Gunther Wenz

Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud

Vier Beispiele radikaler Religionskritik in der Moderne

Über das Phänomen des neuen Atheismus ist an dieser Stelle ausführlich berichtet worden (MD 1/2008, 3f, 1/2009, 3-16). Dabei stellte sich auch die Frage, inwiefern der „neue“ Atheismus von Richard Dawkins („Der Gotteswahn“), Christopher Hitchens („Der Herr ist kein Hirte“) und anderen an die atheistische Christentumskritik der Neuzeit anknüpft. Der Münchner Systematiker Gunther Wenz skizziert die klassischen Vertreter radikaler Religionskritik und bringt ihre Absichten und Interessen in Erinnerung. Für die Auseinandersetzung mit atheistischen Gegenwartsströmungen ist diese Erinnerung nicht nur naheliegend, sondern unerlässlich, um die Überzeugungskraft atheistischer Argumentationen zu prüfen.


Traditionelle und neuzeitspezifische Religionskritik

Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie; aus Kandidaten des Himmels sollen daher Studenten der Erde werden:2 Was Ludwig Feuerbach (1804-1872) am Ende des deutschen Revolutionsjahrs 1848 in Heidelberg über „Das Wesen der Religion“ vortrug, wurde von vielen als Befreiung und purgatorische Läuterung empfunden. „(K)larer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher“ empfinde er seither alles, schrieb der Schweizer Dichter Gottfried Keller (1819-1890) an einen Freund.3 Ohne das Zwielicht überweltlichen Scheins erstrahle die immanente Welt unendlich viel schöner, und ein befristetes Leben, das von jeder Jenseitshoffnung über die Todesgrenze hinaus Abschied genommen habe, werde ungleich intensiver und inniger erlebt als ein solches, das auf Transzendenz schiele, statt den vergänglichen Tag auszukosten und dem reinen Augenblick zu frönen, dessen raumzeitliche Flüchtigkeit mehr verheiße als alle Ewigkeiten zusammen. „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, / von dem goldnen Überfluß der Welt!“4

In seinem Roman „Der grüne Heinrich“ hat Keller den Eindruck, den Feuerbach auf ihn machte, literarisch reflektiert.5 Der Philosoph tritt mit Vollbart und grünem Jagdkleid in der edlen Gestalt eines Grafen auf – hohe Stirn, freier Blick, naturwüchsig und wild entschlossen, kurzum: das genaue Gegenteil stubenverhockten Zopfgelehrtentums. Genauso war der Heidelberger Feuerbach dem Dichter erschienen, als ein – um mit dem Grünen Heinrich zu reden – uriger Vogel, der „mit seinem monotonen, tiefen und klassischen Gesang den Gott aus der Menschenbrust wegsingt“.6 Heinrich, sein literarischer Schöpfer und mit ihm viele Zeitgenossen und Spätgeborene wurden dadurch an der Religion irre. Feuerbach gilt bis heute als der Religionskritiker schlechthin. Warum? Weil er die Religion nicht nur äußerlich, sondern von innen heraus kritisierte und sie durch Verständnis ihres Wesens zum Verschwinden bringen wollte.

Lange bevor von Religionskritik explizit die Rede war, lassen sich vielfältige Formen derselben identifizieren, und zwar auch und gerade im Kontext der Religion, zu der die Möglichkeit partiellen oder prinzipiellen Dissenses elementar hinzugehört. Je dezidierter die eigene religiöse Position bestimmt ist, desto deutlicher fallen in der Regel die Abgrenzungen gegen Häretiker und Schismatiker aller Art aus. Insofern ist Religionskritik seit alters ein religionsinternes Phänomen. Sie wird primär im Interesse affirmativer Begründung und Bestätigung wahrer Religion geübt und vollzieht sich auf der ideellen Basis von Unterscheidungen wie etwa derjenigen zwischen Faktizität und Normativität. Die mittelalterliche Religionskritik gehört weithin in diesen Zusammenhang, und auch für die antiken Ansätze, an die im Renaissance-Humanismus angeknüpft werden konnte, trifft zu, dass sie philosophische Kritik der Religion zumeist im Sinne von deren Reinigung z. B. von widervernünftigen Mythologemen oder unstatthaften Anthropomorphismen übten. Dieser Rahmen wird grundsätzlich auch von der Religionskritik der Stoa nicht gesprengt, wenn diese zwischen kontingent erworbenen religiösen Vorstellungen einerseits und einem vernunftfundierten Wesen humaner Religiosität andererseits differenziert.

