Ulrike Treusch

Faszination Fantasy

Fantasy ist in, nicht nur durch die Verfilmungen von Bestsellern in den letzten Jahren, z. B. der Harry-Potter-Reihe (Joanne K. Rowling), der Herr-der-Ringe-Trilogie (J. R. R. Tolkien), der Chroniken von Narnia (C. S. Lewis) oder der Serie „His Dark Materials“ (Philip Pullman), und das dazugehörige Merchandising. „Fantasy“ ist in fast jeder Sparte vertreten, in Buch und Film, in Musik und Kunst und in Rollenspielen (von den klassischen Pen-and-Paper-Spielen zu interaktiven Rollenspielen im World Wide Web).Den Einstieg in die Fantasy-Welt bieten meist die Bücher. Wer im Frühjahr 2011 die Filiale einer Buchhandelskette betritt, wird mit dem Phänomen Fantasy meist gleich im Eingangsbereich konfrontiert. In fast jeder Buchhandlung findet sich in der Belletristik-Abteilung ein spezieller Bereich für Fantasy-Literatur, der im Umfang des Sortiments dem Krimi- und Thriller-Angebot gleichkommt. In den Kinder- und Jugendbuchabteilungen stellen Bücher unter dem Label Fantasy sogar das überwiegende Angebot, seien es Neuerscheinungen oder Bestseller wie die Bis(s)-Reihe von Stephenie Meyer. Die Spiegel-Bestsellerliste vom Februar 2011 nennt in der Sparte Jugendbuch unter den ersten 20 Titeln rund zehn Fantasy-Titel, darunter Cornelia Funkes „Reckless – Steinernes Fleisch“ und „Tintentod“, Jonathan Strouds „Bartimäus – Der Ring des Salomo“, Stephenie Meyers „Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl“, Joanne K. Rowlings „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“, Mary Pope Osbornes „Die geheimnisvolle Welt von Merlin“, Erin Hunters „Warrior Cats – Feuersterns Mission“ und Rick Riordans „Percy Jackson – Im Bann des Zyklopen“. Fast alle dieser meistverkauften Jugendbücher sind Fortsetzungsbände bzw. Teile einer auf mehrere Bände angelegten Serie. Das große Interesse an Fantasy-Büchern und die ständig wachsende Zahl von Veröffentlichungen unter dem (werbe- und verkaufswirksamen) Label Fantasy hat dazu geführt, dass Buchketten die Neuerscheinungen in diesem Bereich in eigenen Sparten-Prospekten bewerben und sich im Internet eigene Rezensionsorgane entwickelten (wie die Bibliotheka Phantastika, www.bibliotheka-phantastika.de). Doch wird in der Öffentlichkeit selten diskutiert, was Fantasy eigentlich meint; Fantasy ist, was Verlage und Buchhandel dieser Sparte zuordnen. Dabei gibt es angesichts des Booms gerade der Fantasy-Jugendliteratur im englisch- und deutschsprachigen Raum auch kritische Stimmen, die den Inhalt dieser „phantastischen“ Bücher hinterfragen oder das Genre gänzlich ablehnen.

