Johannes Kandel

Gehört der Islam (geschichtlich) zu Deutschland?

Neuigkeiten vom Islamdiskurs

Das alte Lied: Aufstellung und Frontmarkierung

Der Islam-Diskurs in Deutschland ist um eine weitere Arabeske „reicher“. Der neue Innenminister hatte sich abweichend von der Meinung des Bundespräsidenten geäußert, und schon positionierte sich das polarisierte Feld der Befürworter und Gegner. Für FAZ-Feuilletonchef Patrick Bahners, der gegenwärtig mit seiner „Streitschrift“ gegen die „Islamkritiker“ zu Felde zieht, dürfte die Äußerung von Hans-Peter Friedrich ein weiterer Beweis für die vermeintlich islamophobe Grundstimmung in diesem Land gewesen sein. Die Gründerin der „Liberalen Muslime“, Lamya Kaddor, sprach von einer „Ohrfeige“ für die Muslime. Empört waren auch, wie nicht anders zu erwarten war, führende Häupter einiger Islamverbände und muslimische Teilnehmer der „Deutschen Islamkonferenz“. Axel Ayyub Köhler vom „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ forderte dazu auf, die „kulturellen und geschichtlichen Leistungen der Muslime“ nicht abzuwerten. Eine „Aktualisierung des Geschichtsbildes“ sei notwendig. Der türkisch-deutsche Verbandslobbyist Kenan Kolat, Chef der Türkischen Gemeinde in Deutschland, gab – gewissermaßen stellvertretend für alle Türken – seine Enttäuschung kund und drohte dem Minister mit Zoff. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Aydan Özoguz äußerte sich „entsetzt“ über den Minister und forderte die Muslime zum Boykott der Deutschen Islamkonferenz auf, die Friedrich erstmals geleitet hatte. Auf der anderen Seite des Diskurs-Grabens freuten sich einige „Islamkritiker“ und auch solche, die von Religion gar nichts halten, wie z. B. Mina Ahadi (Zentralrat der Ex-Muslime). In den Kirchen war das Echo – auch das ein vertrautes Reiz-Reaktions-Schema – gemischt. Einige Vertreter der evangelischen Kirche distanzierten sich von Friedrich. Andere – meist konservative – Theologen dagegen sekundierten dem Minister. Auch CDU-Fraktionschef Volker Kauder fand die Bemerkung des Innenministers in Ordnung. Weitere Zwischenrufe und Anmerkungen zum Thema sind zu erwarten.

