Faszination Fußball

Der Fußball boomt – trotz Schiedsrichterskandalen, trotz schwindelerregender Ablösesummen, trotz horrender Gehälter von Spielern und Trainern. Die Stadien sind voll. Erst recht in der Zeit vom 9. Juni bis zum 9. Juli, wenn „die Welt zu Gast bei Freunden“ ist und wenn in den Fußballstadien in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, Leipzig, Dortmund … darum gespielt wird, wer Weltmeister im Jahre 2006 wird. Deutschland als Austragungsort – das dürfte es nur alle 30 bis 40 Jahre geben. Die ganze Welt wird das Finale im Berliner Olympiastadion am 9. Juli verfolgen. Das ist spannend, nicht nur für den, der fast in Sichtweite davon lebt. Die „Weltmacht Fußball“ zieht die Menschen in ihren Bann. Mediale Vernetzungen heben die Grenzen des Raumes auf. Vor den Fernsehern und Großleinwänden wird universale Gleichzeitigkeit geschaffen. Was anderswo geschieht, erleben wir mit. Das Großereignis Fußball wollen viele nutzen, auch die Kirchen, zum Beispiel durch Übertragungen von Spielen der Weltmeisterschaft in Gemeindehäusern und durch zahlreiche Veranstaltungen, die sich mit dem Thema Fußball und Kirche befassen.

Warum fasziniert Fußball?

• Fußball ist ein Abbild und Gleichnis des wirklichen Lebens, eine durch und durch irdische Angelegenheit. Zum wirklichen Leben gehört, zu gewinnen und zu verlieren, sich anzustrengen, Ziele zu erreichen, glücklich den Sieg zu erringen, aber auch Erfahrungen ertragen zu müssen von vergeblicher Mühe. Schiedsrichter irren sich manchmal in ihren Entscheidungen. Sie bevorzugen Mannschaften oder benachteiligen sie. Das Ergebnis eines Spiels entspricht dem Spielverlauf oder auch nicht. Wir kennen solche Erfahrungen und können deshalb mitreden. Und natürlich haben die meisten von uns selbst schon mal Fußball gespielt. Wenn nicht im Verein, dann auf dem Schulhof, im Sportunterricht, im Garten, auf der Straße ... Fußball ist dem wirklichen Leben nahe.

• Am Fußball kann man studieren, was es heißt, in einer modernen Welt zu leben. Auf Fußballplätzen begegnet die globalisierte Welt mit allen Chancen und Schattenseiten. Beim FC Barcelona, AC Mailand oder Chelsea London, auch bei deutschen Clubs in Berlin, Dortmund, Hannover kommen die Spieler aus verschiedensten Erdteilen, die mit ganz großen Namen meist aus Südamerika. Beim Fußball gibt es keine westliche Vorherrschaft und keinen amerikanischen Unilateralismus. Die Differenzierung in Nationalmannschaften zur WM offenbart die längst erfolgte Internationalisierung der Bundesliga. Grenzen von Nationalität und Rasse scheinen überwunden. Trotzdem ereignen sich auf den Plätzen rassistische Ausbrüche. Die globalisierte Welt hat Feindbildpflege, Aggressivität und Gewalt nicht überwunden. Der Fußball kann dies zeigen und offenbaren, gleichzeitig einen Beitrag zur Verständigung, zum Fairplay auf dem Rasen und im Leben leisten. Ethnische und kulturelle Andersheit wird als Bereicherung erfahren, auch in Sachen Religion, wenn Brasilianer und Afrikaner unbefangen ihren alltagsbezogenen Glauben an Gott auf dem Platz zum Ausdruck bringen.

• Das Motto „Geld regiert die Welt“ trifft auf den Fußball besonders zu. Chelsea London konnte durch den russischen Multimilliardär Abramowitsch „gekauft“ und an die Spitze der englischen Liga geführt werden. Dennoch haben Geld und Werbung allein noch niemanden zum Star oder Superstar gemacht. Talent und Leistung sind unabdingbar. Auch denen steht der Weg nach ganz oben offen, die aus den Slums brasilianischer oder afrikanischer Metropolen kommen.

• Fußballspiele bescheren Spielern und Zuschauern fast zwei Stunden lang die Möglichkeit, von der Langeweile bis zur Höchstspannung alle Emotionen zu durchleben. Auf dem Rasen gibt es ein weites Mittelfeld, wo fast nichts passiert und ergebnislos gekämpft wird. Mit einem Tor kann sich alles in Sekunden ändern. Fußball enttabuisiert die emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten der Menschen. Er bietet dem Einzelnen auf Zeit intensive Gemeinschaftserfahrungen an. In den Stadien artikulieren sich starke Gefühle. Die Erfahrungslosigkeit und Erfahrungsarmut des Alltags macht empfänglich für Spiel und Spannung, für das den Alltag Unterbrechende.

• Die Sehnsucht nach angenehmen Unterbrechungen ist tief verwurzelt im Menschen. Ein Augenblick kann entscheiden, ob ein Spiel gewonnen oder verloren wird. Ekstatische Begeisterung und sprachlose Traurigkeit liegen oft nah beieinander. Viele Besucher und Fans entdecken ihre Möglichkeiten zur Identifikation, zum Schreien, Singen, Rufen, Brüllen, Toben, Lachen. Die Texte der Ekstase auf Fußballplätzen sind weder religiös noch erbaulich, außerhalb des Kampfes um den Sieg kaum erträglich. Im Außer-sich-sein lernt der Mensch sich als Fremden kennen und wird auch für andere ein Fremder. Darin liegt die Faszination ekstatischer Erfahrungen auf dem Fußballplatz. Wenn Menschen bei einem Spiel einmal losschreien dürfen, kann dies therapeutische Wirkung haben und positive, tiefgreifende Gefühlserlebnisse hervorrufen. Wer dazu Religion sagt, vergöttlicht eine zutiefst menschliche Erfahrung.

Wenn Gott verloren geht, kann freilich alles zum Religionsersatz werden, auch der Fußball. Religionsartige Rituale und Motive kommen im Fußball vielfach vor. Ihre Wahrnehmung und Beschreibung sagt etwas über die Sehnsucht des Menschen in einer säkular geprägten Welt aus. Fußball ist keine Religion, sondern irdisches Vergnügen und Abbild des wirklichen Lebens. Dabei soll es bleiben.


Reinhard Hempelmann