Phantastische Literatur und Fantasy

Fantasy-Literatur wird meist als Untergattung der sogenannten Phantastischen Literatur verstanden, wobei sich Fantasy dieser gegenüber – nicht nur aufgrund der Zahl der Publikationen – verselbständigt hat und die Gattung teils auch direkt auf die Welt der antiken Sagen und Mythen zurückgeführt wird. Fantasy-Literatur geht primär aus der Phantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts hervor und rezipiert ebenso die vor allem aus dem englischsprachigen Raum kommende Grusel- und Schauerliteratur (Frankenstein, Dracula). Gemeinsam ist der Phantastischen Literatur und der Fantasy-Literatur, wie der Name andeutet, das Phantastische, die übernatürlichen Elemente der Handlung. So ist der Kontrast zwischen der „realen“ Welt, in der die Protagonisten leben, und dem Einbruch des Übernatürlichen ein Grundzug Phantastischer Literatur des 19. Jahrhunderts (z. B. im bekannten Kinderbuch „Peter Pan“).Die Trilogie „Der Herr der Ringe“ (1954/55) von J. R. R. Tolkien wird als eines der Grundwerke der modernen Fantasy-Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts angesehen. Die Handlung spielt ausschließlich in einer fiktiven Welt, die Parallelen zu unserer Welt aufweist und in der (gute und schlechte) Magie herrscht. Tolkiens umfangreiches Werk wurde in inhaltlicher (Figurenrepertoire) wie sprachlicher Hinsicht stilbildend für die seit den 1960er Jahren zuerst im englischsprachigen Raum entstandene Fantasy-Literatur. Fantasy nach dem Vorbild von Tolkiens Trilogie gilt heute als „High Fantasy“.Mit der Übersetzung und Rezeption der Tolkien-Romane, aber auch weiterer Romane des Genres (etwa so unterschiedlicher Erzählzyklen wie C. S. Lewis’ Narnia-Chroniken und Robert E. Howards Conan-Bücher) ist Fantasy seit den 1980er Jahren in der deutschsprachigen Belletristik angekommen. Inzwischen haben sich zahlreiche Untergattungen entwickelt, die die Fülle der einschlägigen Bücher nach unterschiedlichen Kriterien zu kategorisieren versuchen: nach den Adressaten (Jugendliche, Erwachsene oder alle Altersgruppen) oder dem „Niveau“ der Bücher (High / Low Fantasy), vor allem aber nach den Inhalten. So ist die High Fantasy meist in einer mittelalterlich anmutenden Welt angesiedelt (vgl. C. Paolinis „Eragon“), während „Heroische Fantasy“ (auch: Low Fantasy oder Sword and Sorcery) actionreiche Abenteuererzählungen umfasst. „Contemporary“ und „Urban Fantasy“ wie die Narnia-Chroniken oder die Bartimäus-Serie zeichnen sich durch die Verschmelzung von realer und magischer Welt aus und unterscheiden sich von Märchenromanen wie Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, um nur einige der Subgenres zu nennen.Dazu gibt es häufig Gattungsüberschneidungen, die teilweise als „Crossover“ literarisch beabsichtigt sind. Das gilt auch für die Überschneidungen von Fantasy und der ebenfalls aus der Phantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts hervorgegangenen Science-Fiction- und Horror-Literatur. So finden sich in Fantasy-Romanen Elemente der Horrorliteratur wie die sogenannten Untoten, etwa in Stephenie Meyers Bis(s)-Serie, deren Protagonist ein Vampir ist. Zur „Science Fantasy“ kann Philip Pullmans Trilogie „His Dark Materials“ gezählt werden. Personelle Überschneidungen gibt es zudem, wo Autoren und Verlage beide Genres – Fantasy und Science-Fiction – bedienen.Zur Unübersichtlichkeit tragen jedoch nicht nur die Subgenres und Überschneidungen bei, sondern bereits das Problem der Eingrenzung von Fantasy-Literatur. So versteht Frank Weinreich Fantasy in einer „engeren“ Definition als „ein literarisches Genre, dessen zentraler Inhalt die Annahme des faktischen Vorhandenseins und Wirkens metaphysischer Kräfte oder Wesen ist, das als Fiktion auftritt und auch als Fiktion verstanden werden soll und muss“1. Damit ist wie für die Phantastische Literatur des 19. Jahrhunderts auch für die Fantasy-Literatur das Übernatürliche konstitutiv für die Gattung, wobei Weinreich das Übernatürliche „durch das für die Geschichte konstitutive Vorhandensein von Heldinnen und Helden, einer imaginären Welt als Haupthandlungsort (dieser kann auch der realen Welt entspringen) und der Magie als für die Erzählung selbstverständliches Faktum“2 gesetzt sieht. Die Helden haben meist übernatürliche Fähigkeiten oder verfügen über magische Hilfsmittel. Sie agieren in einer Welt, die vonseiten der empirischen Welt des Lesers nicht zugänglich ist und in der Magie selbstverständlich genutzt wird. Unter diese Definition, die das Wesen der Fantasy-Literatur trifft, aber immer noch weit ist, fallen die Harry-Potter-Serie genauso wie Volks- und Kunstmärchen.