Identitätsfragen und Geschichte als Argument im politischen Diskurs

Nur wenige Diskutanten versuchten erst einmal klarzustellen, worum es in der Sache eigentlich ging. Matthias Matussek vom „Spiegel“ fragte nach: Was hat der Innenminister eigentlich gesagt? Friedrich hatte gesagt: „Dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich aus der Geschichte nicht belegen lässt.“1 Der Minister sprach die geschichtliche Dimension an. Er hatte nicht die Tatsache im Blick, dass 4,3 Millionen Muslime „realexistierend“ in Deutschland leben und mit ihnen natürlich die von ihnen mehr oder weniger intensiv praktizierte Religion, der Islam. Das ist unbestreitbar und wohl auch politischer Konsens. Das Wörtchen „gehören“ eröffnet einen anderen Bedeutungshorizont als die bloße Feststellung der Anwesenheit einer zahlenmäßig bedeutenden religiös-kulturellen Minderheit. Bildungsministerin Annette Schavan verdeutlichte dies, indem sie darauf verwies, dass der Islam „Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ sei; gleichwohl sei „gesellschaftliche Wirklichkeit etwas anderes als die Frage nach Kultur prägenden Kräften“.2 Ulrich Greiner hat in seinen semantischen Betrachtungen zum Wort „gehören“ auf den „Bedeutungsreichtum“ des Wortes aufmerksam gemacht, der seinen „diskursiven Reiz“ ausmache und daher zu „endlosem Streit“ tauge.3 Die Rede vom „Dazugehören“ hat mit Identitätsfragen zu tun und mit der Suche danach, woher wir Deutschen kamen, wie wir geworden sind, was uns geschichtlich geprägt hat und schließlich wie wir sein und miteinander leben wollen. Das ist eine wahrhaft elementare Frage, die nur als dauernde Aufgabe begriffen werden kann. Der französische Historiker Ernest Rénan hat die Nation einmal als „plébiscite de tous le jours“ (immerwährende, alltägliche Volksabstimmung) bezeichnet und damit sehr bildhaft die subjektiv-politische Komponente des Nationwerdens und Nationbleibens umschrieben.4Friedrich hat das „Nicht-Dazugehören“ des Islam auf historische Traditionsbestände Deutschlands bezogen und bei der Eröffnung der Deutschen Islamkonferenz im März 2011 noch einmal präzisiert: „Aber es bleibt dabei: Die Prägung des Landes und der Kultur aus vielen Jahrhunderten der Wertmaßstäbe ist christlich-abendländisch.“5 Die Frage, ob der Islam geschichtlich zu Deutschland gehöre, ist keineswegs irrelevant oder nur eine „umstrittene akademische Frage, die zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen der Gegenwart wenig beizutragen hat“, wie Richard Herzinger meinte.6 Die Geschichte der Deutschen ist ein zentrales Element ihrer gegenwärtigen Identität, wie z. B. die Ständige Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin zur politischen Geschichte Deutschlands eindrucksvoll zeigt.7 Ferner hat der Rekurs auf Geschichte eine lange Tradition in der politischen Streitkultur: Geschichte wird im politischen Meinungsstreit gern als Argument verwendet. Historische Quellen und Traditionen werden zum Zwecke der Untermauerung mehr oder weniger plausibler Behauptungen selektiv erschlossen, gedeutet und im Diskurs eingesetzt. Instrumentalisierungen und auch Manipulation historischer Stoffe sind im diesem Verfahren nicht ausgeschlossen. Geschichte als Argument ist Waffe im politischen Geisteskampf. So auch im Islamdiskurs. Nun ist der Minister kein Historiker und er hat seinen Satz auch nicht weiter erläutert. Wir wissen nicht, auf welche historischen Fakten er sich bezieht, die belegen könnten, warum der Islam geschichtlich nicht zu Deutschland gehören kann. Es ist gleichwohl politisch relevant, nach der Plausibilität historischer Argumentation zu fragen, denn die Argumentation mit vermeintlichen geschichtlichen „Fakten“ erfreut sich gerade bei Freunden und Feinden des Islam gleichermaßen größter Beliebtheit und wird im Diskurs sehr häufig mit apologetischen Attitüden vorgetragen.

Historisch-kulturelle Einflüsse des Islam auf Europa?

