufen des Bewusstseins werden hier noch vier verschiedene Versenkungsgrade der Meditation unterschieden (grobstofflich – Naturmystik, feinstofflich – Gottesmystik, bilderlos – formlose Mystik, nondual – Einheitsmystik). Auch zwei weitere Konzepte Wilbers, die Prä-/Trans-Verwechselung sowie die drei Gesichter Gottes werden an eine christliche Sichtweise angepasst.Die Autoren möchten der Kirche wichtige Impulse geben. Sie betonen, dass die Kernbotschaft Jesu Wandlung beinhalte. Deshalb müsse man sich immer wieder von festgefahrenen Überzeugungen trennen. Nach ihrer Einschätzung sollten sich kirchliche Strukturen und Angebote ändern. Während die Theologie schon in höheren Ebenen bis auf die orangene Stufe (Gott 5.0) vorgedrungen sei, „bleibt das spirituelle Bewusstsein der meisten Christen, die noch in den Gemeinden ausharren, blau geprägt ... Blaue Gottesdienste sind leer, weil nur noch sehr wenige Menschen ein blaues Gottesbild haben. Sie bräuchten dringend Gesprächspartner und Gottesdienstformen, die ihren Bewusstseinsstufen orange oder grün entsprechen“. Konkret werden der traditionelle Sonntagsgottesdienst und theistische Gottesvorstellungen als veraltert kritisiert.Das Buch zeigt, wie irreführend das spekulative System der integralen Weltsicht Ken Wilbers mit christlicher Mystik verbunden werden kann. Die zahlreichen Bibelzitate erwecken den Eindruck, dass hier Hilfen für den persönlichen Glaubensweg angeboten werden. Die Gefahr ist jedoch groß, auf dem empfohlenen Weg nicht den Vater Jesu Christi, sondern nur das eigene Bewusstsein besser kennenzulernen. Dabei ist dem Grundanliegen der Autoren völlig zuzustimmen. Die Gottesbeziehung verändert sich im Laufe des Lebens und benötigt jeweils passende Kommunikationsformen. Zwei grundsätzliche Fehler, ein psychologischer und ein theologischer, tragen aber zum fatalen Irrweg der Autoren bei. Aus psychologischer Sicht ist es bedauerlich, dass ein Modell von zwei abseitigen Theoretikern gewählt wurde. Viel ertragreicher wäre es gewesen, die Einsichten der psychoanalytischen Bindungsforschung auf die Gottesbeziehung zu übertragen. In den letzten Jahren hat die Bindungsforschung empirisch gestützte Einsichten über die Bedeutung verinnerlichter Bilder und Gefühle hervorgebracht. Im amerikanischen Sprachraum sind diese Ergebnisse auch schon religionspsychologisch ausgewertet worden und haben zu spannenden ersten Ergebnissen geführt, wie die Gottesbeziehung besser verstanden und vertieft werden kann. Durch die Wahl des spekulativen Systems Wilbers sind die Autoren leider auf Abwege geraten.Aus biblisch-theologischer Sicht ist christliche Mystik in ihrem Kern Begegnungsmystik mit dem auferstandenen Christus, aber keine Selbstmystik. Wilbers Wachstumsmodell vergötzt das Bewusstsein und trägt zu einer Sakralisierung seelischer Zustände bei. Eine Liebesbeziehung ist aber nicht an Bewusstseinszustände gebunden! Die Autoren haben das personale Gottesbild als dogmatisch und veraltet aufgegeben und streben nach höherer Erkenntnis. Ihr gnostisierendes Bemühen hat zu einem Buch geführt, das vielleicht an einigen Punkten der Selbsterkenntnis dienen kann, nicht aber den biblischen Gott bekannter und vertrauter macht.


Michael Utsch