Bernd Dürholt, Annette Kick, Oliver Koch, Matthias Pöhlmann

Frieden, Vergöttlichung, Unsterblichkeit

Auf den Spuren neuer religiöser Bewegungen und Neureligionen in Japan und Südkorea - Teil 3

Feldforschungen zu Neureligionen und neuen religiösen Bewegungen führten die Autoren dieses Beitrags – Weltanschauungsbeauftragte verschiedener Landeskirchen – im Mai 2018 nach Japan und Südkorea. Nach den Teilen 1 und 2 ihres Berichts (MD 4/2019, 134-142; 5/2019, 175-180) folgt nun Teil 3: Die Autoren besuchen in Seoul u. a. die Neuoffenbarungsreligion Shinchonji und die Yoido Full Gospel Church, die größte Gemeinde der Welt.

Shinchonji

Shinchonji, eine koreanische Neuoffenbarungsreligion um den Gründer Man-Hee Lee, ist eine der konfliktträchtigsten und problematischsten Gruppen in Südkorea. Mittlerweile beschäftigen sich diverse Medien, Aussteigerberater und Kirchen mit Aufklärungsprogrammen und Hilfsangeboten rund um Shinchonji. Außerdem wird man auf Schritt und Tritt beim Besuch von Kirchen mit dem Problem konfrontiert. Nahezu an jedem Kircheneingang in Seoul hängen Aufkleber der Aktion „SCJ OUT“, die Shinchonji-Missionaren den Zutritt verbietet und die Kirchenmitglieder zur Wachsamkeit auffordert.

Wir führten Gespräche mit einigen Journalisten sowie einem ehemaligen Angehörigen der Führungsriege von Shinchonji, der nun Aussteigerprogramme durchführt, und konnten den großen „Friedensmarsch“ von Shinchonji besuchen. Es würde zu weit führen, alle Einzelgespräche und Hintergründe wiederzugeben. Eingegangen wird auf die drei hauptsächlichen Missionsstrategien, die Person Man-Hee Lees und die Art der Aufklärungs- und Hilfsangebote in Südkorea. Es folgt ein kurzer Bericht vom Besuch des Friedensmarsches.

Die Missionierungsstrategien von Shinchonji waren auch in Korea neu und haben mit ihrer Intensität und militärisch durchgeführten Strategie die betroffenen Kirchen völlig überrascht. Ein erstes typisches Merkmal ist die persönliche Missionierung Einzelner. Die unermüdliche und strategisch geplante Missionierung an der Basis hat zum schnellen Wachstum der Gruppierung geführt. Dabei bedient man sich einer Mixtur von Methoden des Geheimdienstes, der Tarnung und Täuschung, des Theaters und von Elementen der Assessment-Analyse. Eine zu missionierende Person wird dabei von einem 10- bis 15-köpfigen Missionsteam in den Blick genommen und mit einer Strategie bearbeitet, die sich in acht Phasen einteilen lässt.

1. Informationen sammeln: Ohne dass die zu missionierende Person es weiß, werden persönliche Informationen über sie gesammelt und gespeichert. Von der Blutgruppe bis hin zur familiären, finanziellen und sozialen Situation werden bis zu 150 Punkte pro Person abgefragt.

2. Spionieren: Durch Belauschen etwa von Fürbittgebeten (die in Korea meist laut gesprochen werden) werden Informationen aus dem Glaubensleben gesammelt.

3. Kategorisieren: Nach vorgegebenen Shinchonji-Maßstäben wird die Person eingeordnet. Grundsätzlich werden Personen im Alter zwischen 22 und 61 missioniert. Sie müssen gesundheitlich fit sein, finanziell selbständig und psychisch gesund. Sie sollten auch gläubig sein, aber dem Pastor der Gemeinde nicht zu nahestehen.

4. Gewinnen: Auf Basis der gesammelten Daten wird im Missionsteam entschieden, ob die Person missioniert wird oder nicht. Ein „Schauspiel“ wird vorbereitet und die zu spielenden Rollen im Team verteilt.

