Madlen Vartian

Gedenken an den Genozid an den Armeniern vor hundert Jahren

Der 24. April ist in Armenien und in den armenischen Gemeinschaften weltweit der Gedenktag an den Völkermord an der christlichen Minderheit der Armenier im Osmanischen Reich. Dieser begann am 24. April 1915 mit der Deportation armenischer Intellektueller aus Istanbul. Hauptsächlich in den Jahren 1915/1916 kamen mehrere hunderttausend Menschen durch Massenhinrichtungen, Massaker und Todesmärsche ums Leben. Dass es sich dabei um einen Genozid handelte, wird heute von fast allen Historikern als Tatsache angesehen, die aus dem Osmanischen Reich hervorgegangene Türkei bestreitet es jedoch. Die Armenier kämpfen hundert Jahre nach dem Geschehen noch immer um die Aufarbeitung. Die Autorin dieses Beitrags, Rechtsanwältin und stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Armenier in Deutschland, eröffnet uns einen Blick aus der Innenperspektive und erklärt, warum Deutschland sich nicht auf die Position eines Unbeteiligten zurückziehen darf.

 

In diesem Jahr jährt sich der Genozid an den Armeniern durch die osmanische Türkei zum hundertsten Mal. Die in Deutschland inzwischen in der dritten Generation lebende armenische Gemeinschaft bereitet im Gedenken an die Opfer auf zivilgesellschaftlicher Ebene u. a. Gedenkveranstaltungen, Tagungsreihen, Diskussionsabende sowie Musik- und Kunstprojekte vor, die in aller Regel zusammen mit evangelischen oder katholischen Trägervereinen, politischen Stiftungen oder Bildungseinrichtungen veranstaltet werden.

Das Interesse am Genozid an den Armeniern hat in der deutschen Gesellschaft seit der Resolution des Deutschen Bundestages im Jahre 20051, die anlässlich des 90. Gedenkjahrs interfraktionell beschlossen wurde, erheblich zugenommen. Das armenische Gedenken erhielt dadurch eine politische und gesellschaftliche Aufwertung, die bis in die türkeistämmigen Gemeinschaften in Deutschland reichte. Die kurdischen und alevitischen Gemeinden sowie vereinzelte Funktionäre aus den türkischen Gemeinden wurden darin bestärkt, auf die armenischen Gemeinden zuzugehen. Es entwickelten sich lebhafte Beziehungen und Begegnungen. Inzwischen ist die armenische Gemeinschaft in Deutschland mit ihrem Gedenken nicht mehr allein. Die armenische Genoziderfahrung gilt als Speerspitze der Erinnerung für die türkeistämmigen Gemeinschaften, die sich durch die Anerkennung eine kritische Auseinandersetzung mit sämtlichen Verbrechen, auch denen seit der Gründung der türkischen Republik im Jahre 1923, erhoffen.

Die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern in Deutschland steht jedoch noch am Anfang und schreitet in der Politik seit der Bundestagsresolution im Jahre 2005 nur langsam voran. Während in der Wissenschaft und der Gesellschaft ein breiter Konsens im Hinblick auf die Bewertung und die zukünftige Zuordnung im deutschen und europäischen Gedenken besteht,2 hinkt die Politik der gesellschaftlichen Weiterentwicklung seit 2005 weit hinterher. Sie verweigert nicht nur die explizite Anerkennung des Genozids, sondern bleibt oftmals hinter dem Wortlaut der Bundestagsresolution aus dem Jahr 2005 zurück. Dies kann nicht zuletzt in der Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Linken vom 13.1.2015 festgestellt werden, in der die Bundesregierung die Verantwortung für eine explizite Anerkennung und Aufarbeitung des armenischen Genozids in Deutschland „an die beiden Länder Armenien und Türkei“ verweist und als Akt der „historischen Aufarbeitung“ eine internationale „Genozidkonferenz“ bzw. „Historikerkommission“, wie sie euphemistisch bezeichnet wird, empfiehlt – mit dem gleichzeitigen Hinweis, dass die für die Bundesrepublik am 22.2.1955 in Kraft getretene Konvention von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes „nicht rückwirkend“ gelte.3

Dieselbe Bundesregierung erkennt – so will man nach dieser Antwort doch hoffen, auch wenn es in diesem Fall eben rückwirkend geschieht – den in den Jahren 1933 bis 1945 verübten Holocaust an den Juden als Genozid an und missbilligte seinerzeit im Jahre 2005 die vom Iran veranstaltete „Holocaustkonferenz“ in Teheran. Dass die Bundespolitik sich in der Frage des armenischen Genozids in Widersprüche verwickelt und sich bisher weigert, die Rolle des Deutschen Kaiserreiches angemessen aufzuarbeiten und Verantwortung für die inzwischen drei Millionen Türkeistämmigen – zu denen Türken, Kurden, Sunniten, Aleviten, Yeziden, Armenier und Aramäer u. a. zählen – zu übernehmen, ist offenkundig. Eine Verweisung der Angelegenheit an das Auswärtige Amt ist allerdings völlig zwecklos.

Als Vermittler zwischen Armenien und der Türkei und zwischen Armeniern und Türken scheidet die Bundesregierung jedenfalls aus Gründen der mangelnden Glaubwürdigkeit aus.

