Daniel Heinz (Hg.)

Freikirchen und Juden im „Dritten Reich“. Instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld

Daniel Heinz (Hg.), Freikirchen und Juden im „Dritten Reich“. Instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld, V&R unipress, Göttingen 2011, 343 Seiten, 49,90 Euro.


Nach wie vor nehmen in der ausgedehnten Literatur zur kirchlichen Zeitgeschichte in der NS-Zeit die Freikirchen nur einen schmalen Raum ein. Relativ spät erst hat die Aufarbeitung dieser Zeit dort eingesetzt; selbstkritische offizielle Stellungnahmen von Leitungsgremien sind frühestens in den 1980er, 1990er Jahren zu verzeichnen. Auch nennenswerte wissenschaftliche Publikationen dazu aus der freikirchlichen Geschichtsschreibung gibt es erst seit dieser Zeit. Einen wichtigen weiteren Schritt markiert nun dieser Überblicks-Sammelband, der speziell das Verhältnis einer Reihe von Freikirchen zum Judentum in den Jahren 1933 bis 1945 thematisiert, und zwar mit einer doppelten Fragestellung: Was wurde damals in Lehre, Praxis und Publikationen zum Judentum und zu seiner Verfolgung im NS-Staat gesagt und nicht gesagt? Und wie sind die einzelnen Freikirchen mit „Judenchristen“, also Konvertiten oder deren Kindern, in ihren Gemeinden umgegangen? Für die folgenden Freikirchen wird dies in Beiträgen aus der Feder eines Historikers resp. einer Historikerin aus den eigenen Reihen nachgezeichnet: Baptisten, Methodisten, Brüderbewegung (Darbysten), Herrnhuter Brüdergemeine, Siebenten-Tags-Adventisten, Pfingstler, Freie evangelische Gemeinden und die Vorläufer der heutigen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) sowie Mennoniten und Quäker. Ergänzt wird dies durch zwei konfessionsübergreifende Texte zur freikirchlichen Wahrnehmung und Deutung des Judentums im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, also in der Vorgeschichte der NS-Zeit, sowie einige Schlaglichter auf die Haltung der Freikirchen in Österreich zur Zeit des Nationalsozialismus.Bei der Durchsicht der Texte fällt auf, wie überaus ähnlich die meisten Freikirchen – ungeachtet ihrer unterschiedlichen theologischen Tradition – auf die nationalsozialistische Herausforderung reagierten. Drei Beobachtungen treffen (mit Ausnahme der Quäker!) auf praktisch alle hier vertretenen Denominationen zu:

1. Es gibt eine nahezu bruchlose Anpassung an den gängigen bürgerlich-völkischen Antisemitismus. Der machte vor allem das moderne Judentum zum Hauptverantwortlichen für Entkirchlichung, Sittenverfall und Materialismus in der modernen Gesellschaft. Der Einfluss dieses Judentums in Presse, Justiz, Politik und Kultur gilt als übergroß und zersetzend, eine – auch mit Mitteln harter Diskriminierung erreichte – staatliche Eindämmung dieses Einflusses wird ausdrücklich begrüßt. Biologisch-rassistische Begründungen werden nicht unbedingt rezipiert; es wird ihnen aber auch nichts entgegengesetzt. Teilweise werden das orthodox-gläubige Judentum und das Alte Testament ausdrücklich von dieser Kritik ausgenommen, teilweise aber auch nicht. Hingegen wird fast durchgängig die Unterschiedlichkeit von Völkern und Rassen als gottgewollte Schöpfungsordnung geadelt und eine „Mischung“ von Völkern und Rassen als Verstoß dagegen gebrandmarkt. Selbst die Höherwertigkeit einiger Rassen (speziell der eigenen natürlich) wird in auffallend vielen Denominationen als natürlich und göttlich postuliert; eine gesetzliche Diskriminierung angeblich rassisch Minderwertiger wird von daher hingenommen oder gar befürwortet. Lediglich ein emotional grober „Rassenhass“ gilt als unchristlich.

2. Wie aber steht es um die theologische Bewertung des Judentums, von dem bekanntlich manche radikalen Kräfte der „Deutschen Christen“ das Christentum völlig säubern wollten? Solche Bestrebungen sind in den Freikirchen kaum zu beobachten, wenngleich bisweilen betont wird, das Alte Testament sei „Gottes Buch, nie der Juden Buch“ (zit. 168). Weniger gut als das alte kommt das aktuelle Volk Israel davon. Insbesondere endzeitlich spekulierende Theologen (z. B. bei Darbysten und Pfingstlern) geben den Juden zwar eine Rettungschance am Ende der Zeiten und rechnen sogar teilweise mit der vorherigen Sammlung des jüdischen Volkes in Palästina. Vor solchen Spekulationen erscheint freilich die aktuelle Verfolgung und Vertreibung der Juden aus Deutschland nicht nur tolerabel, sie kann geradezu als notwendige Etappe der Heilsgeschichte gedeutet werden! In dieser Perspektive nutzt Gott die Pogrome, um die Juden dahin zu führen, wo ihr endzeitlicher Platz ist, nämlich nach Palästina. Zu Recht konstatiert der Autor des Artikels zur Brüderbewegung, Andreas Liese, „dass damit der Antisemitismus wieder und noch ausgeprägter heilsgeschichtlich legitimiert wurde“ (88). Konrad Nagel, Pastor des SELK-Vorläufers ELKP, betonte, das auserwählte Volk stehe „jetzt unter Gottes Gericht, und unser Volk ist bei diesem Gericht Gottes Werkzeug“ (zit. 226). Konsequent weitergedacht wäre dann ein Protest gegen diese judenfeindliche Politik der Nazis oder das Verstecken verfolgter Juden nicht nur ein Verstoß gegen staatliche Gesetze, sondern gegen den göttlichen Willen und Heilsplan!