Zur Diskussion um die Fantasy-Literatur

Diese umfassende Definition sowie die stetig wachsende Zahl der Publikationen führen zu einer Unübersichtlichkeit, die es erschwert, „die Fantasy-Literatur“ angemessen differenziert und kritisch zu betrachten. Kritik an Fantasy-Büchern aus einer christlichen Motivation heraus findet sich nicht nur im englischsprachigen, sondern auch im deutschsprachigen Raum. Diese Kritik – oft publiziert auf einschlägigen Internetseiten und in Internetforen – richtet sich gegen Fantasy-Literatur entweder in Form einer Kritik an einzelnen Werken und Reihen oder in Form einer pauschalen Ablehnung der Gattung. Interessanterweise gibt es kaum Kritik an Science-Fiction- oder auch Horror-Literatur, die ja ebenfalls ihre Wurzeln in der Phantastischen Literatur haben und sich phantastischer Elemente bedienen. Dies hat vermutlich mehrere Gründe: Science-Fiction- und Horror-Literatur richten sich in der Regel an ein erwachsen(er)es Publikum, während Fantasy-Literatur gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich außerordentlich stark vertreten ist. Vor allem aber ist es wohl die Verwendung von Magie und Zauberei, die immer wieder die (christlich motivierte) Kritik auslöst. Diskutiert und kritisiert werden aus christlicher Motivation heraus nur selten Sprache und Niveau der Bücher, häufig aber deren Inhalte, z. B. die der Harry-Potter-Reihe. Mit der kritischen Sichtung der Inhalte ist die Kritik an der Rezeption und Wirkweise der Bücher verbunden – gerade im Blick auf junge Leserinnen und Leser.

Sprache und Niveau

Trotz überzeugender Gegenbeispiele aus dem Bereich der High Fantasy haftet der Fantasy-Literatur immer noch das Klischee von Trivialliteratur und Popkultur an. Wurden frühe Fantasy-Texte der 1960er bis 1980er Jahre oft noch in sogenannten Pulp-Magazinen veröffentlicht, so kann dieser Vorwurf die sprachliche Qualität des Genres als Ganzes nicht treffen. Die Herr-der-Ringe-Trilogie von Tolkien gilt sogar als sprachliches Kunstwerk. Die meiste Fantasy-Literatur ist zwar schlichter, aber nicht schlecht geschrieben. Sie will den Leser unterhalten, in eine neue Welt mitnehmen und ist in der Regel spannend und gut verständlich geschrieben, wie die Harry-Potter-Romane, die Narnia-Chroniken, die Trilogie „His Dark Materials“ oder die Artemis-Fowl-Romane zeigen, die sprachlich jüngeren wie älteren Lesern leicht zugänglich sind.3 Auffallend ist aber, dass Fantasy-Bücher oft als mehrbändige Reihe angelegt sind, was – verbunden mit den gattungstypischen Elementen beim Personal (Zwerge, Elfen, Vampire usw.) und bei der Handlung (Held im Kampf gegen das Böse) – auch sprachlich zu einem einfachen Niveau, ähnlich wie bei den Soaps im Fernsehen, führen kann. Doch wie ein Mord noch keinen guten Krimi macht, macht eben ein Zwerg noch keine gelungene Fantasy-Erzählung. Auch hier gilt es zu unterscheiden und zu entscheiden, welches sprachliche (und inhaltliche) Niveau dem jeweiligen Leser angemessen ist.

