Christoffer H. Grundmann

Glaubens-, Geist- und Wunderheilung

Eine Orientierung

Immer mal wieder erregt das Thema der Glaubens-, Geist- und Wunderheilung die Gemüter. Besonders in einer durch Materialismus und Rationalismus bestimmten Kultur werden Heilungen, die sich nicht gemäß dem gängigen Erklärungsmodell ereignen, mit ungläubiger Skepsis betrachtet, als interessante Kuriosität behandelt oder aber als geistgewirktes Wunder proklamiert. Was dem rational geschulten Geist nicht einsichtig ist, wird oft als eingebildet und unmöglich diffamiert, während es für diejenigen, die Heilung auf eine ihnen unerklärliche Weise erlebt haben, untrügliche Gewissheit ist, dass es mehr gibt als das, was mit Verstand und Laborwerten erklärt werden kann. Vor allem seit dem Aufkommen des Wissenschaftsmonismus und dem Siegeszug der rational begründeten naturwissenschaftlichen Medizin Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine Zunahme polemischer Konfrontation zwischen den verschiedenen Lagern festzustellen.

So kam, um nur an einige bekanntere Ereignisse zu erinnern, Pfarrer Johann Christoph Blumhardt (1805 – 1880) durch sein Heilungswirken in Möttlingen und Bad Boll im Europa des 19. Jahrhunderts zu ungewolltem Ruhm,1 während seit Anfang des 20. Jahrhunderts heilungssuchende Kranke aus aller Welt in das südfranzösische Lourdes pilgern bzw. zu einer der Filialgründungen auf anderen Kontinenten.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg machten Heiler der pfingstlerisch beeinflussten nordamerikanischen Heilungsbewegung mit Großveranstaltungen auch in Deutschland auf sich aufmerksam,3 gefolgt von philippinischen Geistheilern, die die sogenannte „Geist-Chirurgie“ ausübten,4 eine Behandlungsart, die heutzutage auch von dem z. Zt. im Rampenlicht stehenden Brasilianer Joao de Deus/John of God5 sowie von der Russin (Prof. Dr.) Tatjana Lackmann in Südwestdeutschland und der Schweiz ausgeübt wird, von dieser allerdings unter dem geschützten Namen „Paranormale Chirurgie“6.

Überhaupt erlebt geistiges Heilen augenblicklich eine bemerkenswerte Renaissance, wie eine Suche im Internet rasch belehrt. Da gibt es eine verwirrende Fülle von Literatur und Interessengemeinschaften wie z. B., um nur einige wenige, zufällig ausgewählte deutschsprachige Organisationen zu nennen, den „Dachverband Geistiges Heilen e. V.“, den „Arbeitskreis Radionik und Schwingungsmedizin e. V.“ und die „Schule der Geistheilung nach Horst Krohne“. Letztere gibt neben anderen Publikationen die Zeitschrift „Heilspiegel“ heraus, bietet urheberrechtlich geschützte Engel-Symbole sowie Ausbildungsseminare für geistiges Heilen an und organisiert internationale Kongresse zum Thema. All das hat Wurzeln in der New-Age-Bewegung der 1970er Jahre7 bzw. in der früheren, „Neues Denken“ genannten Bewegung (New Thought Movement) am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, die u. a. auch für das Entstehen der von Mary Baker Eddy (1821 – 1910) begründeten Christlichen Wissenschaft (Christian Science) mit der Betonung geistigen Heilens entscheidend gewesen war.8

Da Konflikt und Polemik also nicht neu sind, soll die folgende Darstellung der grundsätzlichen, im christlichen Glauben evangelischer Prägung verwurzelten Orientierung dienen, wie derartige Phänomene zu verstehen sind und wie mit ihnen umzugehen ist. Dabei wird zunächst eine Verständigung über die verwendete Begrifflichkeit angestrebt, gefolgt von einer formalen wie inhaltlichen Analyse einiger Heilungsberichte. Danach wird am Beispiel von Lourdes gezeigt, wie mit Wunderheilungen sachlich umzugehen ist, bevor abschließend einige grundsätzliche Aspekte der Thematik erörtert und praktische Hinweise für Gespräche über Glaubens-, Geist- und Wunderheilungen gegeben werden.

Begriffliche Klärungen

Obwohl die Begriffe Geist-, Glaubens- und Wunderheilung keine präzise zu bestimmenden Fachausdrücke sind, ist es im vorliegenden Zusammenhang hilfreich, sich über sie zu verständigen; denn bei genauerem Hinsehen werden markante Unterschiede erkennbar, die im allgemeinen, umgangssprachlichen Gebrauch der Begriffe kaum zu Bewusstsein kommen.