5. Angepasste Mission: Das Theater beginnt. Bei „zufälligen“ Kontakten wird die zu missionierende Person exakt mit ihren „Themen“ angesprochen. Vertrauen soll aufgebaut werden.

6. Erfahrene Mitglieder: Nach der angepassten Missionierung kommen erfahrene Mitglieder ins Spiel. Hier können auch persönliche Freundschaften oder gar Partnerschaften vorgespielt werden. 7. Maßgeschneiderte Strategie: Die Informationen über die Person werden immer mehr und das Vertrauen bei ihr selbst wird immer größer. Es wird im Team weiter an der maßgeschneiderten Strategie gearbeitet.

8. Beginn der Ausbildung: Nun kann die Person in eine als harmloses Biblecenter getarnte Shinchonji-Ausbildungsstätte gebracht werden. Dort beginnt dann der Bibelkurs, der, außer mittwochs, täglich stattfindet. Während der gesamten Missionierung werden tägliche Berichte angefertigt, die immer von drei Personen geschrieben werden: Dem Missionierenden, einem Ausbildenden und einem Überwachenden.

Ein weiteres typisches Merkmal von Shinchonji ist die Strategie der Übernahme ganzer Gemeinden durch Infiltration. Diese Strategie wurde ab 2000 ausgerufen und steht unter dem Slogan „Gemeinden sind unser Futter“. Auch hier gibt es verschiedene Stufen; sie sollen auch in Deutschland Anwendung finden.

1. Shinchonji-Missionare besuchen Gottesdienste und Gemeindekreise. 2. Sie sammeln Informationen über Inhalte und Organisationsstrukturen der Kirche. 3. Sie werden ein eifriges Mitglied der Gemeinde und gewinnen das Vertrauen der Mitglieder. 4. Sie kategorisieren Gemeindeglieder danach, wer gut zu Shinchonji passen würde (s. o.). Dieser Punkt ist der wichtigste und wird sorgfältig dokumentiert. 5. Sie machen selbst als Führungsperson in der Gemeinde mit: Durch Übernahme von Leitungsfunktionen arbeitet man sich langsam in eine führende Position und hat Entscheidungskompetenzen. 6. Sie bringen weitere Shinchonji-Anhänger mit: Die (noch) bestehende Gemeinde wird durch Shinchonji-Mitglieder regelrecht geflutet. 7. Es folgt die komplette Übernahme der Gemeinde und die Überführung in Shinchonji.

Als drittes typisches Merkmal sind die Mega-Events und Friedensdeklarationen zu nennen, die eine begleitende Funktion haben. Shinchonji führt sie immer wieder durch, um der Organisation eine positive Reputation zu verschaffen. Es werden in großen Stadien riesige Shows oder „Friedenskongresse“ veranstaltet und dazu hochrangige religiöse und weltliche Führungspersönlichkeiten eingeladen. Solche Aktionen heißen zum Beispiel „WARP – World Alliance of Religions for Peace“ oder „DPCW – Declaration of Peace and Cessation of War“.

Dem 88-jährigen Gründer Man-Hee Lee soll es gesundheitlich schlecht gehen, obwohl er sich selbst als unsterblich bezeichnet. Fotos aus dem Krankenhaus haben anscheinend zu einigen Austritten geführt. Große Sorgen machen sich die Experten über die Situation, die entstehen könnte, wenn Man-Hee Lee stirbt. Sie befürchten eine große Anzahl an Suiziden. Über Man-Hee Lee kursieren diverse negative Berichte von Investigativjournalisten. So soll er in verschiedene Beziehungsskandale verwickelt gewesen sein. Daneben entbrennt wohl zurzeit ein erbitterter Streit um seine Nachfolge.

Man Hee-Lee scheint nicht besonders charismatisch zu sein. Kenner berichteten, dass das Hauptfaszinosum für Shinchonji-Anhänger nicht von ihm als Person, sondern von der reinen Quantität der Lehre ausgehe. Ein Journalist sprach davon, dass die Menschen regelrecht „besoffen“ von der Lehre Shinchonjis würden. Es gebe in Korea keine weitere Gruppe, die solch eine Masse an Lehre verbreite wie Shinchonji. Dazu werden diverse Medien genutzt, neben einer eigenen Tageszeitung auch TV-Kanäle und natürlich das Internet. Shinchonji-Mitglieder würden dazu angehalten, nur noch die eigenen Medien zu konsumieren, wodurch eine Art „Informationsblase“ entstehe und man keine Möglichkeit mehr habe, sich anderweitig zu informieren. Im klaren Dualismus der Gruppe werde alles außerhalb von Shinchonji verteufelt, sodass Shinchonji-Anhänger in ihrer eigenen Welt leben.