Inhalte

Stärker im Fokus der Befürworter wie der Gegner von Fantasy-Literatur sind die Inhalte. Die Diskussion um die „christlichen“, „nichtchristlichen“ oder gar „antichristlichen“ Inhalte der Harry-Potter-Romane, wie sie sich in zahlreichen englischen und einigen deutschen Büchern und unzähligen Äußerungen im Internet zwischen dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1997 und dem des letzten, siebten Bandes 2007 entfaltete, sei exemplarisch genannt. Ähnliche Diskussionen löste die Herr-der-Ringe-Trilogie aus, und derzeit beginnt, eher verhalten, eine Diskussion über die Trilogie von Philip Pullman („Der goldene Kompass“, „Das magische Messer“, „Das Bernstein-Teleskop“), der mit seiner 1995 bis 2000 erschienenen Reihe einen bewusst humanistischen Gegenentwurf zu Lewis’ Narnia-Chroniken schaffen wollte.Im Zentrum christlich motivierter negativer Kritik stehen das Auftauchen übernatürlicher Elemente und Figuren sowie, daraus folgend, die Beschreibung magischer Handlungen. Diese werden oft als Anstiften der Leser zu eigenem Gebrauch von Magie und Zauberei interpretiert, was als unbiblisch verurteilt wird. Als Beispiel soll der Vorwurf der Verführung zum Wicca-Hexenkult durch die Lektüre von Harry-Potter-Romanen genannt werden: Wird in der Hogwarts-Schule das Zaubern gelehrt (offensichtlich mit gewissen Parallelen zu gegenwärtigen Praktiken des Wicca-Hexenkults), so wird darin die Gefahr gesehen, dass sich die jugendlichen Leser magische Praktiken aneignen und sie ausüben könnten.4 In diesem Gedankengang wird eine unmittelbare Verbindung von fiktiver Erzählung und der Umsetzung des Gelesenen in der Welt des Lesers angenommen.Außerdem wird die fiktive Welt der Fantasy-Literatur selbst kritisch gesehen als eine Welt, in der grundlegende Inhalte des christlichen Glaubens nicht oder verfälscht auftauchen. Da in einer Fantasy-Erzählung christliche Kulthandlungen (z.B. Gottesdienste, Gebete) und christliche Glaubensüberzeugungen (Rechtfertigung, Gnade) nicht oder allenfalls – wie in den Narnia-Chroniken – allegorisch thematisiert werden, gilt manchen Kritikern die Fantasy-Welt schlicht als „Welt ohne Gott“. Dies führt zu einer generellen Ablehnung einer Literatur, die kein spezifisch christliches Weltbild propagiert, seien es nun aktuelle Romane oder Märchen und Sagen.In der Begründung der Ablehnung von Werken wie „Harry Potter“ oder „Herr der Ringe“ wird schließlich oft auch die persönliche Haltung des Autors zum christlichen Glauben gewertet. So wird der Glaube von J. R. R. Tolkien und der Inklings ebenso hinterfragt und beurteilt wie der von J. K. Rowling (Vorwurf des magisch-schamanistischen Denkens), von S. Meyer (mormonische Glaubensinhalte) oder R. Isau (Affinität zu den Zeugen Jehovas), was zu einer Ablehnung ihrer Werke führt. Eine Trennung von persönlicher Überzeugung des Autors und seinem Werk ist in dieser Perspektive nicht gegeben.Die Kontra-Argumente, die hier zusammengefasst wurden, finden sich in unterschiedlichen Spielarten und Kombinationen. Die Kritiker argumentieren – außer mit der Beurteilung des Autors – mit den Inhalten, den Personen und Motiven der Bücher, wie das umgekehrt auch die Befürworter tun. Diese argumentieren mit dem für jede Fantasy-Literatur konstitutiven Kampf des Guten gegen das Böse und dem finalen Sieg des Guten, mit den positiven Charakterzügen der Helden, die eine Identifikation des Lesers ermöglichen, und mit den wiederkehrenden Motiven von Freundschaft, Opferbereitschaft und Tugenden. In dieser Perspektive kann Fantasy-Literatur als Anknüpfungspunkt für Gespräche über christliche Werte und das Christentum gesehen werden. So werden die Bücher gar zur „praeparatio evangelii“, zur Vorbereitung auf die frohe Botschaft von Jesus Christus, und können auch als Gesprächsgrundlage eines Bibelstudienkurses dienen.5 Das Fantasy-Werk wird so als aktueller christlich-missionarischer Anknüpfungspunkt verstanden.