Wenn z. B. von Geistheilung gesprochen wird, dann steht der Aspekt des Mediums, durch das Heilung erfolgt bzw. erwartet wird, im Vordergrund. Nicht durch die Gabe von Medikamenten oder durch medizinische Behandlung, sondern durch ein nichtmaterielles Agens, Geist genannt, wird geheilt, und dies oft mittels der als Kanalisierung des Geistes verstandenen Handauflegung. Manchmal wird der „Geist“ mit konkreten Namen machtvoller Wesenheiten aus dem Kulturkreis der Heilungssuchenden verbunden, manchmal wird, und dies nicht nur in christlichen Kreisen, der Geist als „Geist Gottes“ bzw. als „Heiliger Geist“ bezeichnet, während in modernen, säkularen, westlichen Traditionen eher allgemein von „Geist“ gesprochen wird bzw. vom Geist als „Energie“, die man dann als „feinstoffliche Energie“ erklärt, worin letztlich, wie auch bei der Handauflegung, ein materialistisches Verständnis von Geist zum Ausdruck kommt.

Anders verhält es sich, wenn von Glaubensheilung gesprochen wird; denn dieser Begriff betont einerseits den Aspekt des unbedingten, persönlichen Vertrauens in das, was in Aussicht gestellt und zugesagt wird. Rückhaltloses Vertrauen in den Heiler bzw. die Heilerin, in deren Behandlungsweise und die verordneten Medizinen ist für den Heilerfolg ausschlaggebend und von den meisten Menschen nach wie vor auch in der heutigen Welt gefordert, vor allem von denjenigen, die keinen Zugang zum etablierten Gesundheitssystem haben.9 Der Heilerfolg ist von der ungeteilten Erwartung der Heilungssuchenden abhängig. Ihr totales, rückhaltloses Sich-Einlassen auf das, was ihnen in Aussicht gestellt ist, bestimmt das Geschehen. Bleibt wider alle Erwartung Heilung aus, dann ist die vornehmliche Ursache dafür im „Kleinglauben“ der Kranken bzw. in deren „Unreinheit“ zu suchen, da sie wahrscheinlich nicht alles geschildert haben, was ihnen Beschwerden macht, oder aber in ihrer Verzweiflung insgeheim auch noch anderswo nach Hilfe Ausschau gehalten haben. Nicht von ungefähr wird in vielen Glaubensheilungszentren weiße Kleidung getragen; das hat nichts mit klinischer Hygiene zu tun, sondern dient zur Veranschaulichung innerlicher Reinheit.10

Andererseits kam nicht zufällig die Rede von „Glaubensheilung“ bzw. von „faith healing“ nachweislich erst im Zusammenhang mit der im Juni 1885 in London veranstalteten Internationalen Konferenz über göttliche Heilung und wahre Heiligung auf (International Conference on Divine Healing and True Holiness)11; zu einem Zeitpunkt also, als die rational-naturwissenschaftliche Welterklärung als einzig akzeptable Grundlage der Heilkunst mit religiösem Ethos proklamiert wurde, sprachen doch frühe Vertreter dieser Richtung vom „Tempel der Wissenschaft“, in dem sich die Forscher als „Priester“ und „Gläubige“ versammeln, um die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse als „Offenbarung der Wahrheit“ zu feiern. Ausdrücklich bekannte 1865 einer ihrer profiliertesten Repräsentanten, Rudolf Virchow (1821 – 1902): „Ich scheue mich nicht zu sagen, es ist die Wissenschaft für uns Religion geworden.“12 Das reizte zum Widerspruch, der eben auch im Begriff der Glaubensheilung zum Ausdruck kam, zumal vielen verzweifelten Kranken eben nicht durch die neue Medizin, sondern durch Personen wie Blumhardt, Dorothea Trudel (1813 – 1862) und andere geholfen wurde.

Wiederum anders verhalten sich die Dinge, wenn von Wunderheilung gesprochen wird; denn dabei liegt die Betonung auf der Erklärung eines Geschehens, dessen Beobachtung den vertrauten Verstehensrahmen sprengt. Weil ein bestimmtes Ereignis mit den Mitteln bisheriger Welterklärung nicht begriffen werden kann, wird es als „Wunder“ deklariert. Als solches wird es allerdings nur so lange Bestand haben können, bis im Zuge wachsenden rationalen Weltverstehens die eigentliche Wirkursache erkannt ist, weshalb der Begriff des Wunders in den Naturwissenschaften keinen Platz hat. Es ist allemal wahrhaftiger, sich das Unverstandene ehrlicherweise als solches einzugestehen, als es religiös zu verbrämen. Allenfalls als Ausdruck überwältigenden Staunens angesichts zunehmender Erkenntnis der faktischen Komplexität – gegebenenfalls auch der Schönheit – des Lebendigen kann man als Wissenschaftler sinnvoll von Wunder sprechen.