Im Unterschied zur religionsinternen bzw. auf das reine Wesen der Religion gerichteten Religionskritik von Antike und Mittelalter stellt die neuzeitliche Religionskritik ein Genus eigener Art dar, insofern sie in ihren radikalen Gestalten konsequent darauf abzielt, Religion durch Aufweis ihrer Genese zu destruieren und restlos zum Verschwinden zu bringen. In ihrer radikal-genetischen Form ist Religionskritik ein neuzeitspezifisches Phänomen und eine Erscheinung, die erst in der Moderne offen zutage tritt.

Feuerbachs Projektionsthese

Die entscheidende Pointe der Feuerbachschen Religionskritik besteht in der Annahme, Religion beruhe auf einer Projektion, durch die sich das menschliche Bewusstsein die Unendlichkeit seines eigenen Wesens gegenständlich zur Anschauung bringe. Nicht Gott habe den Menschen, sondern der Mensch habe Gott nach seinem eigenen Bilde erschaffen. In der Schrift über „Das Wesen des Christentums“ von 1841 wird dies im Einzelnen entfaltet, wobei seit der zweiten Auflage von 1843 u. a. Luther als Gewährsmann der Projektionsthese angeführt wird: Habe er doch ausdrücklich den Glauben zum Schöpfer der Gottheit erklärt. Obschon sich auch eine Reihe sonstiger religionskritischer Argumente findet, wie etwa das Anthropomorphismus-Argument bzw. die überkommene – im 19. Jahrhundert namentlich durch das sog. Dreistadiengesetz Auguste Comtes revitalisierte – Annahme, die Religion sei dem Kindheitsstadium der Menschheitsgeschichte zuzurechnen, bleibt die Grundannahme Feuerbachscher Religionskritik stets die gleiche: In der Religion wird dem menschlichen Bewusstsein die eigene Unendlichkeit vorstellig, wobei als Subjekt unendlichen Bewusstseins nicht der Einzelmensch, sondern die Menschheitsgattung zu gelten hat. Der Mensch, der sich nach Feuerbach im religiösen Verhältnis lediglich zu sich selbst verhält, verhält sich demnach im Bewusstsein der Religion zu sich selbst nicht qua Individuum, sondern qua Gattungswesen. Wo das menschliche Wesen der Gattung als Wahrheit der Religion erkannt wird, löst sich deren falscher Schein, das irdische Menschenwesen als transzendente Gottheit zu betrachten, von selbst auf.

Erfüllt sich der Sinn der Religion danach recht eigentlich in ihrem Vergehen, so teilt sie darin die Bestimmung des Individuums, mit dessen egoistischem Unsterblichkeitsstreben Feuerbach den Ursprung der Religion unmittelbar in Verbindung bringt. Nicht wenn es sich religiös zu verhimmeln und zu verewigen sucht, gelangt das menschliche Individuum zur Vollendung. Es vollendet sich im Gegenteil nur, wenn es in seine Sterblichkeit einstimmt und seine Besonderheit verständig und willig hingibt an die Allgemeinheit der Menschengattung, deren Begriff Feuerbach gelegentlich durch den der Natur ersetzen kann. Religionskritik und Individualitätskritik gehören für ihn deshalb untrennbar zusammen, ja eine naturphilosophisch fundierte Individualitätskritik erweist sich bei genauerem Zusehen als das eigentliche Movens Feuerbach’scher Religionskritik. Die tendenzielle Absage an das Einzelsubjekt und die Besonderheit des Individuellen zugunsten der menschlichen Gattungsallgemeinheit kündigt sich bereits in Feuerbachs Frühschrift „De ratione, una, universali, infinita“7 an und ist in den 1830 anonym publizierten „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“8 offenkundig, die mit der gereimten Bitte an das Gelehrtenpublikum eingeleitet wird, „den Tod in die Akademie der Wissenschaften zu rezipieren“: „Er ist“, so heißt es zur Begründung, „der beste Arzt auf Erden, / Dem nie noch fehlschlug eine Kur; / Und mögt ihr noch so krank auch werden: / Es heilt vom Grund aus die Natur.“9 In Achtung vor diesem natürlichen Allheilmittel gelte es Abstand zu nehmen von dem Wunsche nach individueller Unsterblichkeit; damit erübrige sich die Religion, als deren Wahrheit sich die menschliche Gattungsnatur zu erkennen gebe.