In diesem Kontext war es interessant zu sehen, welche Aufklärungs- und Informationsangebote es in Korea in Bezug auf Shinchonji gibt. Die (vor allem presbyterianischen) großen Kirchen wie PROK und PCK arbeiten dabei mit Journalisten zusammen. Vor allem versucht man, mittels der Medien über die Strategien und vor allem die Tarngemeinden von Shinchonji aufzuklären. Aktivisten und Betroffenengruppen recherchieren dazu, stellen sich dann vor Ort mit Schildern vor die Gebäude und kennzeichnen sie als Shinchonji-Einrichtungen. Darüber hinaus gibt es Schulbücher und Comics, in denen die Missionsstrategien dargestellt werden. Die flächendeckende „SCJ-OUT“ Kampagne wurde schon erwähnt. Ein Journalist beschrieb die Dramatik der Situation mit den Worten: „Ich vermute, dass es keine Gemeinde oder Kirche in Korea gibt, in der nicht ein Shinchonji-Mitglied ist!“

Beratung für Betroffene und Aussteiger wird ebenfalls angeboten. Ein Berater berichtete uns, dass er die Missionierungstaktik von Shinchonji quasi „umdrehe“ und die Aussteiger Schritt für Schritt und mühevoll regelrecht traktiere, indem er die Behauptungen Shinchonjis Schritt für Schritt als falsch entlarve. Dabei scheint wohl auch nicht alles ganz ohne Druck abzulaufen; es ist eine Methode, die man kritisch betrachten muss.

Vom Enthusiasmus der Anhänger Shinchonjis konnten wir uns dann bei einem Besuch des Friedensmarsches überzeugen, der jährlich am 25. Mai in Seoul und weltweit stattfindet. Erstaunlicherweise wurde als Ort bis einen Tag vorher der Olympiapark am „Peace Gate“ angegeben, die Veranstaltung dann aber an einen geheimen Ort verlegt, anscheinend aus Angst vor Gegendemonstrationen von Kritikern. Nach einer abenteuerlichen Suche fanden wir den Ort am Ufer des Hangang-Flusses. Ca. 20 000 bis 30 000 Teilnehmer, vor allem junge Menschen, hatten sich versammelt und jubelten ihrem Führer Man-Hee Lee und den diversen Gästen zu. Auffällig waren die vielen in schwarze Anzüge gekleideten Shinchonji-Sicherheitsleute, die einen bedrohlichen Eindruck machten und die Menschen genau im Blick hatten. Diverse Shinchonji-Organisationen präsentierten sich mit eigenen Informationsständen und verschiedenen Unterschriftenaktionen. Auf unsere Frage, worum es denn dort inhaltlich gehe, antwortete man, das sei nicht so wichtig, wir sollten einfach unterschreiben. Der Marsch startete dann, angeführt von Man-Hee Lee und gesäumt von hunderten positionierten Shinchonji-Anhängern, die ihrem Führer begeistert zujubelten.

Nach diesen intensiven Erfahrungen und den Berichten verschiedener Herkunft über die Aktivitäten, das weltweite Sendungsbewusstsein, die streng militärisch anmutende Struktur und den Exklusivitätsanspruch der Gruppierung kann davon ausgegangen werden, dass wir auch in Deutschland noch einiges mit Shinchonji zu tun haben werden – vorausgesetzt, das Ableben Man-Hee Lees führt nicht zu einer völligen Zersplitterung.