3. Da verwundert es nicht, dass Fluchthilfe und Rettung von Juden in fast allen hier vertretenen Freikirchen nur als mutige Tat einzelner Mitglieder überliefert ist. Einen Auftrag zu (nach Maßgabe der Kräfte) organisierter Hilfeleistung spürte man nicht und sah in den ersten Jahrzehnten nach 1945 auch keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen – auch nicht dafür, dass man im Umgang mit eigenen judenchristlichen Mitgliedern oder Amtsträgern zwischen christlicher Einsicht und staatlicher Loyalität oft hin und her eierte. Einerseits sah man theologisch klar: Der getaufte Jude gehört ohne Wenn und Aber zur christlichen Gemeinde. Andererseits sah man sich, insbesondere in diakonischen Einrichtungen, auf staatliche Akzeptanz angewiesen. Andrea Strübind bescheinigt etwa den Baptisten „eine zunehmende Distanzierung von judenchristlichen Gemeindegliedern ..., die nicht generell ausgeschlossen wurden ..., denen jedoch Zurückhaltung vom Gemeindeleben und vom Gottesdienstbesuch nahegelegt wurde“ (173). An adventistischen Versammlungsräumen im besetzten Tschechien hing seit 1941 ein zweisprachiger Warnhinweis: „Für Juden verboten!“ (zit. 293). Um manche judenchristlichen Amtsträger entstand erbitterter Streit bei der Frage, ob sie weiter amtieren dürften – mit unterschiedlichem Ausgang. Ebenso ambivalent war der Umgang mit jüdischen Ärzten in freikirchlich getragenen Kliniken: Manche versuchte man zu halten, manche schickte man eilfertig in die Wüste. Selbst vorauseilender Gehorsam kam vor. So bekundete der später im Bund Freier evangelischer Gemeinden einflussreiche Friedrich Heitmüller schon sechs Jahre vor der Machtergreifung: „Wir haben es im Anfang des Jahres 1927 für nötig gehalten und gewagt unser Krankenhaus für jüdische Ärzte zu sperren ... Wir kämpfen um des Christen- und Deutschtums willen gegen die zersetzenden Kräfte des Reformjudentums nicht nur mit billigen Worten, sondern auch mit folgenreichen Maßnahmen“ (zit. 187).Eine einzige Freikirche ist aus dem Teufelskreis völkisch bestimmter Religiosität ausgebrochen bzw. hat sich ihm konsequent entzogen: die Quäker. Es ist bewegend zu lesen, wie diese mit 250 Mitgliedern in Deutschland zahlenmäßig schwache Freikirche dank ihrer starken internationalen Vernetzung weit über tausend Verfolgten zur Auswanderung verhelfen konnte und mehrere tausend Päckchen mit Hilfsgütern in Konzentrationslager schickte. Dabei galt die Hilfe allen Verfolgten ohne Ansehen der Person. In einem Protokoll der Berliner Quäker-Gemeinde bereits vom 6. April 1933(!) heißt es lapidar: „Wir fassen den Beschluss, uns persönlich bekannte gefährdete Menschen, wie etwa Sozialisten und von den Rassebefehlen Betroffene, regelmäßig zu einem geschlossenen Teeabend einzuladen“ (zit. 45). Es fällt schwer, gerade als volks- oder freikirchlicher Christ hier nicht ans Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu denken, der anders als Priester und Levit an dem unter die Räuber Gefallenen nicht vorbeiging.Fazit: Dieses Buch zu lesen ist deprimierend und aufbauend zugleich. Das meiste, was berichtet wird, stimmt traurig. Denn es faltet aus, was die methodistische Bischöfin Rosemarie Wenner im Geleitwort beklagt: „Dass die Freikirchen mit Ausnahme der Quäker zur Judenverfolgung und zum Holocaust schwiegen oder gar Antisemitismus rechtfertigten“ (7). Hoffnungsvoll stimmt, dass diese selbstkritische Bestandsaufnahme aus den Reihen der Freikirchen selbst kommt und auch die wünschenswerte Konsequenz unzweideutig gezogen wird: „Aus der Geschichte lernen heißt, eine politische Ethik aus dem Evangelium heraus zu entwickeln, die die Engführung des Evangeliums nur auf das individuelle Heil überwindet ... Aus der Geschichte lernen heißt, religiös oder kulturell bedingte Fremdenangst und -feindlichkeit zu überwinden, die Theorie der Rassentrennung fallenzulassen und sich von Verschwörungstheorien zu verabschieden“ (214). Dem ist nichts hinzuzufügen.


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.