Claudia Groß

Freiheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaft?

Ideologie in Direktvertrieben und Multi-Level-Marketing-Unternehmen

„Das ist ... gnadenlos! Also da ist es mucksmäuschenstill in der Halle. Da hörst du jeden anderen wirklich nur noch atmen und dann geht es los. Und dieses Getöse, dieses Gegröle, das kann man sich wirklich nicht vorstellen! Jeder Artikel wird so umjubelt, dass dann wieder eine Minute so eine Powermusik eingefahren wird, die Leute springen auf, die klatschen, die stehen auf den Stühlen, die freuen sich ... [über] jedes Produkt!“ (Gruppenberaterin bei Tupperware). „Die Direktorinnen der Mary-Kay-Area haben unterschiedliche Muttersprachen. Wir stammen aus Deutschland, England, Holland, Kanada, Polen, Surinam, der Ukraine oder den USA und beherrschen doch eine gemeinsame Sprache: die Mary-Kay-Sprache der Liebe und Fürsorge“ (Direktorin bei Mary Kay Cosmetics). „Wir alle, wir alle brauchen nur eines: das Amway-Geschäft“ (Amway-Führungskraft).

Multi-Level-Marketing-Unternehmen bzw. manche ihrer Mitglieder fallen durch ihre hohe Loyalität und Begeisterung auf: Für sie ist „ihr“ Unternehmen – egal ob Amway, Herbalife, Mary Kay Cosmetics oder Tahitian Noni – nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken. Multi-Level-Marketing (MLM) und die dazugehörige Tätigkeit ist in diesen Fällen nicht ein (Neben-)Job, sondern ein „way of life“1, der vielleicht sogar ein ganz neues Leben mit neuen Freunden, „wahrer“ Anerkennung und einer wirklich befriedigenden Aufgabe umfasst. Weniger begeisterte Beobachter berichten dagegen, dass die teils extreme Euphorie abstoßen kann, die meisten Mitglieder wenig verdienen und Familienangehörige sich zurückgesetzt fühlen, wenn sie die Begeisterung nicht teilen können oder wollen. Zudem wird berichtet, dass ehemalige Mitglieder nach ihrem Ausstieg desillusioniert sind, Freundschaften verloren haben und unter Umständen mit einer großen Anzahl unverkaufter Produkte zurückbleiben.

Die genannten Probleme hängen eng mit der teils starken Unternehmensideologie zusammen, also den Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in MLM-Unternehmen vermittelt werden. Da es wissenschaftlich kaum Untersuchungen zu diesem Thema gibt, ist es das Ziel des vorliegenden Beitrags, einen ersten Einblick in folgende Aspekte zu geben: Grundlagen zu Direktvertrieb und MLM, das Konzept der Unternehmensideologie, die Ideologien im MLM in Deutschland, die damit verbundenen Probleme und potentielle Lösungsansätze.

Direktvertrieb und Multi-Level-Marketing in Deutschland

Direktvertrieb und MLM haben in Deutschland geschätzte 700000 Mitglieder.2 Unter „Direktvertrieb“ wird dabei verstanden, dass Produkte unabhängig vom stationären Handel durch rechtlich selbständige Vertriebspersonen direkt an Kunden verkauft werden. In den meisten Direktvertrieben werden neue Vertriebsmitglieder durch bestehende Mitglieder geworben. Wenn zu dieser Möglichkeit noch hinzukommt, dass die „alten“ Mitglieder für die „Ausbildung“ und Motivation „ihrer“ neuen Mitglieder zuständig sind, spricht man von MLM (als Unterform des Direktvertriebs). Da es jedoch keine einheitlichen Kriterien für die Abgrenzung der beiden Formen gibt und weitere Begrifflichkeiten wie Netzwerkmarketing und Strukturvertrieb parallel bestehen, bleiben die Bezeichnungen unscharf.