Besuch bei einer Schamanin

Die Schamanin Sun-Deok Jeong empfing uns in ihrer Praxis in Seoul. Ihre Aufgaben erstrecken sich über Beratung, Wahrsagen, Exorzismen unter Verwendung von Zaubersprüchen, Opfer (Gosa) bis hin zum Gut, das bei existenziellen Problemen praktiziert wird. Dabei handelt es sich um die bekannteste und auch zentrale Zeremonie des Schamanismus.

Sie sei seit ihrem siebten Lebensjahr Schamanin. Mit 15 habe sie begonnen, regelmäßig zu beten, ab einem Alter von 21 vertieft. Dazu ziehe sie sich auch ins Gebirge zurück. In der Praxis des Gebets sei sie am glücklichsten und erlange dabei auch Einsicht in die jenseitige Welt. Durch das Gebet habe sie sich von einer berühmten zu einer vollmächtigen spirituellen Schamanin entwickelt.

Sun-Deok Jeong unterscheidet zwischen Besessenheitsschamaninnen, die wie sie selbst durch eine leidvolle Erfahrung zur Schamanin berufen worden seien, Erbschamaninnen und sogenannten Lernschamaninnen. letzteren stehe sie durchaus kritisch gegenüber. Sie warnt vor Scharlatanen. Aus Angst vor Falschberufungen werden zu den derzeit ca. 200 000 Schamaninnen in Südkorea keine Neuberufungen mehr ausgesprochen.

Eine echte Schamanin aber sei erkennbar. Sie pflege eine Beziehung zu den Göttern und halte die strikte Hierarchie zwischen Lehrerin und Schülerin ein. Am Leben der Schamanin sei ablesbar, ob die Götter ernst genommen werden oder ob sie sich selbst in den Mittelpunkt stelle. Es gehe primär darum, den Göttern zu dienen und den Menschen zu helfen. Darauf ziele auch das Tun der Götter ab. Wenn diese nicht ernst genommen würden, könnten böse Dämonen über den Lebensatem in den Menschen eintreten. Sie als Schamanin müsse helfen, die Menschen davon zu befreien. Dies sei früher einfacher gewesen. Heute aber seien die Geister satt, schlau, gebildet und hinterhältig.

Als Schamanin sei sie von Geistern berufen und von Göttern besessen. Mehr als 10 000 Götter und Naturgottheiten sollen existieren. Dabei gebe es spezielle Gottheiten, wie den Berufungsgott, der als persönlicher Gott der für sie ranghöchste sei. In ihr habe Dangun, der Legende nach Gründer des ersten koreanischen Königreiches „Go-Joseon“, „Wohnung genommen“. Sun-Deok Jeong beschreibt ihn als Urvater der Menschheit, Schöpfergott des Himmels und der Erde. Eine große Schamanin könne durchaus mehrere Götter haben. Neben lokalen Göttern gebe es Universalgötter, die regional nicht gebunden seien und mit ihrer Schamanin auf Reisen gehen können.

Auf die Frage, wie ihre Vorstellung vom Leben nach dem Tod sei, zeichnete sie ein Bild von drei Leben: eines vor diesem Leben, eines im Jetzt und eines nach dem Tod. Die Jenseitswelt schiebe sich zwischen Erde und Kosmos. Als Schamanin habe sie in die Zukunft blicken und sehen können, was nach ihrem Tod kommen werde. Sie sei zufrieden mit dem, was sie gesehen habe.

Ihren Tagesablauf, der klar strukturiert ist, beschrieb die Schamanin so: 22 bis 2 Uhr schlafen, bis 5 Uhr beten, bis 9 Uhr schlafen, von 11 Uhr bis 16 Uhr Tätigkeit.

Es war ein eindrucksvolles Gespräch. Mit dem Neoschamanismus, der in Deutschland als „Lebenshilfe“ angeboten wird, hatte diese Begegnung nichts zu tun.

Yoido Full Gospel Church

Ein Höhepunkt unserer Reise war der Besuch der Yoido Full Gospel Church (YFGC), der mit ca. 550 000 Mitgliedern größten Megachurch der Welt. Vor 60 Jahren wurde die Pfingstkirche von David Yonggi Cho gegründet und wuchs als Verkünderin des Wohlstandsevangeliums parallel zum Wohlstand des Landes.