Für die erklärten Feinde „des Islam“ ist es ganz klar und eindeutig: Der Islam hat nicht nur keine geschichtlichen „Leistungen“ für Europa und insbesondere Deutschland erbracht, sondern sich stets als Feind Europas erwiesen. Von den ersten Eroberungen noch zu Mohammeds Lebzeiten bis zu den Türkenkriegen habe sich das „Wesen“ des Islam als gewalttätiges imperialistisches Monster gezeigt. Die Militanz sei aus dem Koran begründet und konsequent umgesetzt worden (z. B. „Kampfbefehle Allahs“ für den „Dschihad“).8 Bis heute ziehe sich die Blutspur des Islam, gleichsam von Sultan Mehmet II., dem Eroberer Konstantinopels (29. Mai 1453), bis zu Al-Qaida. Das ist ein sehr einfaches, verzerrtes Geschichtsbild und natürlich falsch.Falsch sind aber auch Behauptungen von muslimischer Seite über den angeblich exorbitanten Einfluss des Islam auf die europäische Kultur- und Geistesgeschichte. So erklärte z. B. eine Versammlung von Imamen in Österreich, dass der Islam „auch aus der Leistung seines großen wissenschaftlichen und kulturellen Erbes direkter Bestandteil der europäischen Identität“ sei.9 Wir finden solche und ähnliche Thesen immer wieder in apologetischen Abhandlungen, und sie werden auch im interreligiösen und interkulturellen Dialog immer wieder vorgetragen. Derartige Projektionen über den Beitrag des Islam für die europäische Kultur- und Geistesgeschichte sind vor allem politisch motiviert. Sie sollen die Legitimität muslimischer Existenz in Europa historisch untermauern. Die historische Rückblende soll Nichtmuslimen signalisieren: Wir Muslime haben in Europa nicht nur ein Lebensrecht als Zugewanderte oder hier Geborene, sondern wir gehören zum Erbe und zu den großen geistig-politischen Traditionen Europas, ja die europäische Kultur hätte sich ohne die Ankunft des Islam im Jahre 711 auf der Pyrenäenhalbinsel nicht so entwickeln können, wie sie heute ist.Das ist, obgleich politisch verständlich, nicht nur eine kühne These, sondern – milde formuliert – eine gewaltige Übertreibung. Auf Neigungen zu solchen Übertreibungen in apologetischer Absicht machte z. B. der französische Philosoph Rémi Brague treffend aufmerksam. Ich nenne ihn hier, weil solche Stimmen in unserem mitunter hysterischen Diskursklima bereits als „islamphob“ gelten, obwohl nur schlichte Fakten referiert werden. Brague bestreitet zu Recht die häufig formulierte populäre These, dass „das antike Erbe“ ohne den Islam für Europa nicht hätte bewahrt werden können.10 Es wird behauptet, dass bedeutende Werke antiken griechischen Wissens, insbesondere in Naturwissenschaften und Philosophie, im 9./10. Jahrhundert ins Arabische übersetzt und so vor dem Vergessen des lateinischen Westens bewahrt worden seien. Das ist nur zum Teil richtig, denn das antike Erbe in Europa wurde auch von der „Klostergelehrsamkeit“ (Jacob Burckhardt) des christlichen Mittelalters bewahrt, um später in Renaissance und Humanismus entfaltet zu werden. Renaissance und Humanismus konnten daran anknüpfen und gewiss auch an die vom Byzantinischen Reich bewahrte klassisch-griechische Kultur, die ein zentrales Element der Identität des Reiches war.11 Die italienische Renaissance profitierte von berühmten Griechischlehrern aus Byzanz, z. B. Manuel Chrysoloras (1353-1415). Und es sollte festgehalten werden, dass die bedeutendsten Übersetzer vom Griechischen ins Arabische nicht Muslime, sondern Christen waren, wobei die Leistung ostsyrisch-christlicher Gelehrter besonders herausragt. Ferner hatten zahlreiche berühmte arabisch-islamische Gelehrte christliche Lehrmeister.12 Der Islam verfuhr bei der Rezeption dieser Traditionen, anders als die lateinische Christenheit, erheblich selektiver. Damit sollen keineswegs die Übersetzungsleistungen der Werke großer griechischer Philosophen z. B. ins Arabische („Haus der Weisheit“ in Bagdad) geschmälert oder gar die herausragenden Werke muslimischer Wissenschaftler in Philologie, Philosophie (Al-Kindi, Al-Farabi, Avicenna, Averroes, Al-Ghazali, Ibn Tufail), Naturwissenschaften, Medizin (Ar-Razi, Haly Abbas, Al-Beruni, Az-Zahrawi), Astronomie, Architektur, Kunst und Literatur gering geschätzt werden.13 Gleichwohl gibt es keinen Grund zu triumphalistischen