Mitglied in einem Direktvertrieb oder MLM-Unternehmen kann dabei zunächst jeder geschäftsfähige Volljährige werden, der die entsprechende Mitgliedsvereinbarung unterzeichnet. Ob damit (meist geringe) Einstiegsgebühren fällig werden, eine Verpflichtung zur Produktabnahme besteht oder von Mitgliedern auch gefordert wird, selbst Produkte weiterzuverkaufen, ist unterschiedlich geregelt. Unabhängig von den spezifischen Ausrichtungen einzelner Unternehmen lassen sich bei den Mitgliedern grob drei Ausrichtungen unterscheiden: „Eigenbedarf“, Nebenerwerb und Haupterwerb. Während die letzten beiden Kategorien selbsterklärend sind, soll der so genannte Eigenbedarf kurz erläutert werden: Vor allem bei Unternehmen, die Gebrauchs- und Verbrauchsprodukte – wie Haushaltsprodukte, Kosmetika oder Nahrungsergänzungsmittel – anbieten, wird die Mitgliedschaft oft wie in einem Kundenclub genutzt. Mitglieder kaufen die Produkte für sich selbst sowie eventuell für ihren Freundes- und Familienkreis mit einem Preisnachlass auf den empfohlenen Verkaufspreis ein. Diese „passiven Mitglieder“ vertreiben die Produkte jedoch nicht regelmäßig an Kunden und akquirieren in der Regel auch keine neuen Mitglieder. Exakte Zahlen zu den jeweiligen Mitgliedergruppen liegen weder für den Direktvertrieb allgemein noch für einzelne Unternehmen vor. Für Amway, Mary Kay Cosmetics und Tupperware ist nach einer groben Schätzung der Autorin nur ca. ein Fünftel aller Mitglieder aktiv, d. h. verkauft Produkte an Kunden und/oder wirbt neue Mitglieder an.

Bei den Unternehmen gibt es erhebliche Unterschiede bei Produkten, Organisationsaufbau und Mitgliederstruktur. Insgesamt hat diese Vertriebs- und Organisationsform einen durchwachsenen Ruf. In einer repräsentativen Erhebung der Prognos AG (2005) lässt sich die kritische Haltung der Öffentlichkeit ablesen. Auf die Frage, ob diese Vertriebsform seriös sei, gab nur 5% der Befragten „trifft voll und ganz zu“ an bzw. 8% „trifft zu“.4 Eine Ursache der Bedenken und Zweifel sind die teils starken und extremen Überzeugungen in den Unternehmen, wie oben illustriert. Diese führen gelegentlich dazu, dass Angehörige von Direktvertriebs-Mitgliedern bei Einrichtungen für Weltanschauungsfragen nachfragen, ob bestimmte Unternehmen einen Bezug zu Scientology haben oder eine „Sekte“ seien. Der vorliegende Beitrag betrachtet die Unternehmen mit Hilfe des Konzeptes der Unternehmensideologie, das im nächsten Abschnitt verdeutlicht wird.

Unternehmensideologien

Die meisten Studien zu Direktvertrieb und MLM stammen aus den USA5, dem Herkunftsland dieser Organisations- und Vertriebsform. Der vorliegende Beitrag basiert dagegen auf einer Studie, die sich erstmals wissenschaftlich mit der Situation in Deutschland auseinandersetzt.6 In der Studie steht neben Grundlagen und Marktdaten die Frage im Mittelpunkt, mit Hilfe welcher Unternehmensideologien Mitglieder in Deutschland zu Leistung motiviert und kontrolliert werden. So verspricht Mary Kay Cosmetics u. a. eine „Gemeinschaft ohne Konkurrenz“ und die Möglichkeit, in und durch die Tätigkeit den eigenen „Glauben leben zu können“. Amway propagiert als oberstes Ideal, die „Freiheit“, die durch die Tätigkeit erlangt werden könne, und fordert von den Mitgliedern, ihren Erfolg in die eigenen Hände zu nehmen.

Die genannten Beispiele lassen sich als Elemente der jeweiligen Unternehmensideologie von Amway und Mary Kay Cosmetics bezeichnen. Unternehmensideologien sind Überzeugungen, Vorstellungen und Ideale, die von den Unternehmen eingesetzt werden, um das eigene unternehmerische Handeln zu rechtfertigen und in positivem Lichte erscheinen zu lassen.7 So hilft z. B. die in Amway betonte Selbstverantwortung der Mitglieder, das Unternehmen von seiner Verantwortung für die vielen Nicht-Erfolgreichen zu entlasten. Wer in Amway versagt, ist gemäß der Unternehmensideologie selbst schuld. Dies lässt sich als Rechtfertigung für die extreme Ungleichheit verstehen, die durch das Provisionssystem in Amway selbst produziert wird. Während innerhalb des Unternehmens propagiert wird, dass jeder erfolgreich werden könne, ist das Provisionssystem so aufgebaut, dass schätzungsweise weniger als 1% der Mitglieder genügend Einkünfte erzielen kann, um davon leben zu können.8