Wer sich mit der Pfingstbewegung befasst, kennt Yonggi Cho als extremen Vertreter, teilweise auch Erfinder, fast sämtlicher problematischer neucharismatischer Lehren und Praktiken. Am bekanntesten ist das Versprechen von Heilung und materiellem Wohlstand für die Glaubenden. Welchen Anteil an der besonderen Ausprägung des pfingstlichen Glaubens der Schamanismus Koreas und welchen die enge Verbindung mit amerikanischen Pfingstkirchen und -predigern hatte, ist in der Forschung umstritten.

Das Modell, dass Gemeinden unbegrenzt durch die Bildung von homogenen Hauszellen wachsen, die sich immer wieder neu teilen, wollten viele Neucharismatiker auch in Deutschland verwirklichen, mit nur mäßigem Erfolg. Von der hiesigen Auseinandersetzung mit neucharismatischen Lehren eher kritisch eingestimmt auf Praxis und Lehre der YFGC, waren wir erstaunt, dass keiner unserer Gesprächspartner die Gemeinde mehr auf der Seite der „Häresien“ sah, sondern auf der Seite der Mainline-Kirchen. Ein Weltanschauungsexperte, mit dem wir sprachen, Sang-hyun Paek, war sogar Journalist bei Kuki News, einer von YFGC gegründeten Zeitung. Der in Südkorea lehrende Theologe Malte Rhinow erzählte uns, dass die Theologie der YFGC schon lange nicht mehr so extrem sei. Auch durch den Einfluss Jürgen Moltmanns, der mit Cho befreundet sei, werde das Erfolgschristentum abgeschwächt oder ergänzt durch Zuwendung zu ärmeren Schichten, soziales Engagement und weltweite Mission.

Hui-yeon Kim1 zeigt auf, wie stark Lehre und Praxis der YFGC auch von nichtreligiösen Faktoren geprägt waren und sind: Die Megachurch hat alle politischen und gesellschaftlichen Umschwünge Südkoreas mitgemacht, begleitet und verstärkt; die extreme Ausprägung des Wohlstandsevangeliums begleitete die Zeit des Kalten Krieges und der starken wirtschaftlichen Entwicklung als Gegenmodell zum kommunistischen Norden. Heute unterstützt die Gemeinde die Versöhnungspolitik gegenüber dem Norden und hat dort humanitäre Projekte gegründet, z. B. ein Krankenhaus. Die Botschaft der Gemeinde in ihrer Mission in und außerhalb Koreas sei nun: Mit Gott und den christlichen Tugenden kann man eine so schwere Geschichte, wie Südkorea sie hatte, überwinden und gut leben.

Wir besuchten das zentrale Kirchengebäude der YFGC auf der Insel Yoido, ein imposantes halbrundes, tempelartiges Gebäude mit 20 000 Sitzplätzen, dessen räumlicher Nähe zur Regierung Südkoreas auch die Unterstützung der jeweiligen Regierungspolitik entspricht. Wir nahmen an einem der Hauptgottesdienste teil (es finden sieben sonntägliche Gottesdienste statt), in dem der Nachfolger Chos, der Seniorpastor Young Hoon Lee, predigte.

Die Besucherscharen versammelten sich vor dem Gebäude, da der vorhergehende Gottesdienst noch im Gange war. Die 80-Minuten-Taktung der Gottesdienste ist bestens organisiert und läuft reibungslos ab. Vor dem Eingangsbereich stehen Yonggi Cho und der Nachfolger als überlebensgroße Pappfiguren, mit denen man sich fotografieren lassen kann. Spendendosen aus Plastik wurden verteilt.

Endlich ergoss sich der Besucherstrom über die große Freitreppe. Es waren deutlich mehr Frauen als Männer, schwerpunktmäßig 50 bis 70 Jahre alt – also ein anderes, älteres Publikum als bei neucharismatischen Gottesdiensten in Deutschland. Die Ordner, die den Eingangsbereich freihielten, riefen den Herausströmenden immer wieder, die Faust reckend, in kämpferischem Ton entgegen: „Seid siegreich!“ Teilweise wurde der Ruf von den Besuchern erwidert.