Attitüden und unredlichen Anmaßungen.Kulturelle Einflüsse und Wirkungen sind das eine. Nun hat es seit der Ausbreitung des Islam auf dem Wege territorialer Expansion, insbesondere nach der Eroberung der Iberischen Halbinsel im 8. Jahrhundert (durch Tariq b. Ziyad und Nachfolger), zwischen christlichem Abendland und islamischem Morgenland auch eine Fülle von politischen und gesellschaftlichen Kontakten gegeben. Es gab harte konfrontative Phasen wie die Zeit der Kreuzzüge (1099-1291) und der Türkenkriege im 16./17. Jahrhundert, in denen das Bild des Anderen häufig in verzerrt-dämonisierter Weise geprägt wurde.Martin Luther, der erst spät in seinem Leben (1542) eine Übersetzung des Korans las und als „schendlich, verzweifelt Buch“ verwarf, sah den Islam in Gestalt der „Türckengefahr“ als „Gottes rute und eine plage ... uber die sunde beide der Christen und unchristen odder falschen Christen“14, warnte aber davor, die Türken nur mit Waffengewalt bekämpfen zu wollen. Gleichwohl bejahte er den Verteidigungskrieg unter Leitung der legitimen Obrigkeit. Der Islam galt ihm als apokalyptischer Vorbote des Antichristen, den er im Papsttum verkörpert sah. Da der Islam die Gottessohnschaft Christi leugne, seine Macht in enger Verbindung von geistlichem und weltlichem Regiment durch Gewalt und Mord ausbreite, den Ehestand zerstöre (Polygamie) und einen „Werkglauben“ lehre, sei seine teuflische Herkunft belegt. Man müsse sich gegen den politisch-territorialen Machtanspruch der „Türcken“ wehren, gleichzeitig aber die falschen, widerchristlichen Lehren des Islam offenlegen und mit geistigen Waffen bekämpfen.15Doch trotz anhaltender Polemik und gewalttätigen Konfrontationen gab es, selbst in diesen Zeiten, auch Handel und Wandel, geglückte Begegnungen in fruchtbaren Dialogen (z. B. einige der großen mittelalterlichen Religionsdialoge16), diplomatischen Austausch (z. B. Karl der Große und Harun al-Raschid) und friedliche Koexistenz.17 In einer kurzen Phase muslimischer Herrschaft in Spanien unter Abdurrahman III. (912-961) und Al-Hakam (961-976) kam es gar zu einer Blüte friedlichen und toleranten Miteinanders. Aber auch hier muss ein „Caveat“ formuliert werden: „Al-Andalus“ (das muslimische Spanien) taugt keinesfalls, wie Detailstudien zeigen, zur Glorifizierung eines vermeintlichen goldenen Zeitalters des christlich-muslimischen Dialogs, der gegenseitigen Toleranz und „convivencia“. Hier ist seit der Aufklärung eine Mythenbildung im Gange, die bis heute von muslimischer Seite sorgsam gepflegt wird.18 Islamistengruppen betrachten ganz Spanien gar als „dar-al-Islam“ (Haus des Islam) und sehen sich legitimiert, die Wiedereroberung des durch die „Reconquista“ verloren gegangenen Territoriums zu betreiben.Wenn wir die Grundtatsachen und Umbrüche vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts in politischer Geschichte und Kulturgeschichte Deutschlands berücksichtigen, suchen wir „islamische“ Einflüsse und Prägungen vergebens. Der Islam konnte zu den großen Fragen des Jahrhunderts – soziale Frage, nationale Frage, Verfassungsfrage („Einheit und Freiheit“) – nichts beitragen. Und der Zustand der Kernländer des Islam war im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in kultureller, wissenschaftlicher und politischer Hinsicht höchst beklagenswert, was muslimische Beobachter scharf sahen und Reformen forderten (z. B. Mohammed Abduh und Rashid Rida).19So hinterließen Muslime bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nur sehr flüchtige Spuren in der Geschichte des sich zum Nationalstaat entwickelnden Deutschland: Erwähnenswert sind vielleicht eine Reihe von türkischen Kriegsgefangenen und muslimischen Soldaten in den Diensten des großen Preußenkönigs Friedrich II., von dem kolportiert wird, er habe gesagt, er wolle den Muslimen, so sie denn kämen, „Moscheen bauen“. Dies wird bis heute als Beleg der „Toleranz“ des Königs zitiert. Doch sowohl diese Aussage als auch sein noch berühmterer Satz, „jeder solle nach seiner Fasson selig werden“20, dokumentieren eher die kalkulierte Gleichgültigkeit des königlichen Religionsverächters, der die Religionen bestenfalls als moralische Anstalten in seinem Staat für nützlich hielt.