Die organisationswissenschaftliche Frage nach den Ideologien hängt mit der Tatsache zusammen, dass Mitglieder der Unternehmen rechtlich selbständig sind, d. h. formal betrachtet keiner Weisungsbefugnis unterliegen. Es bestehen keine Arbeitsverträge (nur Vereinbarungen), keine gemeinsamen Arbeitsorte, keine festen Arbeitszeiten und keine offiziellen Hierarchien. Dadurch gibt es im Vergleich mit „normalen“ Organisationen weniger Strukturen, die es ermöglichen, das Handeln der Mitglieder im Sinne der Unternehmen zu steuern und zu kontrollieren. Dementsprechend wird – aufgrund eines Kontrolldefizits auf der Ebene der Strukturen – das Denken, Handeln und auch Fühlen von Mitgliedern durch Ideologien, also Versprechen, Vorstellungen und Ideale gesteuert.

Während die Provisionssysteme des jeweiligen Unternehmens weltweit durchaus vergleichbar sind, z. B. der Aufbau des Belohnungssystems in den USA und in Deutschland, so unterschieden sich die Ideologien innerhalb der Unternehmen teilweise erheblich. So spielt bei Amway in den USA der christliche Hintergrund der Gründer eine große Rolle, während sich dies in Deutschland nicht beobachten lässt.9 In Mary Kay Cosmetics ist der christliche Hintergrund der Gründerin auch in Deutschland durchaus präsent, aber wesentlich weniger relevant als in den USA. So wird z. B. hierzulande nicht zu Beginn von Versammlungen gebetet.10 Insofern beschränkt sich die Analyse der Unternehmensideologie im vorliegenden Beitrag auf Deutschland, auch wenn die hier beispielhaft behandelten Unternehmen Amway, Mary Kay Cosmetics und Tupperware alle aus den USA stammen.

Drei Typen des Multi-Level-Marketing bzw. des Direktvertriebs

In den bisherigen Ausführungen wurde vorwiegend auf die Gemeinsamkeiten der Unternehmen eingegangen. Auch wenn diese im Vergleich zu „normalen“ Unternehmen durchaus Ähnlichkeiten aufweisen, so gibt es doch erhebliche Unterschiede zwischen ihnen. Im Folgenden werden anhand der drei Beispielunternehmen drei „Typen“ herausgearbeitet, die eine unterschiedlich starke Unternehmensideologie aufweisen.

Die empirische Grundlage für die folgende Charakterisierung ist eine umfangreiche qualitative Studie, die eine Literaturanalyse (Unternehmensveröffentlichungen, Bücher begeisterter aktueller sowie kritischer früherer Mitglieder), teilnehmende Beobachtung bei wöchentlichen und jährlichen Veranstaltungen sowie knapp 60 Interviews umfasst.11

1. „Klassischer Direktvertrieb“ am Beispiel Tupperware: Bei diesem ersten Typus ist die wichtigste Tätigkeit der selbständigen Mitglieder der Verkauf von Produkten. Dies gilt sowohl für „einfache“ Beraterinnen als auch für Gruppenberaterinnen. Letztere führen zwar monatlich ein Treffen „ihrer“ Mitglieder durch, die eigentliche Ausbildung und Schulung gehört jedoch zu den Aufgaben der so genannten Bezirkshändlerin, die von der Zentrale ausgewählt wird und mit dieser über einen Franchise-Vertrag verbunden ist. Die wichtigste Überzeugung im Unternehmen ist, dass Tupperware ein Qualitätsprodukt anbiete und der Konzern ein Markenhersteller sei. Eine über die Qualität der Produkte hinausgehende „Mission“ des Unternehmens gibt es in Deutschland nicht, während zu den Ursprüngen des Konzerns in den USA durchaus die Idee von Tupperware als emanzipationsförderndes Unternehmen gehörte.12

2. „Produktorientiertes Multi-Level-Marketing“ am Beispiel Mary Kay Cosmetics: Auch hier ist der Produktverkauf für die meisten Mitglieder die Haupttätigkeit. Zudem werden Mitglieder wie bei Tupperware in der Regel über ihre persönliche Vorliebe für die Produkte des Unternehmens angeworben. Daneben wird das Anwerben weiterer Mitglieder als wichtige Tätigkeit hervorgehoben und ideologisch untermauert, indem es z. B. als „Karriere teilen“ oder auch als das „Teilen von Chancen“ bezeichnet wird. Durch das Weitertragen des „Mary Kay Spirits“ helfen Mitglieder gemäß Unternehmensideologie, das Leben von Frauen zu bereichern.13

