Bernd Dürholt, Annette Kick, Oliver Koch, Matthias Pöhlmann

Frieden, Vergöttlichung, Unsterblichkeit

Auf den Spuren neuer religiöser Bewegungen und Neureligionen in Japan und Südkorea - Teil 1

Feldforschungen zu Neureligionen und neuen religiösen Bewegungen führten die Autoren dieses Beitrags – Weltanschauungsbeauftragte verschiedener Landeskirchen – im Mai 2018 nach Japan und Südkorea. Wir veröffentlichen den Bericht über ihre Forschungsreise in drei Teilen. Im ersten Teil beschreiben sie ihre Begegnungen in Tokio und stellen die besuchten Bewegungen vor.

In den ostasiatischen Ländern Japan und Südkorea ist der Kontext völlig anders geprägt als in westlichen Gesellschaften. Trotz hohen technischen Fortschritts sind beide Länder nicht völlig säkularisiert. Im Gegenteil: Gerade Südkorea wird oft als Beispiel dafür angeführt, dass trotz hohen technischen Standards die Religion nicht völlig verschwindet, sondern sogar eine starke Religiosität feststellbar ist. Missionierende religiöse Bewegungen und Neureligionen aus Ostasien sind in Deutschland seit längerem aktiv. Dies spiegelt sich etwa in Informations- und Beratungsanfragen bei kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten wider. Hinzu kommen kritische Medienberichte über einzelne umstrittene Gemeinschaften. Die Forschungsreise bot die Möglichkeit, einige Gruppen in ihrem jeweiligen Ursprungsland besser kennenzulernen und die Entstehungshintergründe genauer in den Blick zu nehmen. Dies konnten wir gut nutzen: Insgesamt hatten wir in zehn Tagen fast 40 verschiedene Kontakte, unmittelbare Begegnungen und intensive Gespräche.1

Japan – eine Fülle von Neureligionen

Unser erstes Reiseziel führte uns nach Tokio. In dieser Weltmetropole mit 9,5 Millionen Einwohnern gibt es unzählige religiöse Gruppen. Im Vergleich zu Südkorea ist Japan viel stärker säkular geprägt. In der Geschichte Japans vermischte sich der im 6. Jahrhundert eingeführte Buddhismus mit dem einheimischen Shinto. Es entwickelten sich besondere japanische Formen des Buddhismus (Zen, Nichiren-Schule, Amida-Buddhismus). Der „Staats-Shinto“ wurde ab Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als einheitliche nationalistische Herrschaftsideologie entwickelt und verlangte die Trennung von Buddhismus und Shinto. Er wurde 1945 auf Druck der Alliierten aufgelöst, Staat und Religion strikt getrennt. Eine Skepsis gegenüber religiösen Institutionen stammt aus der Zeit des Staats-Shinto, zugleich wird an den Synkretismus der Zeit davor angeknüpft. Ca. 80 % sind insofern Buddhisten und ca. 90 % Shintoisten, als sie an entsprechenden Ritualen teilnehmen oder Spenden an einen Schrein oder Tempel geben. Religiöse Rituale werden pragmatisch in Anspruch genommen, ohne dass man sich als „religiös“ bezeichnen würde. Verbindliche religiöse Zugehörigkeit ist in Japan die Ausnahme. Dazu gehört die kleine Minderheit von gut 1 % Christen. Das Christentum, das Japan im 16. Jahrhundert durch spanische Missionare erreicht hatte, wurde nach einer kurzen Phase der wohlwollenden Aufnahme verboten und bis ins 19. Jahrhundert hinein verfolgt.2

Beachtlich dagegen ist die Zahl neuer religiöser Bewegungen. Viele sind aus Shintoismus und Buddhismus hervorgegangen. Sie haben sich oft mit Elementen aus Okkultismus und Esoterik vermischt. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg sind zahlreiche neue religiöse Gruppen entstanden, da Neugründungen durch eine liberale Gesetzgebung erleichtert werden. Jeder siebte Japaner (insgesamt 9,11 Millionen) gehört einer dieser Gruppen an.3 Damit haben neue religiöse Bewegungen einen viel größeren gesamtgesellschaftlichen Stellenwert als in Europa. Oftmals kommt es innerhalb der neuen Religionen zu Abspaltungen und Neubildungen.