Religionskritik und Revolutionsprogramm bei Marx

Ist Religion das bewusstlose Selbstbewusstsein des Menschen zu nennen, in welchem diesem sein eigenes Wesen lediglich auf tendenziell befremdliche Weise gegenständlich wird, insofern er nicht weiß, dass es das seinige ist, so wird der Verblendungszusammenhang, dessen mangelnde Aufgeklärtheit die Bedingung der Möglichkeit der Existenz des Religiösen darstellt, augenblicklich dann erhellt, wenn das Wissen des Menschen von Gott als das Wissen des Menschen von sich selbst durchschaut wird. Mit dieser Einsicht beansprucht Feuerbach zugleich, die spekulative Vernunft Hegel’scher Provenienz auf den Boden der Tatsachen herabgeholt zu haben.

Daran konnte die Religionskritik von Karl Marx (1818-1883) anschließen. Im ersten Satz der Einleitung seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Religionsphilosophie“ von 1844 heißt es in diesem Sinne: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ Allerdings geht Marx darin über Feuerbach hinaus, dass er dessen Bestimmung menschlichen Wesens im Sinne natürlicher Gattungsallgemeinheit anthropologisch in einen geschichtlich-soziokulturellen Praxiszusammenhang aufhebt. Es sei nicht genug – so Marx in seinen 1845 geschriebenen, von Engels 1888 mit einigen redaktionellen Veränderungen erstmals publizierten „Thesen über Feuerbach“ –, das Faktum der religiösen Selbstentfremdung und der Verdoppelung der Welt in eine vorgestellte und eine wirkliche Welt dadurch beheben zu wollen, dass man das religiöse in das menschliche Wesen auflöst. „Die Tatsache nämlich, daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muss also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden“ (These 4). Religionskritik als die Voraussetzung aller Kritik muss demgemäß notwendig in revolutionäre Praxis umschlagen. Um mit der letzten These über Feuerbach zu reden: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ (These 11).10

Religionskritik und Revolutionsprogramm bilden bei Marx mithin nicht nur einen unauflöslichen Zusammenhang; es besteht vielmehr ein eindeutiges Gefälle hin zum revolutionären Imperativ. In Abkehr von der regressiven Bindung Feuerbachs an die Naturphilosophie und von der daraus resultierenden Reduktion des geschichtlich-gesellschaftlichen Wesens des Menschen auf eine immergleiche Gattungsallgemeinheit identifiziert Marx das menschliche Wesen in seiner Wirklichkeit als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (These 6), um infolgedessen die menschliche Religion als gesellschaftliches Produkt zu erfassen, nämlich als praktische Konsequenz einer bestimmten Gesellschaftsform, von deren revolutionärer Umgestaltung er nicht nur das Ende der Religion, sondern zugleich die Behebung jener tatsächlichen Mängel erwartet, als deren indirekter Ausdruck die Religion nach seinem Urteil zu gelten hat.