Dennoch: Für alle, die einmal Befreiung aus einer für sie lebensbedrohlichen, aussichtslosen Lage erlebt haben, ohne dass sie dafür einsichtige Gründe nennen könnten, wird das wunderbar, wird das ein Wunder gewesen sein – mögen auch diejenigen, die ein solches Geschehen wie z. B. die Heilungsberichte von Lourdes von außen beurteilen, mancherlei Gründe dafür angeben können, warum das Erlebte kein Wunder ist, da es doch offenbar für alles eine natürliche Erklärung gibt.13

Was ist gemeint, wenn von Heilung gesprochen wird?

Alle drei genannten Begriffe akzentuieren je unterschiedlich das Phänomen der Heilung, das ein lebenserhaltendes Phänomen alles Lebendigen ist. Leben hätte keinen Bestand ohne die sich ständig vollziehende Korrektur von z. B. durch die UV-Strahlen des Sonnenlichts beschädigter Zellkernsäure (DNS/DNA). Geschieht dies nicht, zerfällt Leben. Ohne Heilung kein Leben. Dieser vitale Vorgang bleibt allerdings unbewusst. Heilung kommt als solche nur zu Bewusstsein, wenn Menschen erfahren, dass sie wieder zu Kräften kommen und zu neuer Lebensfreude finden. Menschen fühlen sich genesen, sobald sie das Bett verlassen und mit erneutem Appetit das Essen genießen können, wenn sie sich wieder in ihren sozialen Verband integrieren und ihrer Arbeit bzw. ihren Aufgaben wie gewohnt nachgehen können, selbst dann, wenn sie fortan mit gewissen krankheitsbedingten Einschränkungen zu leben haben. Unabhängig davon, ob ihre aktuellen Laborwerte der Norm entsprechen, fühlen sich Menschen in dem Grade gesund, in dem sie nicht durch körperliche Schwäche oder diffuse Ängste und Sorgen in ihrem Lebensvollzug beeinträchtigt sind, und das spiegelt sich auch im Sprachgebrauch; denn Heilung bezeichnet manchmal lediglich nichts anderes als ein „Sich-Besserfühlen“ oder „Akzeptanz des Unvermeidlichen“, manchmal ist mit Heilung „Aussöhnung“ im Sinne der Beilegung persönlicher Konflikte gemeint, manchmal aber auch „Gesundung“ oder gar „vollständige Genesung“; darüber hinaus bezeichnet das Wort den Genesungsprozess als solchen und auch sein Ergebnis. Wegen dieser Bedeutungsvielfalt ist stets darauf zu achten, was genau gemeint ist, wenn von Heilung gesprochen wird.

In der Medizin wird ja – außer bei der Wundbehandlung – die Rede von Heilung vermieden. Man weiß nur zu genau, dass Heilung als vollständige Wiederherstellung von Gesundheit, als restitutio ad integrum, selten zustande kommt und auch im besten Fall nur näherungsweise gelingt; es bilden sich Narben, es bleiben Immunitäten und Traumata zurück, Patienten werden arzneipflichtig und bedürfen oft weiterer medizinischer Betreuung oder haben mit diätetischen Einschränkungen zu leben. In der Alltagssprache jedoch wird solche Zurückhaltung nicht geübt. Im Gegenteil, die Bedeutung von Heilung wird derart ausgeweitet, dass „Heilung“ nichts Spezifisches mehr besagt, sondern gleichbedeutend geworden ist mit kurzzeitigem Sich-besser-Fühlen oder einer augenblicklichen Euphorie diffuser Art. Kurz: In der Umgangssprache wird der Begriff der Heilung ganz nach Belieben gefüllt. So ist es z. B. heutzutage üblich geworden, mit „Heilung“ einen innerlichen Prozess der versöhnlichen Annahme einer kritischen Lebenssituation – oft im polemischen Gegenüber zum „nur“ körperlichen Kurieren und Therapieren – zu bezeichnen oder ein momentanes Sich-Wohlfühlen dank erfahrener Zuwendung. Solche Spiritualisierungen sind eine gängige, letztlich aber doch etwas hilflose und wenig hilfreiche Art, die Verlegenheit zu kaschieren, dass trotz aller ehrlichen Bemühungen um Heilung diese nicht wirklich eingetreten ist. Im Rahmen der christlichen Kirchen ist dieser Sprachgebrauch zudem deswegen bedenklich, weil er die konkrete Leibhaftigkeit des Heils, von der das Evangelium spricht, ignoriert. Alle Kranken, die Jesus heilte, wurden nämlich völlig gesund, und auch das Wirken der ersten Jünger war von konkreten, äußerlich wahrnehmbaren „Zeichen“ und nicht nur von positiven spirituellen inneren Erfahrungen des Heils begleitet.14 Bei allem Reden über Heilung im christlichen Raum ist daher deren leibhaftige Dimension nicht aus den Augen zu verlieren.15