In einem sicher außergewöhnlichen Fall wurde die Öffentlichkeit kürzlich wieder an die wohl bekannteste Neureligion Japans und deren Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn von 1995 mit 13 Toten und 6000 Verletzten erinnert: Im Juli 2018 wurden alle 13 maßgeblichen Führer von Aum Shinrikyo, darunter der Gründer Shoko Asahara, in Tokio hingerichtet, nachdem sie 2006 zum Tode verurteilt worden waren. Die Ereignisse stellen auch für andere neue religiöse Bewegungen in Japan einen Wendepunkt dar. Seither werden sie von der Öffentlichkeit viel kritischer beobachtet.4

Wegen der Vielzahl neuer religiöser Bewegungen ist Japan religionsgeschichtlich sehr interessant. Sie dominieren auch heute die religiöse Landschaft Japans. Ihre Entstehung verlief in drei Wellen (Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, 20. Jahrhundert, 1980er/1990er Jahre). So ist Soka Gakkai eine Neureligion, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Laienbewegung entstanden ist. Sie konnte besonders vom Wirtschaftswachstum profitieren. Andere Neureligionen sind wie etwa „Happy Science“ in den 1980er Jahren entstanden und formten sich – so Martin Repp – inmitten der Wirtschaftskrise: „Sie wurden von Gurus gegründet, rekrutieren die jüngere Generation und stellen das Erlangen übernatürlicher Kräfte in den Mittelpunkt.“5 Besonders auffällig ist, dass einige der Neureligionen auch Parteien gegründet haben oder mit Parteien inhaltlich stark verbunden sind.

Die Neureligionen knüpfen mit ihren Versprechen von Frieden, Glück, Gesundheit, Heilung etc. an die traditionelle Religiosität in Japan an, die an der Erlangung irdischer und jenseitiger Wohltaten orientiert ist. Das Geschehen an Shinto-Schreinen und auch an buddhistischen Tempeln ist bestimmt davon. Durch verschiedene Rituale, durch Spenden, durch Amulette etc. werden Glück und Gelingen für alle Lebensbereiche beschworen. Die einfachen Rituale vollzieht man selbst, für besondere „Fälle“ sind Priester zuständig. Die Neureligionen scheinen die Erwartungen und Versprechen zu intensivieren, aber auch einen viel größeren Beitrag des Einzelnen zum Erreichen des Erhofften zu verlangen: Tägliches verbindliches Vollziehen von Ritualen wird vom Gläubigen selbst erwartet, ebenso wie ein beträchtlicher finanzieller Beitrag. Meist hat auch die charismatische Gründergestalt eine größere und ausschließlichere Funktion bei der Vermittlung von Glück und Heil als der traditionelle Priester.

Man hat den Eindruck: Nach der Auflösung des problematischen Staats-Shinto und der völligen Privatisierung des Religiösen gibt es neben individueller, meist pragmatisch verstandener religiöser Betätigung kaum vertrauenswürdige religiöse Instanzen und Persönlichkeiten, die Verantwortung übernehmen und Antworten geben auf die existenziellen Fragen, die sich in einer von Globalisierung und Modernisierungsprozessen geprägten Gesellschaft ergeben. Die neuen religiösen Bewegungen und ihre politischen Aktivitäten versuchen, in dieses Vakuum zu stoßen. Ihre Antworten können aber im Blick auf die komplexen heutigen Fragen selten überzeugen.

„May Peace Prevail on Earth“ – Goi Peace Foundation

Die Adresse „1-4-5 Hirakawacho Chiyoda-ku“ war nicht leicht zu finden. Selbst Einheimische irrten mit der für Tokio unverzichtbaren Map-App auf ihrem Smartphone durch die Straßen ihrer Stadt. Endlich an einer Hauswand: „May Peace Prevail on Earth“. Wir standen vor dem Eingang des Heiwa Daichi Building.

An der Aufzugtür wurden wir von einer Mitarbeiterin der „Goi Peace Foundation“ (GPF) empfangen. Im Sitzungsraum begrüßte uns ihr Präsident Hiroo Saionji. Nach dem obligatorischen Visitenkartenritual und der kurzen Vorstellungsrunde kamen wir schnell zum eigentlichen Thema. Hiroo Saionji hatte nur wenig Zeit. Er steckte mitten in den Vorbereitungen für eine Großveranstaltung. Es stand die „14. Symphony of Peace Prayers“ (s. u.) im „Fuji Sanctuary“ bevor.

Die Goi Peace Foundation ist die jüngste der drei Organisationen, die auf Masahisa Goi (1916 – 1980), einen – folgen wir den Angaben der Gemeinschaft – japanischen Philosophen, Lehrer und Poeten zurückgehen. Die Organisation sei weder politisch noch religiös, im Gegensatz zur Byakko Shinko Kai, der Ursprungsvereinigung. Um der Menschheit die Botschaft „May Peace Prevail on Earth“ besser vermitteln zu können, sei die Bildung einer nichtreligiösen Gemeinschaft nötig gewesen. Daher sei 1988 die „World Peace Prayer Society“ (WPPS) mit Sitz in Amenia/New York gegründet worden. 1999 kam schließlich die Goi Peace Foundation in Tokio hinzu.