Rezeption

Kritikern geht es außer um die Sichtung der Inhalte vor allem um deren Wirkung und Rezeption. Dabei wird die Rezeption selten in der oben schon erwähnten Pauschalität von Lesen gleich Handeln, also der direkten Umsetzung der Lektüre in okkulte Praktiken, vertreten: Bei einer solchen Argumentation wird nicht beachtet, dass Fantasy (gemäß obiger Definition) bewusst als Fiktion auftritt und auch als Fiktion verstanden werden soll. Magie und Zauberei als Bestandteil einer „phantastischen“, märchenhaften Geschichte propagieren keine okkulten Handlungen des Lesers, und Lektüre bedeutet nicht passiv-unreflektierte Übernahme des Gelesenen, sondern setzt ein aktives Verarbeiten voraus.Zu den Stereotypen der Fantasy-Kritik gehört der Vorwurf des Eskapismus, der Flucht in eine fiktive Welt unter Ausblenden der Realitäten und Probleme der eigenen Zeit und Gesellschaft. Dieser Vorwurf scheint auf den ersten Blick nicht unberechtigt zu sein, gleicht doch die fiktive Erzählwelt eines solchen Romans der Welt der Leser oft nur wenig: Fabelwesen, Magie und eine meist vortechnische, historisch-mittelalterliche Gesellschaft entführen den Leser im wahrsten Sinne des Wortes in eine andere Welt. Wer dies nur negativ als Flucht aus der eigenen Realität verurteilt, verkennt die Chance, die sich durch das Eintauchen in die Fantasy-Welt bieten kann: „Zunächst scheint es merkwürdig, dass man sich gerade in den Zeiten des Unfriedens so gern zurückzieht in die Fantasy-Welten. Dass man versucht, den Schlachten, dem Terror, dem Verrat zu entkommen, nur um im Parallelland wieder vor allem dies zu finden: Schlachten, Terror, Verrat. Man kann auch sagen: Fantasy ist eine Realitätsfalle.“6 Der zeitweilige Rückzug in die Fantasy-Welt kann daher auch als Auseinandersetzung mit der Realität verstanden werden – aber aus einer neuen Perspektive heraus. Eine Fantasy-Erzählung bietet trotz oder gerade in der Fremdartigkeit der fiktiven Welt die Möglichkeit, sich mit eigenen Problemen auseinanderzusetzen und diese zu bewältigen.Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim (1903-1990) erkannte schon in den 1970er Jahren, dass Kinder durch Märchen Probleme ihres eigenen Alltags zu bewältigen lernen, und forderte, so der deutsche Buchtitel: „Kinder brauchen Märchen“7. Wenn Kinder aber z. B. aus dem Märchen von Hänsel und Gretel Bewältigungsstrategien für das beim Heranwachsen unvermeidliche zeitweilige Verlassenwerden von ihren Eltern entwickeln können, so kann entsprechend auch Fantasy-Literatur den jugendlichen Lesern Hilfestellung geben. Oft knüpfen Romane wie die Percy-Jackson- oder Harry-Potter-Serie sogar direkt an die Alltagserfahrungen von jungen Lesern an, z. B. an den Schulbesuch: Der Held Percy Jackson hat (wie alle Halbgötter) mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu kämpfen und folglich große Probleme, sich in einer Schule von „normalen“ Mitschülern einzufügen. Die drei Protagonisten Harry, Ron und Hermine bewältigen übermäßig viele Hausaufgaben und ungerechte Bestrafungen durch einen Lehrer; sie kämpfen gegen das Mobbing ihres weniger begabten Mitschülers Neville. Der Vorwurf des Eskapismus trifft, einen verantwortungsvollen Umgang mit den Büchern vorausgesetzt, auf Fantasy-Lektüre daher nicht in stärkerem Maße zu als auf die Lektüre von Märchen oder fiktionaler Literatur anderer Gattungen, die immer eine kleine, durchaus positiv zu bewertende „Alltagsflucht“ ist. Fantasy-Literatur, auch diejenige, die sich besonders an junge Leser richtet, hat fast immer (nur) das Ziel zu unterhalten – und vielleicht auch, in Anlehnung an Hesiods Bestimmung einer Fabel (fabula docet et delectat), den Leser zu belehren oder ihm nützlich zu sein.