Worum es in Marx’ Religionskritik im Entscheidenden geht, ist demnach die Beantwortung der Frage, wie die Unvernunft politisch-gesellschaftlich verfasst ist, um das Entfremdungsprodukt der Religion hervorbringen zu können. Indem er mittels reduktionistischer Methodik nicht lediglich die Beschaffenheit der Religion zu erklären, sondern deren Grund in der Beschaffenheit faktischer Zustände zu erheben versucht, formt er die von Feuerbach übernommene radikale Religionskritik zu einer radikalkritischen Gesellschaftstheorie um. Religion ist – kurz gesagt – ein Epiphänomen entfremdeter soziopolitischer Verhältnisse. Dabei geht die Entwicklungstendenz dahin, den Gedanken praxismotivierenden Protests gegen das tatsächliche Elend, den Marx anfangs ebenfalls mit der Religion verbinden konnte, dergestalt zurückzunehmen, dass die Religion zu einer ohnmächtigen Ausdrucksgestalt realexistierenden Elends, zu einem bloßen „Opium des Volkes“ erklärt wird, in welcher Funktion sie interessenbestimmtem Missbrauch wehrlos ausgesetzt sei.

In diesem Zusammenhang kann Marx die Religion dann auch mit dem Begriff der Ideologie in Verbindung bringen, der von Antoine Louis Claude Destutt de Tracy (1754-1836) eingeführt wurde, um die Behauptung religiöser Gehalte mit dem ökonomischen Vorteilsstreben bestimmter Gesellschaftsgruppen zu erklären. Gerade in dieser Hinsicht zeigt sich in besonderer Weise, was für den bestimmenden Begriff von Marx’ Religionskritik generell gilt: Sie ist Moment seines Programms der Revolution, als deren bewegendes Subjekt das Proletariat fungiert. Dabei bleibt Marx bei aller gegebenen Transformation der Religionskritik Feuerbachs insofern verbunden, als er die Überwindung des individuellen Privategoismus, in welchem jener das spezifische Movens zur Ausbildung der Religion entdeckt hatte, zum Ziel seines gesellschaftspolitischen Revolutionsprogramms erklärte. Das strukturelle Grundproblem dieses Programms bleibt freilich ungelöst; es besteht darin, wie es zu einer Überwindung jenes Egoismus kommen soll, als dessen verheerendste Gestalt Marx die bürgerliche Kapitalwirtschaft gilt, wenn das Allgemeine ohne die besondere Rolle des Proletariats nicht herbeizuführen ist, dessen Freiheitsrealisierung ihrerseits nicht verständlich zu machen ist ohne jene – aus der pervertierten gesellschaftlichen Situation nicht ableitbare – Voraussetzungen, von denen wie das Bewusstsein der Freiheit, so auch deren Verwirklichung lebt.

Nietzsches „Wille zur Macht“ und Freuds Theorie der kollektiven Zwangsneurose

Neben Feuerbach und Marx kommt in der Geschichte moderner Religionskritik nur noch Friedrich Nietzsche (1844-1900) eine Spitzenstellung zu. Durch ihn wurde der Tod Gottes sprichwörtlich, und Feuerbachs Anthropologisierung der Theologie vollendete sich in einer programmatisch erklärten Vergöttlichung des Menschen. Es ist das Prinzip radikaler Selbstbestimmung des souveränen, absolut seiner selbst mächtigen Menschenwesens, das die aphoristisch formulierte und mit Moralkritik aufs Engste verbundene Religionskritik Nietzsches bestimmt. Im Hintergrund steht eine antiplatonische Metaphysik des Willens zur Macht, die die Basis für den Atheismus radikalautonomer menschlicher Freiheit abgibt. Religion ist für Nietzsche Selbstkorrumpierung, Selbstentzweiung, Selbstentfremdung des Menschen, insofern dieser in der Religion alles Vermögen Gott und die verbleibende Schwäche sich selbst zurechnet, womit er seine Lebensmacht, statt sie zu steigern, auf ein verschwindendes Minimum reduziert. Das Unwesen, das die Religion treibt, ist somit nihilistische Lebensverneinung, die durch den sich selbst wollenden und seiner selbst mächtigen Willen mittels Umwertung aller religiösen Werte einschließlich des Gottesgedankens zu überwinden ist.