Diese finanziere sich durch Mitgliedsbeiträge sowie Spenden der weltweit 5000 bis 10 000 Unterstützer. Als Grundlage des Wirkens gilt die „Deklaration für alles Leben auf Erden“, die auch die vier „allgemeingültigen Prinzipien“ enthält: „Ehrfurcht vor dem Leben“; „Würdigung unserer Unterschiede“; „Dankbarkeit für die und Koexistenz mit der Natur“; „Harmonie zwischen Spiritualität und Materialismus“.

Diese Richtlinien sollen zu „einer Welt der Harmonie“ führen. Jeder Mensch solle im „Zeitalter des Individuums“ mithelfen, „unser aller Schicksal zu erfüllen, nämlich Liebe, Harmonie und Dankbarkeit in seinem Herzen hervorzubringen und demzufolge mit diesen Qualitäten die ganze Welt zu umfassen“. Dazu soll durch Bündelung der Weisheit aus allen verfügbaren Bereichen menschlichen Daseins und Wirkens ein „System der Zusammenarbeit“ geschaffen werden. Schließlich sollen „die Erwachsenen von den wunderbaren Eigenschaften der Kinder lernen dürfen; die da wären Reinheit, Unschuld, Weisheit, Intuition, um von den Qualitäten der Jugendlichen zu lernen und sich inspirieren zu lassen“.6

Daraus resultierend werden jährlich Mal- und Essaywettbewerbe für Kinder ausgeschrieben. Erziehungsprojekte – auch an höheren Schulen – gehören ebenso zum Programm wie die Errichtung von Friedenspfählen mit der Aufschrift „Möge Frieden auf Erden sein“. Mittlerweile seien etwa 250 000 Pfähle in fast 200 Ländern aufgestellt worden.

Auch wenn die GPF eine europäische Repräsentanz in der Münchner Kriemhildenstraße unterhält, tritt die „Weltfriedensgesellschaft“ in Deutschland doch überwiegend durch die WPPS in Erscheinung. Ebenfalls an keine Religion gebunden will sie „die Menschen aller Länder in den Worten May Peace prevail on earth bzw. Möge Friede auf Erden sein“ zusammenbringen. „Diese Worte sind sowohl Friedensbotschaft als auch Friedensgebet und der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Angehörige aller Nationen, Traditionen und Religionen einigen können. Projekte wie die Friedensphähle oder die Flaggenzeremonie für den Weltfrieden, aber auch der weltweite Malwettbewerb für Kinder helfen uns, die Friedensbotschaft in den Ländern zu verbreiten.“7

Vom europäischen Sitz der WPPS in Fürstenfeldbruck wurde 2018 etwa der Malwettbewerb für Kinder und Jugendliche im Alter von 5 bis 16 Jahren in vier Alterskategorien zum Thema „Lebendiger Friede“ ausgeschrieben. Als Preise wurden ausgelobt: „1. Preis: Ein 2 m hoher Friedenspfahl; 2. Preis: Ein 43 cm hoher Friedenspfahl …“8

Obwohl GPF und WPPS ihre religiös-weltanschauliche Unabhängigkeit betonen, sind die personellen und inhaltlichen Verflechtungen mit der Byakko Shinko Kai nicht zu verbergen. So ist Masami Saionji, Adoptivtochter von Masahisa Goi und Ehefrau unseres Gesprächspartners, Vorsitzende aller drei Organisationen.

Nachdem Masahisa Goi im Jahre 1949 die Einheit mit seinem Höheren Selbst erfahren haben will, habe er sein Leben der Aufgabe gewidmet, Menschen zu helfen, ihre göttliche Natur zu erwecken. Einige seiner Schüler eröffneten zwei Jahre später einen Treffpunkt in Tokio. Seit 1955 nennt sich die Gemeinschaft Byakko Shinko Kai (Gesellschaft des Weißen Lichts).

1968 begab sich Goi auf die Suche nach einem Ort für ein neues Zentrum. Am Fuße des Fuji wurde er fündig und erwarb kurz darauf jenes Gelände, welches später als Fuji Sanctuary bekannt und 1998 zum Hauptsitz der Byakko Shinko Kai wurde. „Heute ist das Heiligtum ein Zentrum für die Transformation des menschlichen Bewusstseins – ein Ort, an dem Menschen Unterschiede in Religion, Kultur und geistiger Herkunft transzendieren, um ungehindert und von Herzen für den Frieden zu beten.“9 Auf dem Areal entstand 1975 die erste Pyramide, die unter anderem als Antenne für den Empfang universaler Energie dient. Diese soll an die Menschheit abgestrahlt werden. Ein Jahr später starteten die Friedenspfahlaktivitäten.