Auch die Produkte tragen einen besonderen Wert in sich: Sie gelten nicht nur als qualitativ gut wie bei Tupperware, sondern stellen darüber hinaus eine Möglichkeit dar, die Botschaft des Unternehmens weiterzutragen und Frauen weltweit zu einem besseren, schöneren und wertvollerem Leben zu verhelfen. Auch wenn sich nur ein Teil der Mitglieder explizit als gläubig bezeichnet, so bietet die Überhöhung der Produkte und der Tätigkeit insbesondere gläubigen Frauen die Chance, ihren Glauben mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit verbinden zu können. So berichtet eine christliche Direktorin, dass sie bei Mary Kay Cosmetics die „Goldene Regel“14 besser verwirklicht sehe als in der katholischen Kirche. Diese Regel „ist eine ganz urchristliche oder vielleicht sogar urmenschliche Aussage ... Und ich konnte am Anfang gar nicht damit umgehen: Warum funktioniert das in einem Unternehmen und wieso nicht dort, wo eigentlich die Wurzeln sind dazu? ... Das war für mich am Anfang eine ganz, ganz große Herausforderung, weil ich damit zurechtkommen musste, obwohl ich froh war, dass ich das so gefunden hatte“. Die Relevanz der Goldenen Regel, die Bedeutung des Helfens und des „Chancen Teilens“ sind dabei Elemente der Unternehmensideologie, die sowohl dem Selbstverständnis der (inzwischen verstorbenen) Gründerin Mary Kay Ash aus den USA entsprechen15 als auch in den deutschsprachigen Veröffentlichungen des Unternehmens zum Ausdruck kommen.16

3. „Anwerbeorientiertes MLM“ am Beispiel Amway: Im Vergleich zu den beiden anderen Unternehmen steht hier das Anwerben weiterer Mitglieder im Mittelpunkt der Tätigkeit.17 Interessenten werden in der Regel über den „Marketingplan“ angeworben, d. h. indem vorgestellt wird, wie sich jeder durch das Unternehmen ein „eigenes Geschäft“ aufbauen kann. Die von den US-amerikanischen Gründern propagierten christlichen Vorstellungen18 sind in Deutschland nur in geringem Maße relevant. Dennoch weist auch der näher untersuchte Vertriebszweig in Deutschland ein eigenes Weltbild auf, das in wöchentlichen lokalen sowie regelmäßig stattfindenden nationalen Veranstaltungen vermittelt wird. Im Mittelpunkt der Unternehmensideologie steht die Vorstellung, dass Amway „frei“ mache. Freiheit wird dabei vorwiegend als finanzielle Unabhängigkeit definiert. Als Gegengewicht zu diesem Eigennutz wird die Anwerbetätigkeit als Möglichkeit, anderen eine „Chance zu bieten“, hervorgehoben. In diesem Zusammenhang wird Amway als Lösung gesellschaftlicher Probleme (z. B. Arbeitslosigkeit) bewertet, wie in der folgenden Aussage einer Führungskraft deutlich wird: „Ich finde es [Amway] das Demokratischste überhaupt oder das Sozialste: Ich kenne nichts Sozialeres, als Menschen eine Möglichkeit zu geben, ihr Leben selber zu gestalten, was du im normalen Beruf nicht hast!“

Besonders wichtig für die eigene Lebensgestaltung ist die Technik des „Positiven Denkens“: Es gilt, voller Zuversicht in die Zukunft zu schauen und sich auf keinen Fall Zweifeln oder kritischen Gedanken hinzugeben. Da letztere vor allem von Außenstehenden kommen, ist es sinnvoll, sich von so genannten „Negativdenkern“ abzugrenzen, gegebenenfalls auch den eigenen Freundeskreis zu wechseln und sich von kritischen Familienmitgliedern fernzuhalten. Im Vergleich zu Mary Kay Cosmetics wurde während der Erhebung in Amway deutlich, dass loyale Mitglieder sich bewusst und nach eigenen Angaben sehr gerne mit anderen „Amwayanern“ umgeben.

Kriterien für die „Ideologielastigkeit“ eines Unternehmens

Die kurze Charakterisierung der drei Beispielunternehmen zeigt eine Reihe von Unterschieden auf. Diese betreffen sowohl die Strukturen der Unternehmen (z. B. „Wer schult die Mitglieder?“) als auch die Kultur (z. B. „Welche Wertvorstellungen / ideologischen Überzeugungen werden propagiert?“). Im Folgenden werden sechs Punkte genannt, die es ermöglichen einzuschätzen, wie „ideologielastig“ ein Unternehmen ist, d. h. wie stark es seine Unternehmensideologie einsetzt, um das unternehmerische Handeln zu rechtfertigen.