Der Gottesdienst fand in einem riesigen, in warmen Farbtönen gehaltenen Gottesdienstraum statt (eher Theateratmosphäre als die Popkonzert-Atmosphäre in deutschen „Megachurches“) und hatte den Charakter einer präzise durchgetakteten Bühnenshow. Der Ablauf mit 13 Programmpunkten (die Predigt war noch einmal in sieben Unterpunkte gegliedert) war in einem Programmheft abgedruckt, ebenso fanden sich dort die Bibeltexte. Diese wurden an den betreffenden Stellen auch auf großen Leinwänden auf Englisch eingeblendet.

Zwei Chöre gestalteten den Gottesdienst mit. Zum einen gab es eine kleine Sängergruppe, die wie in einer Varietéshow vom Bühnenrand aus in auffälliger Kleidung (gelb und schwarz) Songs darbot. Zum anderen trat ein sehr großer Chor auf. Die Sänger hatten sich, in weiße Chorhemden gekleidet, neben der Bühne aufgestellt. Sie sangen einstimmig, begleitet von einem großen Orchester. Die Musik hatte meist den Charakter von flotter Schlagermusik. Wie wir hörten, sang in jedem der Gottesdienste ein anderer Chor.

In den Fürbitten wurde zunächst für die eigene Gemeinde gebetet, dann für die Nation, die Wiedervereinigung Koreas, Gesundheit für alle, das Wachsen der Wirtschaft etc. Die Fürbitten richteten sich tatsächlich an Gott. Es waren keine Proklamationen.

Der Seniorpastor nahm vor der Predigt die Bitte um Wiedervereinigung auf (zur Zeit unserer Reise war die mögliche politische Annäherung von Süd- und Nordkorea ein stark diskutiertes Thema). Er selbst und die Gemeinde beteten dafür leidenschaftlich in Zungen.

Die Predigt über Markus 16,15-18 und Matthäus 28,18-20 war von der wenig enthusiastischen Redeweise, den Beispielgeschichten und den Themen her über weite Strecken ein evangelistischer Aufruf zu Glauben und Mission, wie er in evangelikalen Gottesdiensten üblich ist. Erst im zweiten Teil wurden mit dem unechten Markusschluss typisch pfingstlich-charismatische Themen und Wundererwartungen angesprochen: Dämonen austreiben, Schlangen hochheben und ihr Gift trinken, ohne Schaden zu nehmen, Heilung. Die Predigt steuerte hier eindeutig den in radikalen Pfingstgemeinden üblichen Deutungen entgegen: Nicht geheimnisvolle übersinnliche Wesen wurden als Dämonen gedeutet, sondern „Böses, falsche Wege, ein mörderischer Geist“. Als Beispiel für einen „dämonischen“ Geist nannte der Prediger die Spielsucht eines Menschen, der alles Geld ins Casino trägt. Die Schlangen deutete er symbolisch als Schlangen im Herzen wie Ungehorsam, Lügen, die es gelte wegzuwerfen, und das Gift deutete er als Hass, Ärger, üble Nachrede etc.

Auch das Thema Heilung nahm Lee differenziert auf: Gott heile auch durch Ärzte, aber manche Krankheiten könnten nur durch Gott geheilt werden. Die Heilungen Reinhard Bonnkes pries er allerdings als gute Missionsmethode. Beim späteren Gebet um Heilung wurden die Gottesdienstbesucher zwar gebeten, die Hand auf kranke Stellen zu legen, sofortige wunderhafte Heilung wurde aber nicht suggeriert.

Der Altarruf, der in manchen neucharismatischen Gemeinden mit viel Druck, mit Prophetien und Proklamationen daherkommt, fiel relativ nüchtern aus: Wer Jesus an diesem Tag annehmen wolle, solle ein Übergabegebet nachsprechen.

Mit hochprofessionellen Videos von missionarischen Projekten und mit Nachdruck wurde zu Spenden aufgerufen. Nicht nur große Säcke gingen durch die Reihen, sondern auch verschiedene Zettel, vermutlich mit Einzugsermächtigungen zum Ausfüllen. Man solle jetzt eine Entscheidung treffen, hieß es. Die Kamera zeigte Hände, die den blauen Zettel ausfüllen. Die Säcke mit dem Opfer wurden auf einem gläsernen Altar zu einem beeindruckenden Haufen gestapelt.