Orient-Romantik und Christentumskritik

Nach Ende der Türkenkriege und der Entfaltung der Aufklärung in Europa wandelte sich das Bild vom „Orient“ (der Begriff wurde im 12. Jahrhundert erstmalig verwendet) fundamental. Nun fungierte „der Orient“ als wunderbares Gegenbild zum „Westen“. Der „Orient“ wurde zum Symbol für das religiös und kulturell „Andere“, das Exotische, Geheimnisvolle, Anziehende, aber auch Gefährliche und Verruchte (z. B. der Harem und die Odalisken). Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Reisende des „Abendlandes“ wurden angeregt, sich mit dem Islam als Religion und Kultur zu befassen. So finden wir im 18. und 19. Jahrhundert ein breites Spektrum von Analysen, Berichten, Kommentaren, Deutungen und Meinungen. Sie reichten von Feindseligkeit und Dämonisierung (z. B. in den „Türkenliedern“, in den französischen „Chansons de Geste“, in Voltaires „Mahomet“), sachlich-wissenschaftlicher Auseinandersetzung (Philologie, Koranübertragungen, Entfaltung der deutschen Orientalistik, Theodor Nöldeke, Gustav Weil, Julius Wellhausen u. a.) bis zu elegisch-romantisierender Glorifizierung (z. B. Antoine Gallands, „Tausendundeine Nacht“, Friedrich Rückerts Koranübertragung und Lyrik, August von Platens Lyrik, Orient-Malerei, Kunstgewerbe, Kleidung).Einige Aufklärer ergänzten ihre Kritik an den Dogmen des Christentums und seiner engen Verbindung mit den absolutistischen Obrigkeiten („Thron und Altar“) durch besondere Wertschätzung des Islam, so der Philosoph Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781). Dieser arbeitete sein spezifisches Toleranzverständnis in besonders zugespitzter Weise in seinem berühmten Drama „Nathan der Weise“ (1779) heraus, in dem er die alte Parabel von den drei ununterscheidbaren Ringen auf die drei monotheistischen Religionen bezog. Alle drei seien gleich, so seine These, sie seien Mitglieder einer Familie, die sich von Abraham ableite. Der Mensch solle seine Religion praktisch leben, aber davon absehen, die eigene als die einzig wahre darzustellen. Das Christentum erschien Lessing als ein „Wirrwarr von Sätzen“, als „Verblendung“ und Verehrung „heiliger Hirngespinste“, der Islam dagegen als mit der „allerstrengsten Vernunft“ vereinbar, als natürliche Religion.21Dichterfürst Johann Wolfgang Goethe hat in seinem „West-Östlichen Diwan“ (1820) dem persischen Dichter Hafis seine Reverenz erwiesen. Ihn faszinierte der Orient, den er als imaginiertes Gegenbild zu einer von den Verwüstungen der post-napoleonischen Zeit nach den Befreiungskriegen (1813-1815) geprägten, engen und bürokratischen Welt deutscher Kleinstaaterei empfand. Goethe verklärte und idealisierte „den Islam“, den er in ästhetischer Verzuckerung als besonderen Fall eines universalen Schicksalsglaubens ortete und im Gedanken der Einheit Gottes Gemeinsamkeiten mit dem Christentum entdeckte. Sein berühmtes Zitat aus dem „Diwan“ wird bis heute als Ausweis seiner Islam-Verehrung verstanden, ja Goethe gar zum Muslim erklärt: „Wenn Islam Gott ergeben heißt, Im Islam leben und sterben wir alle“. Doch Goethe war, bei allem Respekt gegenüber dem Islam, keineswegs kritiklos, und ihn zum Muslim zu erklären, ist absurd.22Bei aller Wertschätzung der kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen von Muslimen wäre es den Zeitgenossen seltsam, ja absurd erschienen, „den Islam“ als maßgebliches historisches Element deutscher Kulturgeschichte, geschweige denn einer wie auch immer im Einzelnen definierten „deutschen Identität“ zu bezeichnen.Die Orient-Romantik Kaiser Wilhelms II. und die prekäre Waffenbrüderschaft des Deutschen und Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg mit ihren schrecklichen Begleiterscheinungen (Armenier-Genozid) wird man wohl kaum als glückhafte Phase wechselseitigen Einflusses von „Morgenland“ und „Abendland“ bezeichnen. Zu dieser Zeit gab es, abgesehen von diplomatischen Kontakten und Handel, kaum Anzeichen für muslimisches Leben in Deutschland. 1915 wurde südlich von Berlin, in Wünsdorf, eine schlichte Moschee für muslimische Kriegsgefangene eröffnet, die allerdings schon Ende der 1920er Jahre wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste. 1924 entstand in Berlin-Wilmersdorf die erste Moschee der Ahmadiyya Jama‘at (Lahore-Richtung), die bis heute besteht.