1. Die propagierten Inhalte und ihre Reichweite: Für Tupperware ist die Vorstellung eines „Qualitätsproduktes“ zentral, für Mary Kay Cosmetics u. a. die besondere Vereinbarkeit der Tätigkeit mit dem eigenen (christlichen) Glauben, und in Amway wird propagiert, dass hier jeder die Chance zur „Freiheit“ erhält. Analog dazu gelten unternehmensintern die Produkte von Tupperware als geeignet für den Haushalt, die Produkte und die Tätigkeit von Mary Kay Cosmetics als Bereicherung für das Leben von Frauen, und Amway versteht sich als System, das Gesellschaften hinsichtlich Freiheit und Gerechtigkeit zum Positiven verändern kann. Je weiter die Versprechen reichen, desto „ideologielastiger“ wird ein Unternehmen.

2. Die Rolle der Produkte, die „Produktideologie“: Alle legalen Direktvertriebe bieten Produkte an (oder eine Dienstleistung). Dennoch spielen diese eine völlig unterschiedliche Rolle. Bei Tupperware steht das Produkt im Zentrum. Seine Qualität begründet sich z. B. in seiner Langlebigkeit und Umweltfreundlichkeit. Bei Mary Kay Cosmetics liegt der Wert der Produkte nicht nur in „materiellen“ Eigenschaften, sondern auch in „metaphysischen“: Die Produkte können Frauen zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen, diese fühlen sich (wieder) weiblicher, besser, schöner, geliebter etc. Eine solche „Produktideologie“ zeigt die „Ideologielastigkeit“ eines Unternehmens.

3. Der Aufbau des Schulungssystems: Bei allen drei Unternehmenstypen gibt es wöchentliche Schulungen und mehrere größere Veranstaltungen pro Jahr. Dennoch sind die Unterschiede erheblich: Bei Tupperware werden jede Woche Produkte präsentiert, Auszeichnungen vergeben und laufende Leistungswettbewerbe erklärt. Bei Amway nimmt die persönliche Rede einer Führungskraft den größten Teil des Abends ein: zu ihrer eigenen Lebensgeschichte oder zu Themen wie dem Anwerben von Mitgliedern, der persönlichen Entwicklung, dem so genannten „Positiven Denken“ etc. Während bei Tupperware die Schulungsunterlagen und Prospekte von der Unternehmenszentrale herausgegeben (und somit kontrolliert) werden, gibt es innerhalb von Amway verschiedene Vertriebszweige, die ihre eigenen Materialien produzieren und verkaufen.19 Das Gleiche gilt für Großseminare mit über 1000 Teilnehmern. Bei Tupperware dürfen diejenigen Mitglieder kostenlos mitgehen, die bestimmte Leistungen erreicht haben. Bei Amway darf jeder teilnehmen, der an die Seminarveranstalter – und das ist nicht die Konzernzentrale – zahlt. Solche losgelösten Schulungssysteme können eine Eigendynamik entwickeln, bei der die Seminare zum Selbstzweck werden, so dass die materielle Grundlage der Tätigkeit, der Vertrieb von Produkten an Endkunden, in den Hintergrund gerät. Eine solche Struktur, also Vertriebszweige mit eigenen Schulungsprogrammen und -materialien, scheint die Entwicklung von Ideologien zu fördern, da Seminare und Schulungsunterlagen zu Einnahmequellen werden.

4. Die Rolle des Anwerbens, die „Anwerbeideologie“: In den meisten Direktvertrieben können Mitglieder weitere Mitglieder anwerben. Während das für eine „einfache“ Tupperberaterin (nicht die Gruppenberaterin) eine Gelegenheit ist, ein einmaliges Anwerbegeschenk (z. B. eine Mikrowelle) zu erhalten, wird das Anwerben bei Amway als Möglichkeit propagiert, „frei“ zu werden und anderen eine „Chance“ zu bieten. Bei der Beurteilung der „Ideologielastigkeit“ ist es somit relevant zu betrachten, wie wichtig das Anwerben ist (im Vergleich zum Produktverkauf) und welche materielle und ideelle Bedeutung ihm vom Unternehmen zugeschrieben wird. Geht es also z. B. darum, „Karriere zu teilen“ (Mary Kay Cosmetics), oder darum, ein Anwerbegeschenk zu erhalten (Tupperware)?

