Neuapostolische Kirche

Fälschung, Veränderung oder Anpassung an die Wirklichkeit?

(Letzter Bericht: 10/2006, 393f) Die Neuapostolische Kirche (NAK) ist bekanntlich aus den Katholisch-apostolischen Gemeinden hervorgegangen. Diese Entwicklung war in ihren Einzelheiten kompliziert und muss uns an dieser Stelle nicht weiter interessieren.1 Es reicht, daran zu erinnern, dass die NAK die Katholisch-apostolischen Gemeinden in einigen Fragen in der Tat beerbt hat, in vielen Fragen ist sie jedoch weit vom katholisch-apostolischen Erbe abgewichen.

Das zentrale Dokument der Katholisch-apostolischen Bewegung war das sog. „Testimonium“ aus dem Jahre 1837. Der vollständige Titel lautet „Testimonium. Das Zeugnis der Apostel an die geistlichen und weltlichen Häupter der Christenheit“. Es handelt sich hierbei um ein Sendschreiben der neu berufenen Apostel an wichtige Führer der Christenheit wie den Papst, den König von Österreich, den König von Frankreich usw. Sowohl der englische Originaltext als auch Übersetzungen wurden wiederholt gedruckt; die Editionsgeschichte ist jedoch nicht ganz einfach.2

Eine der einflussreichsten und zugleich umstrittensten Ausgaben dieses Testimoniums wurde 1932 von der NAK, d.h. genauer vom „Apostelkollegium der Neuapostolischen Gemeinden“ herausgegeben. Diese Ausgabe wird von Kritikern als Fälschung bezeichnet, da wesentliche Passagen gestrichen wurden – mitunter sind auch sinnverändernde Ergänzungen eingefügt.3 Im Vorwort wurde zwar eingeräumt, dass es sich (lediglich) um einen „Auszug aus dem ‚Zeugnis der Apostel‘“ handelt und man den Mitgliedern der NAK „die wertvollsten Teile des Testimoniums zugänglich machen wolle“, der Eindruck einer vorsätzlichen Manipulation drängt sich jedoch auf, zumal immer wieder an theologisch sensiblen Stellen eingegriffen wurde. Der manipulierte Text vermittelt den Eindruck, die NAK sei die rechtmäßige Erbin der Katholisch-apostolischen Gemeinden.

Ende vergangenen Jahres hat die Hauszeitschrift der NAK, „Unsere Familie“, das heikle Thema in einem erstaunlich selbstkritischen Beitrag aufgegriffen.4 Vergleichsweise unumwunden räumen die Autoren Walter Drave und Manfred Henke ein, dass in einer Weise in den Text eingegriffen wurde, die „die Lehrunterschiede zwischen beiden Kirchen verwischt“5.

In der NAK habe sich „ein enger Kirchenbegriff“ herausgebildet, der den ursprünglich vorhandenen, weiter gefassten Kirchenbegriff der katholisch-apostolischen Väter habe zurücktreten lassen. Kirche im Vollsinn erschien im neuapostolischen Verständnis ohne Apostel unmöglich – was Drave/Henke wie folgt auf den Punkt bringen: „1932 fanden bei der Herausgabe von ‚Das Zeugnis der Apostel‘ erhebliche Eingriffe in den Text der Vorlage statt. Sie verfolgten den Zweck, einzig die Neuapostolische Kirche als ‚Kirche Christi‘ zu definieren.“6

Deshalb sind alle Passagen ausgelassen worden, „in denen die Kirchengeschichte der nachapostolischen Zeit beleuchtet wird (Abschnitte 74-97) oder in denen kirchliche Gemeinschaften außerhalb einer Kirche unter Aposteln kritisiert werden (z.B. in Abschnitten 11, 52, 56). Dann werden Sätze oder Satzteile ausgelassen, in denen vom Fortbestand der Kirche in der apostellosen Zeit die Rede ist, etwa der Hinweis, dass Gott ‚nie Seine Kirche verlassen noch versäumt‘ habe (Abschnitt 6) oder die Aussage: ‚Er [Gott] konnte dafür sorgen, und Er hat dafür gesorgt, daß Seine Kirche nie aufhörte‘ (Abschnitt 63)“7.