Deutschland war nämlich nicht nur Zeuge der Vernichtung der Armenier, sondern Partei des Geschehens. Als Bündnispartner des Osmanischen Reiches4 standen dem Kriegsminister Enver Pascha, der neben Talat und Cemal Pascha zu den Hauptverantwortlichen des Genozids an den Armeniern zählt, hohe deutsche Offiziere als Ratgeber und Befehlshaber der osmanischen Armee zur Seite. Auch das Armenien-Bild der deutschen Politiker und Militärs jener Jahre war ressentimentgeladen. Bezeichnend ist eine Bemerkung des Generals Fritz Bron­sart von Schellendorf, damals Befehlshaber des osmanischen Feldheeres in Istanbul, der Anfang 1919 bemerkte: „Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte.“5

Angesichts der Verstrickung des Deutschen Kaiserreiches kann daher von der Bundesregierung nach hundertjähriger Wartezeit erwartet werden, dass sie sich zunächst ihrer eigenen Verantwortung gegenüber der armenischen Gemeinschaft stellt und sowohl eine wissenschaftliche Aufarbeitung der eigenen Mitverantwortung als auch die weitere Erforschung des armenischen Genozids, seiner Ursachen und Auswirkungen, fördert.

In diesem Zusammenhang besteht das Erfordernis, die Erinnerungsträger, d. h. die armenische Gemeinschaft in Deutschland, in den Diskurs hinsichtlich der diskutierten Erinnerungskonzepte in einer Zuwanderungsgesellschaft bewusst einzubeziehen, statt über ihre Köpfe hinweg zu diskutieren.6 Dies gilt insbesondere für die – auch von der evangelischen Kirche – seit Jahren unterstütze „Versöhnungspolitik“, die darauf zielt, Armenier und Türken sowie Armenien und die Türkei miteinander zu „versöhnen“. Diese womöglich an Nelson Mandelas „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ in Südafrika angelehnte Politik, die auf eine Amnestie der Türkei hin­auslaufen soll, verkennt jedoch, dass die südafrikanische Initiative als Voraussetzung der Versöhnung die bedingungslose Wahrheit einforderte.7 Dieser wesentliche Aspekt spielte in den von der Bundespolitik oder der evangelischen Kirche unterstützten Versöhnungsprojekten bisher keine bzw. lediglich eine untergeordnete Rolle, und sie wurden daher von der armenischen Gemeinschaft nicht angenommen.8

Die politische Anerkennung des Genozids, seine Berücksichtigung in Forschung und Lehre, die Einführung und Behandlung im Schulunterricht sind auch angesichts von drei Millionen türkeistämmigen Menschen in Deutschland eine besondere Verpflichtung der deutschen Politik, um eine für das friedliche Zusammenleben in Deutschland erforderliche Erinnerungs- und Gedenkpolitik zu implementieren. Die politischen Befindlichkeiten einer uneinsichtigen Türkei dürfen dabei nicht als Ausflucht dienen, die Übernahme von Verantwortung und die Gestaltung des Zusammenlebens in Deutschland schuldhaft zu unterlassen. Dies kann erst recht nicht mit dem Hinweis auf das Holocaustgedenken erfolgen.9

So lange sich die Bundesregierung ihrer Verantwortung verschließt, wird sie den jahrzehntelangen Konfliktimport aus Ankara nur weiter befördern und verstärken. Die Bundesregierung sollte daher nicht weiter auf Zeit spielen, in der vergeblichen Hoffnung, dass das armenische Thema sich von alleine erledigt. Das tut es nämlich seit über 150 Jahren nicht. Es ist daher an der Zeit, das einzig Richtige zu tun und das hundertste Gedenkjahr des Genozids an den Armeniern in Würde und Verantwortung zu begehen.


Madlen Vartian, Köln


Anmerkungen

  1. Deutscher Bundestag, Drucksache 15/5689, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/15/056/1505689.pdf  (die in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten wurden am 5.3.2015 abgerufen).
  2. Vgl. Mihran Dabag, Der Genozid an den Armeniern, Dossier Türkei, Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184983/genozid-an-den-armeniern .
  3. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/3722, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/037/1803722.pdf; Kurzfassung : www.bundestag.de/presse/hib/2015_01/-/356420 .
  4. Doris Götting, Die türkisch-deutsche Waffenbrüder­schaft im Ersten Weltkrieg, Dossier Türkei, Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184966/erster-weltkrieg
  5. Julius H. Schoeps, Der verdrängte Genozid, Compass, www.compass-infodienst.de/Julius-H-Schoeps-Der-verdraengte-Genozid-Armenier-Tuerken-und-ein-Voelkermord.251.0.html
  6. Vgl. Madlen Vartian, Armenier unerwünscht. Ein deutsches „Aussöhnungs“-Projekt im Theaterhaus Mitte, http://madlens-blog.blogspot.de/2011/03/armenier-unerwunscht-ein-deutsches.html
  7. Vgl. Christina Livia Wendt, Die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika. Eine Wirkungs­analyse, Dissertation, Berlin 2009.
  8. Vgl. Mihran Dabag, Faktizität des Genozids an Armeniern ist nicht bestreitbar (2009), www.deutschlandradiokultur.de/historiker-dabag-faktizitaet-des-genozids-an-armeniern-ist.954.de.html?dram:article_id=144696 .
  9. Vgl. „Mitmenschlichkeit verbindet universell“, in: „Die Welt“ vom 12.7.2014, www.welt.de/regionales/duesseldorf/article130050827/Mitmenschlichkeit-verbindet-universell.html : „Wie vermittelt man die Lehren der deutschen Geschichte, wenn immer weniger Schüler deutsche Vorfahren haben? Ganz einfach: Man erinnert nicht mehr nur an Auschwitz, sondern auch an Ruanda und den Armeniermord. Ein Gespräch mit NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann über Erinnerung in einem Einwanderungsland.“