5. Anwerbestrategie bzw. Zielgruppe für das Anwerben: Direktvertriebe kennen in der Regel keine Zugangsvoraussetzungen außer der Volljährigkeit und eventuell einer Einstiegsgebühr. Dennoch gibt es erhebliche Unterschiede: Bei Tupperware und Mary Kay Cosmetics werden mehrheitlich Einzelpersonen, meist Frauen, angeworben. Bei Amway wird explizit empfohlen, bei Paaren beide Partner zu überzeugen und einzubeziehen.20 Wenn nur eine Person in einem Unternehmen Mitglied ist, ist der ideologischen Vereinnahmung eine Grenze gesetzt, da der Partner nicht in gleichem Maße der Unternehmensideologie ausgesetzt ist.

6. Wechsel des Freundeskreises und Abstand zu Verwandten: Die Abgrenzung von Freunden und Verwandten ist ein Phänomen, das die „Ideologielastigkeit“ eines Unternehmens zeigt: je stärker die Abgrenzung, desto stärker das unternehmensinterne Weltbild. Während die Abgrenzung von bestehenden Kontakten in Tupperware nicht thematisiert wurde, gehört der Wechsel des Freundeskreises bei Amway zum Aufstieg einer Führungskraft dazu: Echte „Amwayaner“ (Selbstbezeichnung im Unternehmen) sind am liebsten mit ihresgleichen zusammen.

Die genannten sechs Aspekte können helfen, die Ideologie in Unternehmen sowie das damit einhergehende Unbehagen näher zu bestimmen: Handelt es sich vor allem um die propagierten Inhalte (Punkt 1) wie z. B. die Vorstellung in Mary Kay Cosmetics, dass hier Mitglieder ihren christlichen Glauben in die Tätigkeit einbringen können? Oder ist vielleicht der Wunsch, in der eigenen Tätigkeit eine spirituelle Dimension leben zu können, an sich unproblematisch, aber die Reichweite der damit verbundenen „Heilsversprechen“ fraglich? Oder ist ein Unternehmen in jeder Hinsicht kritikwürdig, was sich dann auch in der Absonderung von bisherigen Bekannten und Verwandten zeigt (Punkt 6)?

Probleme aufgrund zu starker Unternehmensideologien

Bevor abschließend darauf eingegangen wird, wie sich zu starke Unternehmensideologien im MLM verhindern lassen, sollen hier die darauf beruhenden Probleme kurz skizziert werden.21 Dabei meint eine „zu starke“ Unternehmensideologie vor allem, dass zu hohe Erwartungen an die Tätigkeit geknüpft werden, z. B. die Vorstellung innerhalb Amways, dass hier jeder finanziell und persönlich „frei“ werden und dass dieses Wirtschaftsunternehmen sogar die gesamte Gesellschaft zum Positiven verändern könne. Probleme, die eng mit zu hohen Erwartungen zusammenhängen, sind:

• (Frisch) überzeugte Mitglieder sehen in der Tätigkeit „die große Chance“ für sich und betrachten dementsprechend Familie und Freundschaften unter dem Primat der „Verwendbarkeit“ für das Unternehmen. Dadurch werden soziale Beziehungen für geschäftliche Zwecke missbraucht, und andere Formen sozialen Kontakts werden nur noch in geringem Maße gepflegt oder auch als nutzlos abgewertet.22

• Es kann zu einer Abschottung und einer starken Abgrenzung vom bestehenden Freundeskreis bzw. Zerrüttung bestehender sozialer Beziehungen kommen, die im Extremfall zum Vorwurf der Sektenähnlichkeit führt.23

• Parallel zur Abgrenzung vom bisherigen Bekanntenkreis entstehen teilweise starke emotionale Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Anwerbern und Angeworbenen. Diese können die formale Selbstständigkeit der Verkäufer konterkarieren.24

• Wenn Mitglieder „aussteigen“, verlieren sie die innerhalb des Unternehmens aufgebauten Kontakte und stehen somit womöglich ohne soziales Netz da.25

Was hilft gegen zu starke Unternehmensideologien im MLM?

Die Schwierigkeit, hier Lösungen anzugeben, besteht darin, dass die oben zusammengefassten Probleme sich auf den zwischenmenschlichen Bereich erstrecken, also auf sozial unerwünschtes und unmoralisches Verhalten. Dieses ist, so lässt sich argumentieren, schwer durch Außenstehende (z. B. staatliche Institutionen) zu regulieren – die Unternehmen selbst müssen hier aktiv werden. Denn auch wenn die Mitglieder selbständig sind und somit schlechter zu kontrollieren, so liegt es doch an den Unternehmen selbst festzulegen, wer für die „Ausbildung“ der Mitglieder zuständig ist, welche Provisionen unternehmensintern bezahlt werden, mit welchen Eigenschaften Produkte vermarktet werden und mit welchen Idealen und Versprechen die Tätigkeit des Verkaufens und Anwerbens verknüpft wird (s. obige Kriterien für „Ideologielastigkeit“).