Nach dem Tod Gois übernahm Masami Saionji 1980 die Leitung. Seit der Gründung der WPPS habe sich die Byakko Shinko Kai auf Lehre und Praxis konzentriert. Diese wurden in den 1990er Jahren systematisch ausgebaut. Kernpunkte der Lehre sind die positive Kraft der Gedanken und die Macht der Worte. Sie seien stark genug, den Menschen und die gesamte Schöpfung zu inspirieren, zu heilen und zu verändern: „Unsere Gedanken schaffen ein Energiefeld, das stark genug ist, nicht nur unser eigenes Leben zu verändern, sondern auch die Zukunft des gesamten Planeten. Wenn wir positive Energie in uns hineinziehen, tragen wir auch dazu bei, Frieden auf der Erde mit der erstaunlichen Kraft dieser Worte zu schaffen.“10 Unterstützend werden Atemtechniken, Hand- und Armbewegungen (Divinity INs) sowie das Schreiben von Mandalas eingesetzt. Die „Symphony of Peace Prayers“, die seit 2005 im Fuji Sanctuary abgehalten wird, ergänzt das Angebot.11

2015 veröffentlichten Masami und Hiroo Saionji zusammen mit Erwin Laszlo die „Fuji-Erklärung“, einen „Aufruf an alle Weltbürger, das volle menschliche Potenzial und den göttlichen Funken innerhalb jedes menschlichen Geistes zu erkennen und zu fördern“12. In ihr wird die Untrennbarkeit des menschlichen Daseins mit einer universellen Quelle festgestellt. Ziel soll u. a. eine Zivilisation sein, die auf „Spiritualität und Harmonie“13 gegründet ist.

Unser Gesprächspartner war sichtlich bemüht, die religiöse und weltanschauliche Neutralität der Goi Peace Foundation und der World Peace Prayer Society zu betonen. Das gelang nur bedingt und wird sowohl durch die personellen Verflechtungen als auch durch die verteilten Schriften widerlegt. Diese machen den weltanschaulichen Hintergrund des „Positiven Denkens“ und des „New Thought“ nur zu deutlich.

Die Neureligion Soka Gakkai – eine buddhistische Laienbewegung

Mit Soka Gakkai (SGI) begann das Gespräch im Headquarter der Organisation in Tokio. Anwesend waren hochrangige Vertreter der Führung Soka Gakkais aus Japan, Europa und Deutschland: Director Tatsuhiko Nishino, No. 2 Office of Executive Directors; Hirotsugu Terasaki, Vice President und Director General, Bureau of International and Peace Affairs; Masaaki Morinaka, Executive Director of Office of Dictional Studies; Yoshiyuki Nagaoka, Executive Director of Office of International Affairs; Hideaki Takahashi, Chairman of S.G.I. Europa; Leonardo Duricic, Generaldirektor von S.G.I. Deutschland sowie Kimiko Brummer, Vizegeneraldirektorin der S.G.I. Deutschland.

Das Gespräch verlief in freundlicher Atmosphäre, aber nach strengem Protokoll und war auf beiden Seiten akribisch vorbereitet worden. Unter anderem war der Artikel über Soka Gakkai aus dem „Handbuch Weltanschauungen“14 ins Japanische übersetzt worden. Er wurde positiv seitens SGI als differenziert gewürdigt, wobei es in Fragen der Einschätzung natürlicherweise unterschiedliche Sichtweisen gebe.

Die SGI ist in 190 Ländern aktiv. Die Mitgliederzahl beträgt nach Aussagen der Leitung zurzeit ca. 12 Millionen weltweit, im Mutterland Japan sind es 8,27 Millionen und in Europa ca. 150 000. Dabei würden in Japan, trotz fortschreitender Säkularisierung, die Mitgliederzahlen gehalten. Wachstum gebe es in vielen Entwicklungsländern wie Indien, Afrika oder Brasilien, in denen auch die SGI-Jugend sehr aktiv sei. An zweiter Stelle nach Japan liege Korea mit ca. 1 Million Mitgliedern. Nach einer kurzen Darstellung der Geschichte und des Wachstums der SGI wurden rasch einige Inhalte angesprochen und kritisch diskutiert, die hier in Auszügen wiedergegeben werden.

Angesprochen auf die Thematik des „Shakubuku“ wurde gesagt, dass diese Art der „Bekehrung“ früher sehr kritisiert wurde, weil sie in Form enthusiastischer Missionierung betrieben worden und sehr aggressiv gewesen sei. Seitens der Leitung habe sich die Art des Shakubuku geändert, sie solle nun dialogisch sein. In „teachings“, in der gemeinschaftseigenen Tageszeitung und in „discussion meetings“ werde immer wieder darauf hingewiesen.