Heilungszeugnisse

Heilungsberichte sind, wie angedeutet, zunächst einmal Schilderungen von Vitalerfahrungen unmittelbar Betroffener, die als persönliches Zeugnis zu achten sind. Das Gesagte hat seine Gültigkeit in dem, was als authentische persönliche Erfahrung mitgeteilt wird. Sprechen andere über Wunder- und Glaubensheilung, dann wird aus solchem Zeugnis ein anekdotischer Bericht, der der Kritik offensteht und unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Geheilte deuten freilich auch das von ihnen Erlebte im Zusammenhang ihrer Welt- und Lebensanschauung, aber ihre Deutung ist nicht bloß theoretischer Natur, sondern existenziell beglaubigt.

Einige solcher Zeugnisse aus verschiedenen Zeiten und Kulturen seien hier kurz vorgestellt. Die erste Heilungsgeschichte stammt aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. Sie steht auf einer in den Ruinen des Asklepiostempels von Epidaurus in Griechenland gefundenen Votivtafel und lautet: „Nicht länger mehr der Kunst der Sterblichen vertrauend setzte ich alle meine Hoffnung auf Göttliches. Ich verließ Athen ... und kam, Asklepios, in Deinen heiligen Hain und wurde von einer Kopfwunde geheilt, an der ich seit einem Jahr litt.“16

Gut zwei Jahrhunderte später berichtet der Evangelist Markus: „Da war eine Frau, die hatte den Blutfluss seit zwölf Jahren und hatte viel erlitten von vielen Ärzten und all ihr Gut dafür aufgewandt; und es hatte ihr nichts geholfen, sondern es war noch schlimmer mit ihr geworden. Als sie von Jesus hörte, kam sie in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand, denn sie sagte sich: Wenn ich nur seine Kleider berühren könnte, so würde ich gesund. Und sogleich versiegte die Quelle ihres Blutes, und sie spürte es an ihrem Leibe, dass sie von ihrer Plage geheilt war.“17

Eine dritte Heilungsgeschichte stammt aus dem Jahr 1928 von einem Schauspieler aus Stockholm: „Lange Jahre litt ich an einer Krankheit in meinen Füßen, die von quälenden Schmerzen begleitet war ... Die Spezialisten, die ich aufsuchte, waren nicht in der Lage, mir zu helfen und gaben mich als unheilbar auf ... Erst als die Lehren der Christlichen Wissenschaft (Christian Science) mir bekannt wurden, trat Heilung ein und dies mit erstaunlicher Geschwindigkeit … Seit drei Jahren habe ich nun allen meinen Engagements mit vollster Kraft und ohne auch nur die kleinste Schwierigkeit nachkommen können.“18

Schließlich ein Beispiel aus unseren Tagen aus einer der Hochburgen moderner Medizin, dem Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore, Maryland, USA. Es ist die Geschichte des kleinen Grayson Gilbert, der an einem seltenen Magenkrebs litt und nur eine geringe Überlebenschance hatte. Während des Klinikaufenthalts wurden die Eltern einer in der Kuppelhalle des Krankenhauses aufgestellten großen Statue gewahr, die Christus als Heiland und Tröster darstellt. Wie viele andere, so fingen auch Graysons Eltern bald an, all ihre Sorgen, Nöte und Hoffnungen während dieser Zeit auf Zettel zu schreiben, die sie jener Statue zu Füßen legten. Als Grayson nach Wochen intensiver Behandlung als „geheilt“ entlassen werden konnte – d. h. in diesem Zusammenhang, dass er, entgegen allen Erwartungen, „am Leben geblieben war“ –, sagten seine Eltern, dass der Glaube an Gott für diese „Heilung“ ebenso wichtig gewesen sei wie das Können der Ärzte.19

Obwohl diese Texte sich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrtausenden erstrecken, haben sie eine gemeinsame Struktur. Alle beschreiben zunächst eine verzweifelte Situation, betont durch den Hinweis auf die Ernsthaftigkeit der Erkrankung bzw. die Hilflosigkeit der Experten. Dann berichten alle davon, dass es für die Verzweifelnden noch eine letzte Hoffnung gegeben hat, sei es nun Asklepios, Jesus von Nazareth, die Christliche Wissenschaft oder das Johns-Hopkins-Krankenhaus. Des Weiteren wird in diesen Geschichten auch mitgeteilt, auf welchem Weg Heilung erlangt wurde, nämlich durch den Aufenthalt im Heiligtum, die Berührung des Gewandsaumes Jesu, die Lehre von Mary Baker Eddy bzw. das Können der Ärzte. Schließlich erwähnen sie alle die tatsächlich erfolgte Heilung als Bestätigung dessen, dass das Vertrauen der verzweifelt Hilfesuchenden nicht enttäuscht wurde.