Im vorliegenden Beitrag geht es abschließend jedoch nicht um einen Appell an die Unternehmen, sondern um drei Möglichkeiten des Gesetzgebers, um die oben beschriebenen Probleme zu vermindern. Dabei geht der Beitrag davon aus, dass die Hauptursache für die genannten Probleme in einer zu starken Unternehmensideologie mit illusorischen Versprechen und zu großer Reichweite (Veränderung der Gesellschaft etc.) zu finden ist.

Erstens ließe sich regeln, dass MLM-Unternehmen für ihre Mitglieder transparent machen müssen, welche Umsätze und Einnahmen tatsächlich erreicht werden. Die hinter dieser Forderung stehende Annahme ist, dass die meisten aktiven Mitglieder vor allem daran interessiert sind, Geld zu verdienen. Dementsprechend werden neue Mitglieder teilweise mit „Phantasie-Einkommensmöglichkeiten“ geworben und aktive Mitglieder durch ihre Führungskräfte mit ebensolchen motiviert. Diese Illusionen tragen dazu bei, dass Freunden, Bekannten, der Familie, aber auch unbekannten Interessierten oder Nicht-Interessierten übermotiviert gegenübergetreten wird und es zu Konflikten in zwischenmenschlichen Beziehungen kommt. Bei Tupperware und Mary Kay Cosmetics werden Phantasiezahlen indirekt eingedämmt, indem in den wöchentlichen bzw. monatlichen unternehmensinternen Veröffentlichungen Umsätze und Provisionen Erfolgreicher ablesbar oder zumindest abschätzbar sind. Eine solche Regelung könnte für alle Direktvertriebe und MLM-Unternehmen eingeführt werden.

Zweitens gilt es, bestehende Regeln besser zu überprüfen. Amway hat z. B. in seinen Statuten eine Reihe sinnvoller Regeln, die Übermotivation bremsen können. So fordert das Unternehmen von seinen Mitgliedern, dass sie Interessenten „die durchschnittlichen Gewinne, Einkommen und Verkaufsumsätze und Prozentzahlen vorzulegen [haben], wie sie von Zeit zu Zeit von Amway veröffentlicht werden“26. Während der sechsmonatigen empirischen Erhebung in Amway konnte jedoch keine Auseinandersetzung mit dieser Regel bzw. nicht einmal ihre Kenntnis festgestellt werden. Dies liegt auch daran, dass keine offiziellen Umsatzzahlen von Amway erhältlich sind – weder von Führungskräften noch über das Internet, in dem ansonsten vielfältige Informationen zu Amway zu finden sind.27 Dementsprechend ist es wichtig, dass auf dem Papier bestehende Regeln auch von unternehmensexternen Stellen daraufhin überprüft werden, ob sie Mitgliedern bekannt sind.

Daraus folgt, dass es drittens notwendig ist, eine unternehmensunabhängige Stelle einzurichten, die für Information/Aufklärung, Beschwerden und die Überprüfung der Unternehmen zuständig ist.

Bisher besteht folgende Situation: Unternehmensideologischer Übereifer ist nicht illegal, kein Thema für Verbraucherschutzverbände und kein Kernthema für die Kirchen. Das für Verbraucherschutz verantwortliche Ministerium ist nicht für Ideologien und deren Folgen zuständig, das Wirtschaftsministerium nur für die illegalen Fälle von Schneeballsystemen, und für Einrichtungen zu Weltanschauungsfragen ist das Thema nur relevant, wenn es sich um extreme Fälle (Sektenähnlichkeit) handelt. Bei den hier beschriebenen Problemen geht es jedoch um organisationsinterne Aspekte, die nicht illegal, aber durchaus unmoralisch sind. Für diese gibt es bisher keine unternehmensunabhängige Anlaufstelle, so dass die öffentliche Aufklärung beinahe ausschließlich auf privaten Initiativen beruht.28 Eine offizielle Anlaufstelle würde dazu beitragen, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erhöhen, und damit auch indirekt die Unternehmen dazu motivieren, von sich aus weniger „ideologielastig“ zu werden. Denn auch wenn manche Mitglieder mit ihrer Tätigkeit im MLM zufrieden sind und sich dadurch persönlich weiterentwickelt haben, so geht es im MLM nicht um ein besseres Leben oder die Verheißung von Freiheit oder Gemeinschaft, sondern schlicht um den Verkauf von Produkten und das Anwerben weiterer Verkäufer.