Problematisch wird Fantasy, wo sie als Genre – über die Unterhaltung und die grundlegende Orientierungsfunktion jedes literarischen Werkes hinaus – bewusst als (allein) sinnstiftend und als „neuer Mythos“ verstanden wird. Daher möchte ich abschließend auf zwei Aspekte eingehen, die in der Diskussion bisher kaum aufgenommen wurden und die zugleich die Attraktivität der Gattung erklären: Fantasy-Literatur als Sinnstiftung in einer säkularen Welt und der Zusammenhang von Mythos und Fantasy.

Fantasy macht Sinn!?

In fast jedem Werk über Fantasy-Literatur werden die Funktionen des Genres mit einem Zitat von J. R. R. Tolkien aus seiner Vorlesung über Phantastische Literatur bestimmt: „Fairy stories offer: Fantasy, Recovery, Escape, Consolation, all things of which children have, as a rule, less need than older people.“8 Phantastische Literatur weckt Tolkien zufolge also nicht nur die Phantasie des Lesers, sondern bietet zugleich die Möglichkeit der Wiederherstellung (recovery), der Flucht (escape) und des Trostes (consolation). Ohne auf den Vorwurf des Eskapismus nochmals einzugehen (bei Tolkien wird diese Flucht aus dem Alltag durch „fairy tales“ positiv bestimmt), hat damit Phantastische Literatur die Funktion, den Menschen wiederherzustellen, eine Formulierung, die Tolkien erläutert als das Wiedererlangen eines klaren Blicks und das Einnehmen einer neuen Perspektive auf bereits Bekanntes und Vertrautes. Damit wird der Phantastischen Literatur und mit ihr der Fantasy-Literatur Sinnstiftung in Trost und Wiederherstellung zugesprochen.Diese sinnstiftende Aufgabe war bei Tolkien vermutlich nicht in jener Absolutheit ausgesagt, wie sie gegenwärtig manche Vertreter des Genres verstehen. Doch konsequent weitergedacht kann Fantasy-Literatur dem Leser in der säkularen Gesellschaft Orientierung und Werte bieten, wie er sie nicht mehr in der Religion oder dem christlichen Glauben findet. Diese Orientierungsmöglichkeit könnte neben der gut geschriebenen Geschichte die Attraktivität des Genres erklären. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Kampf des Guten gegen das Böse ist das Grundmuster jeder Fantasy-Erzählung. In diesem Kampf stellt sich stets die Frage, wie mit dem besiegten Feind umgegangen wird. Der etwa 13-jährige Harry Potter vertritt die Ansicht, dass der (vermeintliche) Mörder seiner Eltern es selbstverständlich verdient, getötet zu werden bzw. seine Seele durch den Kuss eines „Dementors“ (grausames magisches Wesen) zu verlieren. Sein Lehrer Remus Lupin hält dieser Auge-um-Auge-Gerechtigkeit entgegen: „Glaubst du wirklich, irgendjemand verdient das?“9 Als gereifter Held kann Harry in den folgenden Bänden besiegten Feinden gegenüber Barmherzigkeit walten lassen. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit (erfahren und widerfahren lassen) sind Themen, mit denen sich jugendliche wie ältere Leser beschäftigen. Sie werden in Rowlings Harry-Potter-Romanen nicht religiös begründet. Doch die Moral- und Wertvorstellungen bei Harry Potter wie in anderen Fantasy-Romanen haben fast immer christlich-abendländische Wurzeln.10Trotz des Grundschemas vom Kampf des Guten gegen das Böse wurden Fantasy-Bücher in der Regel weder für die ethische noch die metaphysische Orientierung des Lesers geschrieben; sie sind in dieser Orientierungs- und Wertevermittlung zwar hilfreich, aber (hier ist den Kritikern recht zu geben) aus christlicher Sicht letztlich defizitär. Wird die sinnstiftende Funktion der Fantasy-Literatur, insbesondere der Gedanke der Wiederherstellung, verabsolutiert, kann diese Literatur für den einzelnen Leser zum Religionsersatz werden. Wird gar das Genre als „neuer Mythos“ oder Neomythos verstanden, ist diese religiöse Komponente offensichtlich.