Zur Frage nach der männlich dominierten Leitung antworteten die SGI-Vertreter mit dem Verweis auf die männlich geprägte japanische Kultur, die sich hier widerspiegle. In der jüngeren Generation ändere sich das jedoch, Frauen würden selbstbewusster und seien im Haushalt die „Herrinnen“.

Der politische Arm der SGI ist die neue „Komeito“-Partei, die einen nicht zu unterschätzenden politischen Einfluss in Japan hat. Wert wurde darauf gelegt, dass zwar ein großer Teil der Parteimitglieder auch der Soka Gakkai angehören, dass die Partei aber finanziell und organisatorisch unabhängig von ihr sei. Auch sei kein führendes Mitglied der SGI in der Leitung der Partei tätig. Politische Inhalte seien hauptsächlich Frieden, soziale Gerechtigkeit und die Beseitigung der Korruption.

Die weiteren Gespräche umspannten Themen wie die praktische Ausübung der Religion, die Bedeutung der Familie, die Stellung, Rezeption und Bedeutung der SGI in Japan und die Person Daisaku Ikedas, der seit 1975 Präsident der SGI ist. Er lebe in Tokio, es gehe ihm seinem Alter entsprechend gut (er ist 90 Jahre alt), er schreibe auch noch, gebe aber die Verantwortung Schritt für Schritt an Jüngere ab.

Kritische Fragen aus der weltanschaulichen Beratungspraxis etwa in Bezug auf erfahrene Disziplinierungsmaßnahmen, Gewalttätigkeiten oder Probleme in der Familie bei religionsverschiedenen Beziehungen wurden kurz und klar beantwortet: Das spiele offiziell keine Rolle mehr. Gewalttätige Mitglieder würden ausgeschlossen, man diszipliniere nicht, und wenn jemand Mitglied bei SGI werde, erwarte man, dass die Familie dies zumindest akzeptiere, dadurch würden Probleme von vornherein vermieden.

SGI betreibt mehrere soziale und kulturelle Einrichtungen sowie Bildungseinrichtungen, unter anderem die „Min-On Concert Association“, die die Förderung der Musikalität zum Ziel hat. Wir konnten diese Einrichtung besuchen und an einer Führung durch das Haus teilnehmen. Die Einrichtung ist ein Beispiel dafür, wie SGI in die Gesellschaft hineinwirkt und mit Kulturangeboten wirbt.

Schließlich wohnten wir in einem der größten Tempel in Tokio dem Chanten des „Nam-Myoho-Renge-Kyo“ bei. Das Rezitieren dieses Mantras ist das Herzstück der spirituellen Praxis der SGI-Mitglieder. In dem großen Tempel fielen die dicken Wände und Stahltüren auf, die zwei Zwecke erfüllen: Zum einen dienen sie der Erdbebensicherheit und zum anderen als Schallschutz für die dicht bebaute Umgebung. Denn man stelle sich die Lautstärke vor, die herrscht, wenn hunderte SGI-Anhänger inbrünstig und laut chanten. Schon die eigens für uns vor dem Gohonzon praktizierte Vorführung einiger weniger Anhänger war beeindruckend und ließ die Faszination erahnen, die die Praxis des Chantens auf ihre Mitglieder ausübt. Bei einem Gohonzon handelt es sich um eine Statue, die in der japanischen Religiosität für eine übernatürliche Wesenheit steht und verehrt wird.

Happy Science (Kofuku no Kagaku)

Es war schon gegen Abend, als wir der japanischen Neureligion „Happy Science“ (Kofuku no Kagaku) einen Besuch abstatteten. Sie wurde 1986 von Ryuho Okawa (Jg. 1956) gegründet. Über automatisches Schreiben sei ihm 1981 von verstorbenen buddhistischen Repräsentanten offenbart worden, er sei der wiedergeborene Buddha.15 Später proklamierte er öffentlich, er sei der irdische Repräsentant von El Cantare, dem höchsten Geistwesen, das sich früher u. a. im griechischen Gott Hermes und als Buddha inkarniert habe. Mittlerweile ist die Bewegung, nicht zuletzt durch Übersetzungen von Okawas Büchern in viele Fremdsprachen, weltweit verbreitet. Überhaupt kommt dem Medium „Buch“ für diese Neureligion zentrale Bedeutung zu. Es sollen 100 Millionen Exemplare von Okawas Büchern verkauft und in 30 Sprachen übersetzt worden sein. Das deutsche Zentrum befindet sich in Berlin. Im Oktober 2018 fand erstmals ein Vortrag von Okawa in Deutschland statt.16 Im Vorfeld des Reformationsjubiläums will Okawa am 22. März 2014 „spirituelle Botschaften“ Martin Luthers, angeblich ein Seelenbruder des Erzengels Michael, empfangen haben.17