Neuere Entwicklungen

Erst nach Ende des Ersten Weltkriegs kam es in der Weimarer Republik zu nennenswerten öffentlichkeitswirksamen Äußerungen von Muslimen und ersten Selbstorganisationen in verschiedenen kurzlebigen Vereinen. Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg hat keine dieser Organisationen überdauert, und Versuche, Kontinuitäten bis heute zu behaupten (wie es der „Islamrat“ versucht), sind überaus fragwürdig, sowohl aus formalen Gründen als auch wegen der problematischen Nähe eines Vereins zur nationalsozialistischen Ideologie.23 Die Zeit des Nationalsozialismus war auch alles andere als ein Ruhmesblatt für „islamische“ Begegnungen mit Deutschland. Die erwähnten muslimischen Vereine dümpelten dahin und versuchten sich anzupassen. Der antisemitische Mufti von Jerusalem, Amin El-Husseini, hofierte Hitler, weil er auf Deutschland im Ringen um die Einheit der Araber und den Kampf gegen die „Kolonialisten“ (England) setzte. Für die zeitweilige Unterstützung, die er von den Nazis erhielt, bedankte er sich artig mit Sympathien für das nationalsozialistische Judenvernichtungsprogramm und half mit, muslimische Kampfeinheiten zu bilden, die auf Seiten des faschistischen Deutschland gegen „den Bolschewismus“ zu Felde zogen.24 Erst nach 1945 begann sich muslimisches Leben neu zu entfalten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die muslimischen alten Kameraden, die an der Seite Hitlers gegen die Sowjetunion gekämpft hatten, und die islamistischen Muslimbrüder mit Said Ramadan, dem Sekretär Hassan al-Bannas (Gründer der Muslimbruderschaft im Jahre 1928), als erste in München Fuß fassten. Unterstützt wurden sie vom amerikanischen Geheimdienst und der deutschen Regierung, die sie im Kampf gegen den Kommunismus brauchen konnten. Das ist ein wahrhaft trübes Kapitel in der Geschichte des Islam in Deutschland.25 Wollen wir, dass Islamisten zu Deutschland „gehören“? Sicherlich nicht.