Diese Struktur ist typisch für Heilungsberichte überall auf der Welt, genauso wie die Art und Weise, wie über Heilung gesprochen wird, nämlich generell und mit unspezifischen Allgemeinbegriffen (Wunde am Kopf, Blutfluss, Krankheit in den Füßen, „Heilung“ trotz beträchtlicher gesundheitlicher Einschränkungen). Das zeigt, dass diese Geschichten keine akkuraten Berichte sind, sondern eine existenzielle, elementare Lebenserfahrung mitteilen wollen, die Außenstehende nicht bestreiten können, selbst dann nicht, wenn ihrer Meinung nach eine offensichtliche Fehldeutung vorliegen sollte.

Vom sachlichen Umgang mit Wunderheilungen

Da Wunder bekanntlich „des Glaubens liebstes Kind“ sind, sollte es nicht überraschen, wenn von manchen überall Wunder gesehen werden. So wurden z. B. schon recht früh von Lourdes derartig viele „Wunder“ berichtet, dass man sich genötigt sah, der Flut dieser Berichte dadurch Einhalt zu gebieten, dass behauptete „Wunder“ seit 1905 in einem förmlichen Anerkennungsprozess vom dortigen Medizinischen Büro (Bureau des Constatations Médicales) geprüft werden müssen. Dieser Prozess besteht aus fünf Schritten: Zunächst ist das durch Krankenakten zu belegende Vorhandensein einer manifesten Krankheit (1) und deren erfolglose medizinische Behandlung nachzuweisen (2). Dann, dass nach dem Besuch von Lourdes (3) eine, ebenfalls von Ärzten zu attestierende, vollständige Genesung eingetreten ist (4) und dass es keinen Rückfall gegeben hat (5). Erst wenn alle diese Kriterien erfüllt sind, wird besagter Bericht einem 20-köpfigen internationalen Komitee von Ärzten zur Begutachtung vorgelegt, das dann mit Zweidrittelmehrheit darüber entscheidet, ob ein bestimmter Fall als „nach heutiger Kenntnis unerklärlich“ anzusehen ist oder nicht.

Trotz dieser rigorosen Prüfung wollen, wie zu erwarten, manche „aufgeklärten“ Kritiker keinen der so dokumentierten Fälle anerkennen. Sie führen zur Begründung ihrer Ablehnung Fehldiagnosen, Behandlungsfehler, falsche Prognosen und natürlich auch religiöse Voreingenommenheit an.20 Doch derlei Neutralität und Rationalität für sich in Anspruch nehmende Vorwürfe helfen bei der Verständigung nicht, sondern belegen nur eine Voreingenommenheit anderer Art; denn das, was Wissenschaft zur Wissenschaft macht, ist nicht fiktive Neutralität oder Unparteilichkeit21, sondern Offenlegung der angewandten Methode, sachlicher Bericht über das, was gefunden wurde, kritische Bewertung der gewonnenen Erkenntnisse. Das Komitee in Lourdes hält sich an diese Grundsätze, wenn es eine Heilung als „unerklärlich“, nicht aber als „Wunder“ deklariert.22

Unerklärliche, spontane Heilungen von Krankheiten, auch solchen, die als „unheilbar“ eingestuft werden, ereignen sich selbstverständlich auch in Arztpraxen und Kliniken – auch heutzutage. Es liegen entsprechende Dokumentationen über die Heilung von Tumoren verschiedenster Art vor, von Leukämie, von der Hodgkinschen Krankheit, von Multipler Sklerose und vielen anderen Krankheiten.23 Diese sogenannten Spontanheilungen sind Hinweise auf die nur unzureichend verstandene tatsächliche Komplexität von Erkrankungen und Genesung. Sie spornen den wissenschaftlichen Geist dazu an, weiter zu forschen, um das Unverstandene besser zu begreifen, anstatt weitere derartige Anstrengungen durch die Etikettierung eines solchen Ereignisses als „Wunder“ zu unterbinden.