Nach längerer Suche landeten wir in der Zentrale der Mitarbeiter von Happy Science. Ein junger Mitarbeiter, der kaum Englisch sprach, zeigte uns Bücher und mehrere deutsche Buchausgaben des Gründers Okawa. Oftmals wird Happy Science etwas abfällig als „Yuppie-Religion“ bezeichnet. Unser Besuch bestätigte diesen Eindruck: Auffällig viele junge Japaner und Japanerinnen waren in dem Tokioter Zentrum anwesend.

Eine junge Frau berichtete zeugnishaft, wie sie mit der Neureligion in Kontakt kam. Ihre Mutter gehörte ihr bereits an. Doch das entscheidende Ereignis für sie selbst sei ein Krankenhausaufenthalt gewesen. In dieser Zeit sei ihr bewusst geworden, dass sie zwar immer Liebe empfangen, aber anderen zu wenig echte Liebe geschenkt habe. Mit diesem inneren Bewusstseinswandel sei sie schließlich geheilt worden. Seit sie ihr Biologiestudium abgeschlossen habe, engagiere sie sich nun als Vollzeitkraft in der Öffentlichkeitsarbeit.

Beim Rundgang durch den großen Raum konnten wir einen Gohonzon im hinteren Bereich entdecken. Uns wurde mitgeteilt, er sei heilig und dürfe nicht fotografiert werden. In den Regalen befanden sich kleinere, besonders gestaltete Broschüren, die jedoch nicht von uns gelesen werden dürften, da es sich um heilige Texte für Eingeweihte handele. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurden zwei Repräsentanten aus der nahegelegenen Zentrale zu uns gerufen. Es handelte sich um die Öffentlichkeitsreferenten der Organisation.

Bei der anschließenden Führung wurde uns eine Statue von El Cantare gezeigt. Rechts davon war ein Schwert zu sehen, das den Buddhismus und Erleuchtung symbolisieren soll. Auf der linken Seite befindet sich Hermes, der für Liebe steht. Erleuchtung und Liebe sollen – so der Anspruch von Happy Science – vereint werden.

Deutlich wurde uns in der kurzen Begegnung und dem darauffolgenden Gespräch, welch große Bedeutung die geistige Welt in Happy Science hat. Beim Durchblättern der Bücher Okawas, die uns in deutscher Übersetzung überreicht wurden, sind Einflüsse moderner Esoterik, von Spiritismus18 und dem Positiven Denken19 deutlich erkennbar. Happy Science unterhält 25 sogenannte Shoshas (Tempel) in Japan und drei weitere in Hawaii, Brasilien und Australien.20 2009 hat Okawa als politischen Zweig die „Happy Science Realisation Party“ gegründet.

Seicho-No-Ie – eine Neureligion mit Garten inmitten der Hauptstadt

Seicho-No-Ie („Haus des Wachstums“) ist eine japanische Neureligion, die verschiedene Elemente des Christentums, der Neugeist-Bewegung, der Christlichen Wissenschaft, aber auch aus Buddhismus und Shintoismus in sich vereint. Dies wurde auch beim Besuch einer Morgenmeditation, der sogenannten Shinsokan-Meditation, deutlich. Sie begann um 6.30 Uhr am Sonntag und dauerte eineinhalb Stunden. Außer uns nahmen vier Frauen und drei Männer daran teil: Vor einem Gohonzon wurden, mit Musik untermalt, Texte aus der Shinsokan-Meditation rezitiert.

Im Anschluss machten wir uns auf den Weg zum Gelände des ehemaligen Hauptquartiers von Seicho-No-Ie. Ein Schwerpunkt dieser Neureligion liegt auf Ökologie und Nachhaltigkeit. Das drückt sich praktisch darin aus, dass das Hauptgebäude mittlerweile als ein „Office in the Forest“21 in das Umland von Tokio verlegt wurde und das Gelände des ehemaligen Verwaltungsgebäudes mitten in der Stadt in ein Naturreservat umgewandelt wurde. Es beherbergt zum einen ein Besucherzentrum, das nach neuesten ökologischen und energetischen Maßstäben gebaut wurde. Zum anderen wurde auf einem recht großen Gelände ein Garten (Harajuku „Grove of Life“) angelegt, der eine Vielzahl an Pflanzen beherbergt und wie eine Oase mitten in der Stadt wirkt.