Claudia Groß, Nijmegen/Niederlande


Anmerkungen

1 Vgl. Nicole W. Biggart, Charismatic Capitalism. Direct Selling Organizations in America, Chicago 1989.

2 Quelle: www.wfdsa.org/statistics/index.cfm?fa=display_stats&number=1, 1.5.2007

 3 Überblick s. Claudia Groß, Multi-Level-Marketing – Identität und Ideologie im Network-Marketing, Wiesbaden 2008, Kap. 2.1.

4 Prognos AG, Direktvertrieb in Deutschland – Marktanalyse und Konsumentenbefragung (Kurzfassung), Basel 2005, 17 
(www.prognos.com/fileadmin/pdf/1117442089.pdf, 4.7.2009).

5 Biggart, Charismatic Capitalism, a.a.O.; Carol L. Juth-Gavasso, Organizational Deviance in the Direct Selling Industry. A Case Study of the Amway Corporation, Ann Arbor 1985; Michael G. Pratt, The Good, the Bad, and the Ambivalent. Managing Identification among Amway Distributors, in: Administrative Science Quarterly 3/2000, 456-493.

6 Groß, Multi-Level-Marketing, a.a.O.

7 Vgl. Reinhard Bendix, Herrschaft und Industriearbeit, Frankfurt a. M. 1960, 14.

8 Vgl.  www.ideologie-im-mlm.de; Groß, Multi-Level-Marketing, a.a.O., Kap. 9.4 und 9.7.

9 Vgl. Athena Dean, Consumed by Success. Reaching the top and finding God wasn’t there ..., Mukilteo 1996.

10 Vgl. Groß, Multi-Level-Marketing, a.a.O., 164.

11 Groß, Multi-Level-Marketing, a.a.O.

12 Vgl. Alison J. Clarke, Tupperware. The Promise of Plastic in 1950s America, Washington 1999.

13 „Enriching women’s lives“; s. www.marykay.com.

14 „Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest.“

15 Vgl. Mary K. Ash, Mary Kay. The Success Story of America’s Most Dynamic Businesswoman, New York 1981.

16 Vgl. Mary Kay Cosmetics GmbH (ed.), in: Applaus. Interne Monatszeitschrift Mary Kay Cosmetics Deutschland, Niederlande, Schweiz. Juli 2005.

17 Vgl. z. B. Lucia Rampelotto / Max Schwarz, Das Schwarz-System, 1999, 131.

18 Vgl. Rich DeVos, Hope From My Heart. Ten Lessons for Life, Nashville 2000.

19 Vgl. Max Schwarz / Marianne E. Schwarz, Mein Weg zum Kronenbotschafter, Langenmosen 2001; dies., Der Erfolgsweg, Langenmosen 2002.

20 Vgl. Max Schwarz / Marianne E. Schwarz, Tips zur Terminabsprache. Aufbauhilfe 4, 1993.

21 Auf die Frage, ob MLM-Unternehmen Ähnlichkeiten mit Schneeballsystemen haben, wird hier dagegen nicht eingegangen (siehe dazu Peter J. Vander Nat / William W. Keep, Marketing Fraud. An Approach for Differentiating Multilevel Marketing from Pyramid Schemes, in: Journal of Public Policy & Marketing 1/2002, 139-151).

22 Für die rechtliche Seite des Ausnutzens von privaten Beziehungen im Rahmen der Laienwerbung s. § 4 Nr. 1 UWG (IHK Region Stuttgart, Zulässigkeit von Laienwerbung und verwandten Vertriebsformen: www.stuttgart.ihk24.de/produktmarken/recht_und_fair_play/Wettbewerbsrecht/Laienwerbung.jsp , 4.7.2009).

23 Vgl. Stephen Butterfield, Amway. The Cult of Free Enterprise, Boston 1985; Harald Lamprecht, Der Gott des Erfolges fordert Opfer. Network Marketing und seine Folgen, in: Confessio 6/2003, 4-8.

24 Vgl. Groß, Multi-Level-Marketing, a.a.O., 234.

25 Vgl. Ebd.

26 Amway GmbH (Hg.), Geschäftsbedingungen und Null Toleranz-Richtlinie, 2004, 15.

27 Übersicht auf www.ideologie-im-mlm.de.

28 Vgl. www.dtp-sonnabend.de; www.mlm-beobachter.de ; www.ideologie-im-mlm.de.