Die Tatsache, dass die neuapostolischen Herausgeber in jene Textstellen, die im Original lediglich von Taufe reden, die Formel „Wasser- und Geistestaufe“ einfügen, versuchen die Autoren ebenfalls mit dem engeren Kirchenverständnis der NAK zu erklären. „1931 wurde in einem von Friedrich Linde verfassten Beitrag für die Zeitschrift ‚Wächterstimme‘ definiert, dass die Wiedergeburt aus Wasser und Geist durch den Empfang von Taufe und Versiegelung erfolge.“ Die Eingriffe in den Text, so Drave/Henke, seien „vor diesem Hintergrund erklärlich“.8 Nun, das kann man auch kritischer sehen. Denn mit dieser Veränderung trugen die NAK-Herausgeber ihr Heils- und Erlösungsverständnis in den Text hinein und verengen den weiten, ökumenischen Horizont der katholisch-apostolischen Autoren.

Drave/Henke erwähnen zwei konkrete Beispiele. So wird im ersten Fall „die Kirche Christi nicht mehr als Gesamtheit der Getauften gesehen, sondern nur noch als Gesamtheit derer, die die ‚Wasser- und Geistestaufe‘, also Taufe und Versiegelung, empfangen haben“. Mit anderen Worten: Nur Neuapostolische sind wahre Christen.

Ebenfalls geändert wurde die Stelle, wo es geheißen hatte, dass „die Getauften ... das Leben aus Gott empfangen“ hätten und „Kinder Gottes“ seien. In der NAK-Fassung von 1932 ist zu lesen: „dass ,die Gesalbten‘ – also die mit dem Heiligen Geist Versiegelten – dieses Leben empfangen und zu Kindern Gottes geworden seien“.9

Auch bei den Aussagen über den Amtsauftrag der Apostel wurden wichtige Details geändert. So schreiben Drave/Henke: „Mit Rücksicht auf das Verständnis vom Stammapostelamt wurden Apostel nicht als ‚oberste Regierer der Kirche‘, sondern als ‚Regierer der Kirche‘ unter Christus bezeichnet.“ Mit anderen Worten: Weil der Stammapostel inzwischen zum obersten Regent erhoben war, konnten die Apostel nicht mehr „oberste Regierer“ sein.

Schließlich seien die Aussagen über das „vierfache Amt“ vollständig ausgelassen und folgender Satz 1932 nachträglich eingefügt worden: „Alle weiteren Ämter der Kirche Christi sollten den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend von diesen Aposteln berufen und eingesetzt werden, wie dies auch aus dem Verhalten der Apostel der Urkirche hervorgeht.“10 Dazu Drave/Henke: „So wird der Eindruck erweckt, dass im Testimonium eine den Zeitverhältnissen angepasste Fortentwicklung der Ämterordnung, wie in der Neuapostolischen Kirche praktiziert, befürwortet wurde.“

Zum Abschluss des Artikels in „Unsere Familie“ versuchen die Autoren, die Hintergründe der beträchtlichen Veränderungen zu erklären. Sie zitieren aus einem Briefwechsel zwischen Stammapostel J. G. Bischoff und Apostel Schlaphoff. Darin gibt Bischoff dem Apostel, der ebenfalls an eine Herausgabe katholisch-apostolischer Texte denkt, den Rat, er solle die Texte gegebenenfalls so verändern, dass „in dem Glaubensleben der Brüder und Geschwister keine Verwirrung entsteht“. Damit werde deutlich, so Drave/Henke, „dass der Stammapostel in seelsorgerlicher Absicht“ gehandelt hat. „Er erwartet Verwirrung, wenn den Mitgliedern der Kirche zugemutet wird, selbstständig aktuell gültige neuapostolische Lehre von früherer Apostellehre zu unterscheiden.“11