Identität: ein „offenes Projekt“

1954 wurde die „Deutsche Muslim-Liga“ gegründet, die erste von Deutschen ins Leben gerufene muslimische Organisation. Es gibt sie bis heute.26 Doch erst seit den 1960er Jahren und der Zuwanderung ausländischer, muslimischer Arbeitskräfte begann wirkliches islamisches Leben in Deutschland, und es ist in der Tat diese Geschichte, die das Nachdenken über Innenminister Friedrichs Satz besonders dringlich macht. Seit dieser Zeit stellen sich die Identitätsfragen der Deutschen in einem fortschreitend religiös-kulturell pluralistischen Gemeinwesen grundlegend neu. Reflexionen über das „Dazugehören“ brauchen gegenwartsbezogene Antworten.Im historischen Rückblick sollte klar geworden sein: Gleichviel, ob es sich aus der Sicht des nüchtern urteilenden Historikers um förderliche oder abträgliche islamische Berührungen in der deutschen und europäischen Geschichte handelt – sie haben jedenfalls bis zum Beginn der zahlenmäßig relevanten Zuwanderung in den 1960er Jahren Deutschland historisch nicht geprägt. In seinem Grundriss zur deutschen Kulturgeschichte bringt es der Literaturprofessor Wilhelm Gössmann sehr knapp auf den Punkt: „Die Grundlagen der europäischen und damit der deutschen Kultur bilden Antike, Christentum und das Germanentum.“27 Deshalb hat der Minister Recht: Der Islam gehört, historisch gesehen, nicht zu Deutschland. Für den zeitgenössischen Islam in Deutschland und Europa bleibt somit die Herausforderung, tatsächlich substanzielle Beiträge zur Erarbeitung einer deutschen und europäischen Identität zu leisten, die wir ja nicht umstandslos „haben“, sondern die – historisch wandelbar – stets neu errungen werden muss. Insofern ist diese Identität ein „offenes Projekt“, allerdings eines, das seinen griechisch-römischen und christlichen Traditionen unverzichtbare Impulse verdankt und das die Akzeptanz universaler Menschenrechte, rechtstaatlicher Demokratie und eine politische Kultur des Pluralismus voraussetzt.28


Anmerkungen

www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,749307,00.html. (Die in diesem Beitrag genannten Internetseiten wurden zuletzt am 2.5.2011 abgerufen.)

Tagesspiegel vom 10.10.2010.

Die Zeit vom 10.3.2011.

4 Ernest Renan, Was ist eine Nation? (1882), in: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, hg. von Michael Jeismann / Henning Ritter, Leipzig 1993, 290ff.

Stern vom 29.3.2011.

Welt am Sonntag vom 6.3.2011.

7 Deutsches Historisches Museum (Hg.), Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen, Berlin 2009.

8 Siehe dazu z. B. Salam Falaki, Kampfbefehle Allahs im Koran, www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/kampfbefehle_allahs_im_koran.pdf

9 Wiener Erklärung der Imame und Seelsorger vom 8.4.2006, www.derislam.at.

10 Die Presse, 21.4.2008.

11 John Haldon, Das Byzantinische Reich, Düsseldorf / Zürich 2002, 208ff.

12 Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 2008, 37ff; Kay Peter Jankrift, Europa und der Orient im Mittelalter, Darmstadt 2007, 94; Christian Meier, Die griechisch-römische Tradition, in: Hans Joas / Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a. M. 2005, 95f.

13 Siehe dazu George Saliba, Islamic Science and the Making of the European Renaissance, Cambridge, MA 2007.

14 Luthers Brief an den Rat der Stadt Basel vom 27.10.1542, WA Br, Nr. 3892, 32ff. Siehe seine Schriften „Vom Kriege wider die Türken“, in: WA 30, II, 180, und „Heerpredigt wider den Türken“, WA 30, II, 149ff.