Ganz in diesem Sinne riet bereits im 16. Jahrhundert der „Lutherus der Medizin“, Paracelsus (1493 – 1541) seinen ärztlichen Kollegen: „Gott ist der, der da geboten hat, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, und Gott lieben vor allen Dingen. Willst du nun Gott lieben, so musst du auch sein Werk lieben; willst du deinen Nächsten lieben, so musst du nit sagen: dir ist nit zu helfen. Sondern du musst sagen: ich kann es nit und versteh es nit ... Also merke: dass weiter gesucht werden muss, so lange, bis die Kunst, aus welcher die rechten Werke gehen, gefunden wird. Denn wenn Christus sagt: perscrutamini scripturas, das ist: durchforschet die Schriften, warum wollt ihr nicht auch hiervon sagen: perscrutamini naturas rerum [Durchforschet die Dinge der Natur]?“24 Genau das ist es, was von Naturwissenschaftlern erwartet wird.

Zur grundsätzlichen Problematik von Glaubens-, Geist- und Wunderheilung

Das Grundproblem des polemischen Für und Wider in Bezug auf Glaubens-, Geist- und Wunderheilung besteht zunächst einmal in der Reduktion der Argumentation auf die simple Entweder-Oder-Alternative: Entweder gibt es Geist- und Wunderheilung oder nicht. Dieses populäre Denken entstellt und verzerrt den Sachverhalt aber wesentlich; denn beide Positionen haben ihre Gültigkeit und Berechtigung im Rahmen je eigener Deutungsschemata: Ein persönlich authentisiertes, existenzielles Zeugnis ist ein individuelles Bekenntnis, während eine kritische Reflexion um das Verstehen des Geschehens im Rahmen der allgemeinen Plausibilitätsstruktur bemüht ist. Die Frage nach dem Für oder Wider von Glaubens-, Geist- und Wunderheilungen suggeriert nun aber eine Vergleichbarkeit der Äußerungen, ohne die verschiedenen Bezugsrahmen, innerhalb derer die Aussagen gemacht wurden, zu berücksichtigen. Damit entpuppt sich die Frage als Scheinalternative, auf die man sich nicht einlassen sollte, wenn man unnötige Polemik oder Gespött vermeiden will.

Diese Scheinalternative verführt auch dazu, das breite Spektrum und die Vielfalt therapeutischen Handelns verfälschend einzuengen. Viele Missbefindlichkeiten heilen ja von selbst,25 und oftmals gibt es nicht nur eine einzige Methode, wie eine Krankheit zu behandeln ist; an anderen Orten hat sich anderes bewährt. Auch verlangen verschiedene Krankheiten verschiedene Therapien: Manche können medikamentös behandelt werden, andere erfordern eine Operation oder eine Umstellung der Ess- und Lebensgewohnheiten, wieder andere lassen sich nur durch intensive Physiotherapie in den Griff bekommen, während es auch solche Krankheiten gibt, die durch schädliche Umwelteinflüsse, belastende Arbeitsbedingungen oder unerträgliche soziale, politische und ökonomische Verhältnisse verursacht werden.

Diese hier nur angedeutete Fülle heilkundlicher Interventionen wird durch die erwähnte Entweder-Oder-Alternative ausgeblendet; denn alle diese Therapien wirken in der einen oder anderen Weise, ob in der jeweils erwünschten, das ist eine andere Frage. Lässt man sich aber auf die Alternative ein, dann wird man dieser faktischen Komplexität nicht gerecht und verfällt einem ideologischen Reduktionismus, der nicht zu sehen vermag, dass z. B. die rational begründete naturwissenschaftliche Medizin den naiven Monismus ihrer Frühzeit längst hinter sich gelassen hat. Nicht nur kann heute ein allgemeines Bewusstsein für psychogene Krankheiten und psychosomatische Medizin vorausgesetzt werden, sondern es gibt heutzutage vonseiten der Medizin auch eine Bewegung auf Religion und Glauben zu, da man das gesundheitsförderliche Potenzial religiöser Lebenspraxis erkannt hat und dieses zur Senkung der Gesundheitskosten einer immer älter werdenden Gesellschaft entsprechend nutzen will.26 Zwar geht es dabei nicht primär um Heilung, aber dennoch ist diese Bewegung ein Hinweis darauf, dass die sich einst so unversöhnlich gegenüberstehenden Lager von kritischer Wissenschaft und vertrauendem Glauben sich aufeinander zubewegen. Die Grenzen fangen an, sich zu verschieben, und das sollte sich auch auf das Gespräch über Glaubens-, Geist- und Wunderheilung auswirken.