Es bedürfe jedoch „aus heutiger Sicht“ keiner Diskussion, „dass der Text des Großen Testimoniums durch die Eingriffe, die 1932 vorgenommen wurden, verändert wurde“. Adressaten der Schrift seien neuapostolische Christen gewesen. „Man kann mit Recht argumentieren, dass sie hinsichtlich des Inhalts des Testimoniums getäuscht wurden“, halten Drave/Henke fest. Sie bitten jedoch darum, „zwischen der Verfälschung eines Textes und einer Fälschung“ zu unterscheiden. Zweck einer Fälschung sei „aus juristischer Sicht das Erlangen eines Vorteils durch Täuschung anderer, denen dadurch Schaden zugefügt wird“.

Man müsse sich nun fragen, ob den neuapostolischen Christen durch die Veränderungen „ein Nachteil zugefügt werden sollte“. – „Wenn sie einen unzutreffenden Eindruck vom Inhalt des Testimoniums erhielten“, so könne man das aus heutiger Sicht „für einen Schaden halten“. Damit werde man aber „der Absicht des Stammapostels nicht gerecht“, der den Käufern der Schrift „etwas Wertvolles“ geben wollte, „nämlich ‚das rein Geistige‘, das Stammapostel Bischoff bei der Lektüre des Testimoniums entdeckt hatte“. Der Stammapostel habe mit dem (veränderten) Nachdruck des Testimoniums „vertiefte theologische Einsichten“ weitergeben wollen.

Man kann das auch kritischer sehen: Der Stammapostel und die Leitung der NAK haben damals das geistige Erbe der Katholisch-apostolischen Gemeinden für sich vereinnahmt, obwohl man sich weit von diesem Erbe entfernt hatte. Denn die Katholisch-Apostolischen waren von einem Geist der Ökumene geprägt, die NAK hatte jedoch längst den Weg zu einer exklusiven Endzeitgemeinde angetreten. Die Darstellung von Drave/Henke versucht, ein abgewogenes Urteil zu finden. Denn die NAK-Ausgabe des Testimoniums von 1932 war vieles zugleich: eine Fälschung, eine manipulierte Kürzung, die unlautere Aneignung eines Erbes, ein Dokument der Entmündigung von NAK-Mitgliedern in einer Zeit, in der in Deutschland die Entmündigung von Millionen vorbereitet wurde usw. Kritiker der NAK haben dieser Kirche immer wieder vorgeworfen, dass sie sich den Abgründen ihrer Geschichte nicht ausreichend stellen würde. Die vorliegende Ausarbeitung von Drave/Henke ist ein mutiger Schritt zur Aufarbeitung der Geschichte der NAK. Andere Gemeinschaften könnten sich daran ein Beispiel nehmen.


Andreas Fincke/Michael Koch


1 Vgl. z.B. Helmut Obst, Neuapostolische Kirche, in: Apostel und Propheten der Neuzeit. Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2000, 55-142.

2 Vgl. Neuapostolische Kirche International (Hg.), Textausgaben des großen Testimoniums. Ein Forschungsbericht. Zu finden unter www.nak.org

3 Vgl. H.-D. Reimer, Dokumentenfälschung?, in: MD 9/1990, 261f. Die Eingriffe lassen sich leicht nachvollziehen in einer bearbeiteten Ausgabe von Peter Sgotzai, die unter www.apostolic.de zu finden ist. Hier sind die Veränderungen farblich hervorgehoben.

4 Vgl. Walter Drave und Manfred Henke, Umgang mit dem Großen Testimonium in der Neuapostolischen Kirche, in: Unsere Familie, 66. Jg., 2006, Nr. 24, 34-37.

5 A.a.O., 34.

6 A.a.O., 35.

7 Ebenda.

8 Ebenda.

9 A.a.O., 36.

10 A.a.O., 36.

11 A.a.O., 37.