Fantasy und Mythos

„Fantasy ist immer auch Metaphysik“ – dergestalt, dass die von ihr „beschriebenen Ereignisse und Welten definitiv nicht Bestandteil der empirischen Welt“ sind und das Genre mit dem Anspruch auftritt, „wahre“ Geschichten zu erzählen.11 „Wahr sind die Erzählungen in dem Sinne, dass das Erzählte als real präsentiert wird.“ In dieser weiten Definition von Fantasy sind das Vorhandensein übernatürlicher Elemente und der Wahrheitsanspruch der Texte konstitutiv. Unter ein solches Verständnis von Fantasy fallen dann aber auch Bibel, Koran und andere religiöse Texte, da sie die Existenz des Numinosen und damit Metaphysik voraussetzen und zugleich typische Fantasy-Motive aufweisen, wie in den Visionen der Propheten Hesekiel und Daniel oder der Johannes-Offenbarung.Der entscheidende Unterschied zwischen Fantasy und mythisch-religiösen Texten liegt, so auch die Vertreter dieser weiten Definition von Fantasy, in ihrem Wahrheitsanspruch. Der Wahrheitsanspruch von Fantasy-Erzählungen gilt nur für die imaginäre, fiktive Welt, also innerhalb der Texte, während religiöse Texte einen externen Wahrheitsanspruch haben. Letztere behalten diesen Anspruch aber nur, solange ihren Aussagen gesellschaftlich wie individuell Wahrheitscharakter zugeschrieben wird. „Wie ist es nämlich einzuschätzen, wenn ehedem als Tatsachenbehauptungen auftretende Sagen, Religionsschriften und Überlieferungen nicht mehr geglaubt werden? ... Von der Möglichkeit ... eines Statuswechsels von nach außen gerichtetem Tatsachenanspruch nach innen und umgekehrt, ist kein Werk gefeit, es könnte auch der Bibel passieren und hat in gewissem Maße auch schon begonnen.“12 In diesem Gedanken aber liegt der Keim für eine quasireligiöse Überhöhung von Fantasy-Literatur zur „Ersatzreligion“, wo der gesellschaftliche oder auch nur der persönliche Glaube an die Aussagen der jeweiligen Texte (Bibel, Koran) nicht mehr existiert und die religiösen Texte für den Rezipienten den äußeren Wahrheitsanspruch verloren haben. Fantasy-Literatur wird dann zum neuen Mythos.Dienten die Mythen der klassischen Antike oder die nordischen Götter- und Heldensagen einst dazu, die Welt zu erklären und durch die Vermittlung einer Weltordnung Sinn zu stiften, stets mit dem Anspruch auf äußere Wahrheit, so kann Fantasy-Literatur diese Rolle übernehmen. Sie bedient sich dann nicht nur der mythischen Motive und dessen Personals, seien dies Zwerge, Elfen, Drachen oder Götter, sondern übernimmt auch die Funktion der Welterklärung und Sinnstiftung – wenn auch „nurmehr mit einem Augenzwinkern und einem spielerischen ‚was wäre wenn’“13. Denn Fantasy-Erzählungen „als nicht geglaubte Mythen“14 haben keinen äußeren, sondern nur einen textimmanenten Wahrheitsanspruch. Sie versetzen den Leser in eine Welt, „die mit einem faktischen transzendenten Überbau ausgestattet ist und so das Bedürfnis nach Transzendenz und metaphysischer Wirklichkeit“ bedient, „wenn auch nur mehr als Spiel und Experiment“.15Augenzwinkern, Spiel und Experiment sind aber die entscheidenden Stichworte. Denn Fantasy-Literatur kommt zwar dem Bedürfnis des Lesers nach Realitätsüberschreitung und Metaphysik (und darin auch Weltordnung) entgegen, doch bestimmt letztlich der Leser selbst die Art und Weise der Rezeption. Er entscheidet, ob er die in einer Fantasy-Erzählung vorgestellte Weltordnung für sich übernimmt und als „seinen“ Mythos versteht. „Die Bereicherung [durch die Lektüre] kann dabei von unterhaltender Träumerei bis zum Gewinn umfassender subjektiver Sinnstiftung reichen.“16 Es ist der Rezipient, der der Fantasy-Literatur einen – von ihr nicht intendierten – äußeren Wahrheitsanspruch zuspricht und sie als neuen Mythos in der Funktion des Heilens und Tröstens sowie des Erklärens der Welt versteht.Treffen Fantasy-Erzählungen beim Leser jedoch nicht auf ein zu füllendes metaphysisches Vakuum, können sie das sein, was sie in aller Regel sein wollen: eine abenteuerreiche Spiel- und Phantasiewelt, die unterhalten will.