Doch leider lässt manchmal die Polemik gegen die „Schulmedizin“ vonseiten spiritueller Heiler und ihrer Jüngerschar nichts von diesem gewandelten Bewusstsein erkennen. Das hat nicht zuletzt mit kalkulierten Geschäftsinteressen zu tun, mag aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass, weil Geistheiler für viele Verzweifelte die letzte Hoffnung sind, deren nüchterne, kritische Urteilsfähigkeit von einer verzweifelt hoffenden Erwartung überlagert und gleichsam betäubt wird. Doch sollte man sich stets dessen bewusst sein, dass es keine Arznei (Panacea) gibt, die alle Krankheiten heilt, und keine Kur für alle Gebrechen. Gefordert ist ein pragmatischer Umgang mit dem heilkundlichen Methodenpluralismus, der die verschiedensten Heilbemühungen danach beurteilt, ob sie ihrem Anspruch tatsächlich gerecht werden oder nicht. Solcher Pragmatismus befreit zu echter Sachlichkeit im Gespräch über Glaubens-, Geist- und Wunderheilung.

Diese Sachlichkeit ermöglicht es schließlich auch, sich zwischen den verschiedenen Lagern über die Grenzen aller Heilbemühungen zu verständigen; denn alle Heilung ist immer nur vorläufig. Letztlich kann auch die heroischste medizinische Intervention Sterben und Tod genauso wenig verhindern wie die spektakulärste Wunderheilung. Diese Begrenzung kann resignierend hingenommen, sie kann aber auch als der wahrhaft menschliche Horizont allen heilenden Handelns bejaht werden, weist sie doch nicht nur die Hochleistungsmedizin unserer Tage in die Schranken, sondern auch alle haltlosen, utopischen Versprechungen von Geist-, Glaubens- und Wunderheilern, da alle Heilkundigen, ob Herzchirurg oder Gebetsheiler, in ihrem Tun darauf angewiesen sind, dass sich das vital geschädigte Leben wieder selbst stabilisiert. Ihr Heilerfolg ist entscheidend von der vitalen Regenerationsfähigkeit des Lebens abhängig. Diese Abhängigkeit, die selbst die rational begründete naturwissenschaftliche Medizin nur verschleiern, nicht aber eliminieren kann, begründet den religiösen Charakter aller Heilung und erklärt überhaupt das Phänomen der Existenz von Geist-, Glaubens- und Wunderheilern.

Zum Schluss

Glaubens-, Geist- und Wunderheilungen zu bestreiten, ist müßig, da diese Phänomene viel zu gut belegt sind, als dass man sie in Abrede stellen könnte. Stattdessen ist grundsätzlich nach der Rolle zu fragen, die Glaube in Heilungsprozessen spielt, gehen doch Patienten stets ein Risiko ein, wann immer sie sich einer Heilbehandlung unterziehen, egal ob sie dabei der Kompetenz von Ärzten vertrauen, einer neuen Therapie, einem Wundermittel, dem Ruf einer charismatischen Heilerin, der Handauflegung, der Fürbitte oder dem Wunder. Nie kann Heilung garantiert werden. Sich trotz dieser Unwägbarkeit in Behandlung zu begeben, geschieht also auf Hoffnung hin. Dabei macht es einen großen Unterschied aus, worauf sich eine solche Hoffnung gründet, auf leichtfertiges Vertrauen in die Versprechungen von Heilern und Medizinern, von Arzneien und Therapien oder auf die existenzielle Gewissheit, dass es einen letzten, tragenden Grund allen Lebens gibt. Denn während Wunschdenken – auch frommes – spätestens dann zerbricht und in Verzweiflung stürzt, wenn Heilung trotz aller Bemühungen und Aufwendungen ausbleibt, wird diejenige Hoffnung, die Gewissheit eines letzten, tragenden Grundes hat, selbst dann nicht verzweifeln, wenn keine Heilung eintritt, da sie, weil in jenem Grunde geborgen, alles, wirklich alles anzunehmen vermag, was auch immer geschieht.