Nietzsches Religionskritik erfüllt sich entsprechend in der menschlichen Selbstzuschreibung der Allmachtsattribute des toten bzw. zu tötenden Gottes. Der im Übermenschen sich realisierende Wille zur Macht beansprucht nicht weniger als göttliche Aseität. Im Unterschied zu Feuerbach und Marx wird der religionskritische Gedanke unmittelbarer Selbstbestimmung des Menschen nicht mehr auf indirekte Weise – sei es im Vermittlungszusammenhang von Individuum und Gattung oder Individuum und Gesellschaft – zur Geltung gebracht, sondern direkt und als solcher. Will der Mensch er selbst und als er selbst frei sein, ist für einen Gott außer ihm kein Platz; denn die der Gottesbeziehung implizite Abhängigkeit ist mit dem freien Selbstsein des Menschen unvereinbar.

In ihrer Radikalität, deren Breitenwirkung nicht unterschätzt werden darf, blieb Nietzsches Religionskritik unübertroffen. Selbst Sigmund Freuds (1856-1939) Theorie der Religion als illusionärer Wunscherfüllung bzw. kollektiver Zwangsneurose, die religiöse Vorstellungen und Vollzüge als sekundäre Einkleidungen von primär unbewusst ablaufenden Prozessen deutete, um sie auf die Faktizität infantiler Abhängigkeitssituationen zu reduzieren, erreichte nicht die Grundsätzlichkeit Nietzsches. Als Beitrag zur Religionspsychologie mit religionskritischem Gesamtergebnis hat sie gleichwohl großes Aufsehen erregt und ein hohes Maß an öffentlichem Einfluss erlangt.

Zentraler Gegenstand traditioneller religionspsychologischer Betrachtungen war die Einzelperson in ihren Bewusstseinsvollzügen. Bevorzugt analysiert wurde das individuelle religiöse Bewusstsein in seinen kognitiven, voluntativen und emotiven Bestimmtheiten, wie sie durch dasjenige bewirkt sein sollten, was jeweils als Religion qualifiziert wurde. Das Grundproblem einer bewusstseinspsychologisch ansetzenden Religionspsychologie bestand in der präzisen Erfassung des Zusammenhangs von psychischer Struktur und religiösem Gehalt. Entweder wurde die religiöse Verfasstheit des Individuums als konstante Größe und die religiösen Inhalte als vergleichsweise variabel in Anschlag gebracht, womit sie der religiösen Individualität tendenziell äußerlich blieben; oder die religiösen Inhalte wurden als substantiell vorausgesetzt, währenddessen die psychischen Konstellationen des religiösen Individuums als eher akzidentell und ephemer gelten sollten. Ungelöst blieb in beiden Fällen die strukturelle Grundfrage jeder Religionspsychologie, wie nämlich der objektive Gehalt von Religion und die psychische Verfassung des Einzelsubjekts im individuellen religiösen Bewusstsein vermittelbar sind.

Freuds Religionskritik ist weit weniger grundsätzlich gefasst als diejenige Nietzsches. Diese bleibt an Radikalität unübertroffen, weil sie auf einem Atheismus aus Prinzip basiert. Tod Gottes und Vergöttlichung des Menschen bedingen sich wechselseitig, sofern der menschliche Wille zur Macht die Negation göttlicher Allmacht zur impliziten Voraussetzung und expliziten Folge hat. Ich bin, der ich bin: Jenseits von Gut und Böse und unter Absehung von Wahrheit und Wert, die dem Nihilismus preiszugeben sind, plädiert Nietzsche für die Selbstvergöttlichung des Herrenmenschen, der nach dem Tode Gottes entschlossen seines allein dem eigenen Geschick verpflichteten messianischen Amtes waltet. Mit den Schriften „Der Antichrist – Fluch auf das Christentum“ (1888) und „Ecce homo – Wie man wird, was man ist“ (1889) endet Nietzsches publizistisches Werk. Als Kompilation erscheint aus dem Nachlass 1901 „Der Wille zur Macht“.

„Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“11 Was ist, gründet ursprünglich in vitalem Seinstrieb, in dem der Wille sein genuines Wesen hat. Alles ist Wille, dessen dranghaftes Wollen allein auf Durchsetzung, Erhalt und Steigerung eigenen Seins und Vermögens ausgerichtet ist. Der Trieb zur Macht als Inbegriff des Eigenvermögens nimmt im Menschen die Form eines Urwillens unmittelbarer Selbstbestimmung an, dem alle kognitiven, emotiven und voluntativen Vollzüge zu dienen haben mit dem Ziel, das herkömmliche Sein des Humanen auf ein übermenschliches Herrentum hin zu transzendieren. In der herrischen Transzendenzgestalt des Übermenschen vollendet sich der Wille zur Macht, der auf nichts außer sich selbst basiert. In der Vergöttlichung des Menschen nimmt der den Gottesgedanken willentlich nihilierende Atheismus manifest anthropotheistische Gestalt an, womit Feuerbach in die Konsequenz getrieben, zugleich aber die Einsicht bestätigt wird, dass Religion nicht oder nur durch Religion ersetzt werden kann.

Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“

Statt die in gedrängter Kürze vorgestellten Beispiele radikaler Religionskritik in der Moderne zu kommentieren sowie auf ihre geschichtlichen und soziokulturellen Konsequenzen hin zu untersuchen, die aufs Ganze gesehen offenkundig verheerend waren, bringe ich nur die grauenhafte Schreckensszene in Erinnerung, die der Dichter Jean Paul (1763-1825) im „Erste(n) Blumenstück“ seines Romans „Siebenkäs“ wie folgt beschrieben hat. „Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: ‚Christus! ist kein Gott?’ Er antwortete: ‚Es ist keiner.’ Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt. Christus fuhr fort: ‚Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?’ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!’ Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: ‚Jesus! haben wir keinen Vater?’ – Und er antwortete mit strömenden Tränen: ‚Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.’“12

„O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach, wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?“13 Was Atheismus bedeutet, kommt in diesen Fragen treffender und abgründiger zum Ausdruck als in den radikalsten Aussagen radikaler Religionskritik. Jean Paul hat die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ anfangs mit einer kurzen Anmerkung versehen. Sie lautet: „Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, daß in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstört wären: so würd’ ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben.“ Möge diese Wirkung auch bei uns eintreten. Es ist dringend an der Zeit, aus atheistischen Albträumen zu erwachen – in Berlin, in Europa und auf der ganzen Welt.


Gunther Wenz, München


Anmerkungen

1 Hierbei handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Vortrags, der im Rahmen des Curriculums Religions- und Weltanschauungsfragen der EZW am 15.9.2009 in Berlin gehalten wurde.

2 Vgl. Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, hg. von Wilhelm Bolin / Friedrich Jodl, Bd. VI: Das Wesen des Christentums, Stuttgart 1960, 325.

3 Brief an Wilhelm Baumgartner vom Winter 1849, in: Gottfried Keller, Gesammelte Briefe. In vier Bänden hg. von Carl Helbling, Bd. I, Bern 1950, 275.

4 „Abendlied“ (1879), in: Gottfried Keller, Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. I: Gedichte, hg. von Kai Kauffmann, Frankfurt a. M. 1995, 407.

5 Vgl. Gunther Wenz, Der Himmel auf Erden. Gottfried Keller als literarischer Adept Feuerbachscher Religionskritik, in: Jan Rohls / Gunther Wenz (Hg.), Protestantismus und deutsche Literatur, Göttingen 2004, 197-214.

6 Gottfried Keller, Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. II: Der grüne Heinrich. Erste Fassung, hg. von Thomas Böning / Gerhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1985, 850.

7 Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. XI: Jugendschriften, Stuttgart 1962, 11ff.

8 Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. XI, 69ff.

9 Ebd., 71.

10 Vgl. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: ders. / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1953, 583-585.

11 Friedrich Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe Werke (KGW), hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Berlin / New York 1967ff, Bd. VII/3, 339.

12 Jean Paul, Sämtliche Werke, Abt. I., Bd. II: Siebenkäs. Flegeljahre, München 31971, 273.

13 Ebd., 274.