15 Siehe zu Luthers Stellung zum Islam v. a. Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam, Gütersloh 2008; Adam S. Francisco, Martin Luther and Islam. A Study in Sixteenth Century Polemics and Apologetics, Leiden 2007.

16 Siehe dazu Matthias Lutz-Bachmann / Alexander Fidora (Hg.), Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt 2004.

17 Kay Peter Jankrift, Europa und der Orient im Mittelalter, a.a.O., 94ff.

18 Eugen Sorg, Das Land, wo Blut und Honig floss, www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=11897&CategoryID=73; siehe ferner: Mariano Delgado, Der Mythos „Toledo“. Zur Konvivenz der drei monotheistischen Religionen und Kulturen im mittelalterlichen Spanien, in: Sabine Hering (Hg.), Toleranz – Weisheit, Liebe oder Kompromiss? Opladen 2004, 69ff; Francisco Garcia Fitz, Auf dem Weg zum Djihad. Die Toleranz im islamischen Spanien ist nur ein multikultureller Mythos, in: Die Welt vom 1.6.2006; Siegfried Kohlhammer, Ein angenehmes Märchen, in: Merkur, Heft 651, Juli 2003, 595ff. Zur Geschichte von Al-Andalus: Maria Rosa Menocal, Die Palme im Westen. Muslime, Juden und Christen im alten Andalusien, Berlin 2003; Richard Fletcher, Moorish Spain, Berkeley 1992.

19 Siehe dazu Bernard Lewis, Islam and the West. New York / Oxford 1992; Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005.

20 Friedrich II. schrieb diesen Satz 1740 an den Rand einer Eingabe: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden“ (zit. in: Georg Büchmann, Geflügelte Worte, Berlin 321972, 6919).

21 Gotthold Ephraim Lessing, Rettung des Hieronymus Cardanus (1752/54), in: Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann, Stuttgart 1890, 326.

22 Hikmet-Nameh, Buch der Sprüche, West-östlicher Diwan. Goethes Werke, Jubiläumsausgabe, Darmstadt 1998, 347. Die islamistische Politsekte Murabitun befördert Goethe gar zum Muslim. Der ideologische Hintergrund der Murabitun und die Geisteswelt Riegers werden ausführlich analysiert von Johannes Kandel, „Riegers Welt“. Die Islamische Sekte der Murabitun und die Islamische Zeitung, in: Religionsdifferenzen und Religionsdialoge. Festschrift – 50 Jahre EZW, hg. von Reinhard Hempelmann, EZW-Texte 210, Berlin 2010, 150ff. Zu Goethe und dem Islam vgl. Katharina Mommsen, Goethe und der Islam, Frankfurt a. M. 2001. Siehe ferner die differenzierte Darstellung bei Günter Niggl, West-östliche Glaubenswelten in Goethes „Diwan“, in: zur debatte 2/2007, 36ff.

23 Siehe zum Ganzen Thomas Lemmen, Muslime in Deutschland, Baden-Baden 2001, 20ff.

24 Siehe dazu Klaus-Michael Mallmann / Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 2006; Klaus Gensicke, Der Mufti von Jerusalem und die Nationalsozialisten. Eine politische Biographie Amin el-Husseinis, Darmstadt 2007.

25 Vgl. dazu Ian Johnson, Die vierte Moschee. Nazis, CIA und der islamische Fundamentalismus, Stuttgart 2011; Stefan Meining, Eine Moschee in Deutschland. Nazis, Geheimdienste und der Aufstieg des politischen Islam im Westen, München 2011.

26 Siehe dazu Thomas Lemmen, Muslime in Deutschland, a.a.O., 118ff.

27 Wilhelm Gössmann, Deutsche Kulturgeschichte im Grundriß, Düsseldorf 2006, 13.

28 Siehe Wolfgang Huber, Die jüdisch-christliche Tradition, in: Hans Joas / Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, a.a.O., 69ff.