Bei den Abkündigungen wurden wir als deutsche „Sektenforscher“ begrüßt, die aus dem Land des verehrten und geliebten Herrn Moltmann kommen. Niemand kam offenbar auf die Idee, die Megachurch könne Beobachtungsgegenstand der „Sektenforscher“ sein. Tatsächlich hatten wir keine extremen pfingstlichen Lehren und Praktiken beobachten können. Beeindruckend waren die großen Zahlen, die perfekte Organisation und Performance, und wir hatten den Eindruck, dass diese Gemeinde mit ihrer Nähe zur politischen Führung wirklich ein Machtfaktor in Korea ist, vielleicht auch im Unterschied zu den extrem zersplitterten protestantischen Kirchen.

World Mission Society/Weltmissionsverein

Am Ende unserer Reise besuchten wir die „World Mission Society Church of God“. In Deutschland hatte es zu dieser Gemeinschaft, die hier als „Gemeinde Gottes des Weltmissionsvereins“ in Erscheinung tritt, bei Beratungsstellen Anfragen gegeben.

Obwohl wir unangekündigt kamen, wurden wir freundlich empfangen und konnten mit drei Mitarbeiterinnen sprechen. Dabei ging es schnell ans „Eingemachte“: Man müsse alles vom Passah her betrachten. „Wann feiern die Menschen Abendmahl? Die einen so, die anderen so. Aber wann hat Jesus Abendmahl gefeiert und wie oft? Wenn sich doch alle an sein Vorbild halten würden wie der Weltmissionsverein!“

Der Dank für diese Erkenntnis gebühre Ahnsahnghong. Geboren 1918 in Korea wurde er 1958 in einer adventistischen Gemeinschaft getauft. 1964 gründete er die „Gemeinde Gottes“, zunächst unter der Bezeichnung „Witnesses of Jesus Church of God“. Im Jahre 1985 schließlich habe er sich auf Himmelfahrt begeben.

Nachdem die Phasen des Vaters und des Sohnes vergangen seien, sei mit Ahnsahnghong die Zeit des Heiligen Geistes angebrochen. In ihm sehe man sich dazu gleichzeitig dem Vater und dem Sohn gegenüber. „Die Gemeinde Gottes glaubt, dass Jesus, der zur Zeit des NT als Sohn Gottes kam, Jehova im AT ist, und dass der gemäß der biblischen Prophezeiung in diesem Zeitalter wiedergekommene Jesus Christus (der Heilige Geist) gerade Christus Ahnsahnghong ist.“2 Wer ein anderes Verständnis habe, habe keine Ahnung von trinitarischem Denken. In dieser Simultanfunktion stelle Ahnsahnghong „Gottvater“ dar.

So weit, so verwirrend, erweitert der Weltmissionsverein seine Gottesvorstellung noch um „Gottmutter“, „das entscheidendste Merkmal der Gemeinde Gottes“3. Begründet wird die Existenz von „Gottmutter“ u. a. mit dem hebräischen Begriff Elohim (wörtlich: Götter). Verwiesen wird auch auf die Notwendigkeit eines väterlichen und eines mütterlichen Aspekts etwa im Schöpfungslied in Gen 1. Letztlich scheint die „Gemeinde Gottes“ zu diesen Gedankenspielen und den damit verbundenen Kompetenzbeschränkungen des trinitarischen „Gottvaters“ gezwungen zu sein, um die für sie so zentrale Vorstellung der „Gottmutter“ legitimieren und erklären zu können. Auch wenn das irdische Dasein der „Gottmutter“ nicht bedeutend sei, begegnet sie ihren Gläubigen ganz konkret in der 1943 geborenen und 1969 im Weltmissionsverein getauften Gil-Ja Jang, die nach Gal 4,26 als „Neues Jerusalem“ verehrt wird.