Von „Wahrem Licht“ und „Universeller Lebenskraft“

Am letzten Tag unseres Tokio-Aufenthalts stand der Gedenkstein von Mikao Usui, dem „Wiederentdecker“ von Reiki22, auf dem Besuchsprogramm. Eine genaue Adresse hatten wir nicht. Die Wegbeschreibung eines Reiki-Anbieters half weiter. Mit der Marunouchi-Linie ging es bis zur Sin-Koenji-Station.

Nach kurzem Fußweg waren wir zwar noch nicht an unserem eigentlichen Ziel, standen aber plötzlich vor einem Zentrum der Sekai Mahikari Bunmei Kyodan (Weltgemeinschaft der Zivilisation des Wahren Lichts). Es war früher Nachmittag. Die Zeit drängte noch nicht. Wir klingelten. Eine „Kamikumite“ (jemand, die „Hand in Hand mit Gott“ geht) öffnete die Tür. Wir stellten uns vor und wurden in den ersten Stock des Zentrums geführt. Dort nahmen wir auf dem Boden Platz.

Der Raum füllte sich. Zwei Frauen praktizierten Mahikari no Waza (Die Kunst des Wahren Lichts), indem sie „Wahres Licht“ aus ihren Händen auf ihr Gegenüber „abgaben“. Eine junge Frau, die uns wohl aufgrund ihrer Englischkenntnisse zugeteilt wurde, war freundlich bemüht, uns Glauben und Praxis näherzubringen. Dazu zeigte sie uns Bilder von Suza (Schrein des SU-Gottes) und dem „Heiligen Land“ in Izu (Präfektur Shizuoka). Sie gewährte Einblick in das Norigotoshu, das Gebetbuch der Yokoshi (eine weitere Bezeichnung der Praktizierenden, die etwa „Kinder des Sonnenlichts“ bedeutet).

Im vorderen Teil des Raumes befand sich die beleuchtete Altarnische. An der goldfarbenen Wand hing eine Schriftrolle mit der Aufschrift „Mioyamotosu Mahikari Oomikami“, dem korrekten Namen der Mahikari-Gottheit „SU-Gott“. Auf eine Abbildung werde verzichtet. Dies ermögliche es, „SU-Gott“ in unterschiedlichen religiösen Hintergründen als den eigenen zu interpretieren.23 Rechts vom Altar war ein Bild zu sehen. Es zeigte den derzeitigen Oshienushi-sama (spirituellen Leiter).

Mahikari24 geht zurück auf Yoshikazu Okada (1901 – 1974), den ersten Oshienushi-sama. Dieser habe am 27. Februar 1959 eine „Offenbarung“ erhalten: „Die Zeit des Himmels ist gekommen. Erhebe dich. Dein Name soll Kotama sein. Wende die Kunst der Reinigung an. Der Welt stehen schwere Zeiten bevor.“25 Im August desselben Jahres gründete Okada eine Gesellschaft namens Yokoshi Tomo Na Kai, die 1963 in Sekai Mahikari Bunmei Kyodan umbenannt wurde.

Kurz vor seinem Tod habe er Sakae Sekiguchi zu seinem Nachfolger und zweiten Oshienushi-sama bestimmt. Diesem folgte im Jahre 1994 Katsutoshi Sekiguchi als spiritueller Leiter der Gemeinschaft.

Mit Okadas Tod erlebte die Sekai Mahikari Bunmei Kyodan eine Spaltung. Keishu Okada, die Adoptivtochter des Gründers, beanspruchte ebenfalls die Nachfolge als Oshienushi-sama. Es kam zu Streitigkeiten. 1978 ließ Keishu Okada die Sukyo Mahikari als religiöse Gemeinschaft registrieren. Ihr folgte 2009 Koo Okada als Leiter der Sukyo Mahikari, die ihren Suza in Takayama erbaut hat.

Nach diesen ungeplanten Einblicken in Lehre und Praxis der Sekai Mahikari Bunmei Kyodan ging es weiter zum eigentlichen Ziel, dem Saihoji-Tempel mit angrenzendem Friedhof. Und: Ja, es gibt den Stein, der in Veröffentlichungen der Reiki-Szene als Gedenkstein für Mikao Usui präsentiert wird. Unsere Aufnahmen stimmen mit den bekannten Darstellungen überein. Mission erfüllt.

Nach den Begegnungen in Tokio reisten die Autoren weiter in die südkoreanische Metropole Seoul (siehe nächste Ausgabe des MD).