Christoffer H. Grundmann


Anmerkungen

  1. Siehe dazu Dieter Ising, Johann Christoph Blumhardt. Leben und Werk, Göttingen 2002, 131-291.
  2. Zu Lourdes: Andreas J. Kotulla, „Nach Lourdes!“ Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich (1871 – 1914), München 2006.
  3. Siehe z. B. Wolfgang Metzger, Problematische Glaubensheilungen, in: Wolfgang Erk/Martin Scheel (Hg.), Ärztlicher Dienst weltweit, Stuttgart 1974, 251-259.
  4. Siehe z. B. Gert Chesi, Geistheiler auf den Philippinen, Wörgel 1981; Hans Naegeli-Osjord, Die Logurgie in den Philippinen. Heilung durch magische (parachirurgische) Eingriffe, Remagen 1982.
  5. Siehe z. B. die DVD „Healing. Wunder, Mysterien und John of God“, 2010; Josie Raven Wing, Das Buch der Wunder. Die Heilungsarbeit von Joao de Deus, Peiting 2005; siehe auch die entsprechenden Internetseiten.
  6. Eine Selbstdarstellung findet sich unter www.institutlackmann.com.
  7. Vgl. dazu Werner H. Ritter/Bernhard Wolf (Hg.), Heilung – Energie – Geist. Heilung zwischen Wissenschaft, Religion und Geschäft, Göttingen 2005; zum Thema New Age und Heilung siehe Caroline König, Entstehung und Entwicklung des New Age, Norderstedt 2011, bes. 39-49.
  8. Ein Überblick mitsamt Literaturangaben dazu gibt christliche-wissenschaft.de.
  9. Vgl. dazu z. B. Wolfgang Schievenhövel u. a. (Hg.), Traditionelle Heilkundige, ärztliche Persönlichkeiten im Vergleich der Kulturen und medizinischen Systeme – Traditional Healers, Iatric Personalities in Different Cultures and Medical Systems, Braunschweig 1986. Um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie viele Menschen weltweit Zugang zu medizinischen Diensten und Einrichtungen haben, vergleiche man die Rubriken zur Gesundheitsversorgung in den internationalen Jahrbüchern.
  10. So z. B. in der Casa de Dom Inacio des Joao de Deus im brasilianischen Abadiania und im Orden Fiat Lux der Heilerin Uriella sowie auch in vielen zionistischen Heilungskirchen in Afrika.

  11. Siehe The Oxford English Dictionary, Oxford 1971, F-32 (Compact Edition, vol. 1, 952); Record of the International Conference on Divine Healing and True Holiness Held at the Agricultural Hall, London 1885, hg. von William Edwin Boardman, London 1885.
  12. So anlässlich der Eröffnung der Tagung der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Hannover 1865; siehe Amtlicher Bericht über die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Hannover 1865, in: Heinrich Schipperges, Entwicklung moderner Medizin. Probleme, Prognosen, Tendenzen, Stuttgart 21968, 35. Dort auch weitere Belege (34-38).
  13. Siehe z. B. Franz L. Schleyer, Die Heilungen von Lourdes. Eine kritische Untersuchung, Bonn 1949.
  14. Siehe Mk 16,20.
  15. In Deutschland hat der an den Rollstuhl gebundene Theologe Ulrich Bach immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen. Siehe z. B. unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen den Beitrag „Wie predige ich Heilungsgeschichten?“ in: Deutsches Pfarrerblatt 97/6 (1997), 294-296.
  16. Zitiert in eigener Übersetzung nach James Longrigg, Greek Medicine. From the Heroic to the Hellenistic Age. A Source Book, New York 1998, 13.
  17. Mk 5,25-29.
  18. Übersetzt nach dem Text in „A Century of Christian Science Healing“, Boston 1966, 89-90.
  19. Siehe Randi Henderson/Richard Marek (Hg.), Here is my Hope: Inspirational Stories from the Johns Hopkins Hospital, New York 2001, 32.
  20. Louis Rose, Faith Healing, London 1968.
  21. Darauf wies schon Werner Heisenberg hin in seinem Buch „Physikalische Prinzipien der Quantentheorie“, Leipzig 1930.
  22. Von den etwa 7000 aus Lourdes berichteten Wunderheilungen sind bis heute lediglich 69 als „unerklärlich“ anerkannt.
  23. Belege dazu in Hugh Trowell, Study Notes on Faith Healing. Secular and Religious Faith Healing, Fringe Medicine, Miracles of Healing, London 1969, 28-31; Tilden C. Everson/Warren H. Cole, Spontaneous Regression of Cancer, Philadelphia 1966; Rose J. Papac, Spontaneous Regression of Cancer, in: Cancer Treatment Reviews 22 (1996), 395-423; und erst kürzlich ein Bericht aus Köln von Alberto Lopez-Pastorini u. a., Spontaneous Regression of Non-Small Cell Lung Cancer after Biopsy of a Mediastinal Lymph Node Metastasis: A Case Report, in: Journal of Medical Case Reports, 17.9.2015, 217.
  24. Paracelsus, Sieben Defensiones, in: Theophrastus Paracelsus Werke, Bd. II, Medizinische Schriften, besorgt v. Will-Peuckert, Darmstadt 1965, 502.
  25. Siehe dazu das aufschlussreiche Buch von Eugen Bleuler, Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, Berlin/Heidelberg 1985 (Neudruck der 5. Aufl.).
  26. Siehe Harold G. Koenig, Medicine, Religion, and Health. Where Science and Spirituality Meet, West Conshohocken 2008.