Ulrike Treusch, Kassel


Anmerkungen

1 Frank Weinreich, Fantasy. Einführung, Essen 2007, 37. Neben Weinreichs guter Einführung in die Fantasy-Literatur zählt zu den deutschsprachigen Standardwerken die Dissertation von Helmut W. Pesch, Fantasy. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung, Forchheim / Passau 1982 (22001). In beiden Büchern wird weitere Literatur zum Thema genannt.

2 Frank Weinreich, Fantasy, a.a.O., 10.

3 Ich wähle zur Illustration bewusst die m. E. bekanntesten Fantasy-Romane, wobei die Aussagen ebenso für viele hier nicht genannte Fantasy-Bücher gelten.

4 Vgl. z. B. Steve Wohlberg, Hour of the Witch. Harry Potter, Wicca Witchcraft and the Bible, Shippensburg 2005; Richard Abanes, Harry Potter and the Bible. The Menace behind the Magick, Camp Hill 2001.

5 Die Interpretation der Harry-Potter-Romane als „praeparatio evangelii“ findet sich m. W. erstmals bei Axel Schmidt, Die Suche nach dem rechten Lebensmittel. Harry Potter als Beispiel einer modernen praeparatio Evangelii, in: Theologie und Glaube 92 (2002), 353-366, sowie bei Matthias Morgenroth, Der Harry-Potter-Zauber. Ein Bestseller als Spiegel der gegenwärtigen Privatreligiosität?, in: Pastoraltheologie 90 (2001), 66-77. Zum Bibelstudienkurs vgl. Andrew Clark (Hg.), Connect: Harry Potter. A Connect Bible Study, Milton Keynes 2001.

6 Georg Seeßlen, Glaubensschlacht in Hollywood, in: Zeit online vom 1.8.2008.

7 Bruno Bettelheim, The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales, New York 1976.

8 J. R. R. Tolkien, On Fairy Stories, 1937 entstanden, 1947 veröffentlicht; vgl. Frank Weinreich, Über Märchen – Tolkiens Sicht des Phantastischen, www.polyoinos.de/tolk_stuff/fairystories.htm.

9 Vgl. Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Gefangene von Askaban, Hamburg 1999 (revidierte Fassung, Taschenbuch-Ausgabe März 2007), 274.

10 Vgl. dazu auch Heiko Ehrhardt, Voldemort, Sauron & Co. Das Böse in der Fantasy-Literatur, in: MD 8/2009, 294-300.

11 Frank Weinreich, Fantasy, a.a.O., 28; vgl. zu Fantasy als Mythos auch die Dissertation von Christian Kölzer, „Fairy tales are more than true“. Das mythische und neomythische Weltdeutungspotential der Fantasy am Beispiel von J. R. R. Tolkiens „The Lord of the Rings“ und Philip Pullmans „His Dark Materials“ (Studien zur anglistischen Literatur- und Sprachwissenschaft 32), Trier 2008.

12 Frank Weinreich, Fantasy, a.a.O., 34.13 Ebd., 12.14 Ebd., 13.15 Ebd., 41.16 Ebd., 39