Bernd Dürholt, Annette Kick, Oliver Koch, Matthias Pöhlmann


Anmerkungen

  1. In der Vorbereitungsphase waren Lutz Drescher (Stuttgart) und Martin Repp (Frankfurt a. M.) wichtige Gesprächspartner, die uns viele Informationen zu Religionen und Neureligionen in Japan und Südkorea gaben. Für Kontakte und Gespräche in Seoul waren Sungkook Park von der Ökumeneabteilung der Presbyterianischen Kirche in Korea sowie Malte Rhinow und dessen Ehefrau JeongAe Han-Rhinow eine unentbehrliche Hilfe.
  2. Daran erinnerten jüngst die deutsche Übersetzung und die Verfilmung (2017) von „Schweigen“, dem 1969 erschienenen Roman von Shusaku Endo.
  3. Vgl. hierzu die Zahlenangaben bei www.univie.ac.at/rel_jap/an/Grundbegriffe  (Abruf: 8.8.2018).
  4. Vgl. Franz Winter: Hermes und Buddha. Die neureligiöse Bewegung Kofuku no kagaku in Japan, Wien/Berlin 2012, 114.
  5. Martin Repp: Art. VI. Japanische Religionen, missionswissenschaftlich, in: RGG4, Bd. 4, Tübingen 2001, 384-387, hier 384.
  6. www.goipeace.or.jp/wp/wp-content/uploads/2016/09/declaration_de.pdf  (Abruf: 1.9.2018).
  7. www.worldpeace.de  (Abruf: 23.6.2018).
  8. Ebd., Kinder malen für den Frieden – Aufruf an Jugendliche.
  9. http://byakko.org/about-us/fuji-sanctuary-headquarters (Abruf: 18.6.2018): „Today, the sanctuary is a center for the transformation of human consciousness – a place where people transcend differences in religion, culture, and background to freely offer heartfelt prayers for peace on earth.“
  10. http://byakko.org/wp-content/uploads/2013/12/bsk-activities-pamphlet.pdf  (Abruf: 28.8.2018): The Power of Positive Words: „Our thoughts create an energy field strong enough to alter not only our own lives, but the future of the entire planet. As we draw positive energy into ourselves, we also help bring about peace on Earth with the amazing power of these words.“
  11. Vgl. http://byakko.org/wp-content/uploads/2013/12/bsk-activities-pamphlet.pdf  (Abruf: 28.8.2018).
  12. http://fujideclaration.org/about  (Abruf: 17.2.2016).
  13. Die Fuji-Erklärung, 2015. 3.
  14. Matthias Pöhlmann/Christine Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, Gütersloh 2015.
  15. Zu Einzelheiten dieser Neureligion: Franz Winter: Buddhas Wiedergeburt in Japan. Okawa Ryuho und die „Wissenschaft vom Glück“ (Kofuku no kagaku), in: MD 10/2007, 372-379; vgl. auch die umfassende religionswissenschaftliche Monografie: Franz Winter: Hermes und Buddha. Die neureligiöse Bewegung Kofuku no kagaku in Japan, Wien/Berlin 2012.
  16. Vgl. Friedmann Eißler: Ryuho Okawa erstmals in Berlin, in: MD 11/2018, 431-434.
  17. Sie sind dokumentiert in einem Buch, das wir später bei unserem Besuch bekommen sollten: Ryohu Okawa: Spirituelle Botschaften von Martin Luther. Seine Vision für eine neue Reformation, Tokio 2017.
  18. Vgl. die Aussage im Vorwort zu Ryuho Okawa: Die Wahrheiten über die spirituelle Welt. Ein Führer zu einem spirituellen glücklichen Leben, Tokio 2018: „Ich werde in diesem Buch belegen, dass ich den absoluten Beweis für die Existenz der Welt nach dem Tod besitze.“
  19. Vgl. Ryuho Okawa: Sei unbesiegbar. Mit Siegerdenken zu mehr Glück und Erfolg, Bielefeld 2015.
  20. Vgl. https://happy-science.org/activities/main-temples  (Abruf: 12.8.2018).
  21. Vgl. Monika Nawrot: Das „Büro im Wald“. Das neue Umweltbewusstsein in der japanischen religiösen Organisation Seichô-No-Ie, in: MD 1/2017, 14-18.
  22. Ausführliche Informationen zu Reiki unter www.weltanschauungen.bayern/sites/www.weltanschauungen.bayern/files/Was-News%20-%20Ausgabe%202017%20-%20Netz.pdf .
  23. Jay Sakashita: Shinnyoen and the Transmission of Japanese New Religions Abroad, 1998.
  24. Zu Mahikari vgl. Monika Nawrot: Multiple religiöse Identität. Dargestellt am Beispiel der Neureligion Sûkyô Mahikari, in: MD 10/2015, 378-384.
  25. www.mahikari.or.jp/en/contents0202.html  (Abruf: 30.8.2018): „The time of Heaven has come. Rise. Thy name shall be KOTAMA. Exercise the Art of Purification. The world shall enter severe times.“