Neben dem Passah werden u. a. Pfingsten und das Laubhüttenfest begangen. Gottesdienst feiert die Gemeinschaft am Sabbat, was wohl auf die adventistischen Wurzeln Ahnsahnghongs zurückzuführen ist.

Neben ihrer Zentrale, dem Tempel „Neu-Jerusalem“ in Pangyo/Südkorea unterhält die „Gemeinde Gottes“ diverse Ausbildungszentren, ein „Theologisches Seminar“ und ein „historisches Museum“. Nach eigenen Angaben (Stand 2017) gibt es in Korea 500 und weltweit etwa 7000 Gemeinden mit ca. 2,8 Millionen eingetragenen Mitgliedern. Angestrebt seien 70 000 Gemeinden. Im Gespräch gab es auf die Frage, ob es denn auch andere Kirchen gebe, die die Bibel richtig verstehen, die klare und eindeutige Aussage, einzig und allein der Weltmissionsverein sei wahre Kirche.

In Deutschland unterhält der Weltmissionsverein Niederlassungen in Berlin, Hamburg, Stuttgart, Düsseldorf, München, Konstanz, Augsburg, Essen, Frankfurt, Köln, Dortmund und Bremen. Öffentlichkeitswirksam sind regelmäßig wiederkehrende Umwelt- und auch Blutspendeaktionen.

Neue Religionen in Zeiten der Globalisierung – ein Fazit

Die Welt der neuen religiösen Bewegungen und Weltanschauungen hat längst begonnen, sich zu internationalisieren und zu globalisieren. Weltweite charismatische Aufbrüche, Pluralisierungsprozesse in traditionellen Religionen und eine Revitalisierung von Religion inmitten sich säkularisierender Gesellschaften (Südkorea) spielen inzwischen eine bedeutende Rolle.

Bewusst knüpfen die unterschiedlichen Neureligionen an die tiefe Friedenssehnsucht vieler Menschen in einer sich rasch verändernden, von vielfältigen politischen und gesellschaftlichen Krisenherden gekennzeichneten High-Tech-Zeit in Japan und Südkorea an und verheißen, diese Sehnsucht zu stillen.

Die Risiken und Nebenwirkungen straff organisierter Gruppen wurden uns besonders in Seoul vor Augen geführt. Oft steht ein – nach außen hin völlig „uncharismatisch“ wirkender – religiöser Führer an der Spitze, der als eine Art „Friedensmessias“ in Erscheinung tritt und für sich Unsterblichkeit proklamiert.

Südkoreanische Neureligionen mit stark hierarchischer Organisationsstruktur haben schon längst begonnen, in Deutschland missionarisch in Erscheinung zu treten. Die Studienreise bot die Möglichkeit, den religiös-weltanschaulichen Kontext der Megastädte Tokio und Seoul kennenzulernen. In Südkorea wurde uns deutlich, dass das Christentum dort für das Entstehen von neuen religiösen Bewegungen ein fester Bezugspunkt bleibt.

In der Begegnung, im Gespräch und im kritischen Diskurs mit den Mitgliedern einzelner Gruppen konnte unsere Studiengruppe das jeweilige Profil und die Arbeitsweise einzelner Gruppen – vom hochmotivierten, mitunter fanatischen missionarischen Engagement bis hin zu gezielten Rekrutierungsstrategien – kennenlernen. Die Konfliktträchtigkeit einzelner Neureligionen wurde uns deutlich vor Augen geführt. Für die Informations- und Beratungsarbeit in Deutschland konnte die kleine Studiengruppe wichtige Erkenntnisse gewinnen, im Blick auf die Bedeutung des kulturellen Kontextes für die Entstehung neureligiöser Bewegungen und Neureligionen wurden Verstehenshorizonte eröffnet.


Bernd Dürholt, Annette Kick, Oliver Koch, Matthias Pöhlmann


Anmerkungen

  1. Zur Entwicklung der Theologie und der gesellschaftspolitischen Ausrichtung der YFGC s. Hui-yeon Kim in: Handbook of East Asian New Religious Movements, hg. von Lukas Pokorny und Franz Winter, 2018, 343ff.
  2. https://watvwelcome.org/de/truth  (20.12.2018).
  3. Ebd.