Jeannine Kunert

"Extinction Rebellion" (XR) als Weltanschauung

Ein Interview mit Nicole Hartmann, XR Berlin

Im Diskurs der letzten Jahre war zu beobachten, dass sich die Kritik an der Forschung zum globalen Klimawandel – den heute nur noch eine ausgewiesene Minderheit der „Klimaleugner“ gänzlich infrage stellt1 – hin zur Kritik am Klimaaktivismus verschob. Die im Jahr 2018 in Großbritannien gegründete Klimabewegung „Extinction Rebellion – Rebellion gegen das Aussterben“ (XR) ist seit dem letzten Jahr auch in Deutschland weithin bekannt und vieldiskutiert.2 Seither steht XR neben „Fridays for Future“ im Mittelpunkt der Kritik am „Klimaaktivismus“. Dabei reicht das Meinungsspektrum zu XR von engagierter Unterstützung bis hin zu rigider Ablehnung.3 Von den Gegnern wird XR nicht selten Ersatzreligiosität und Sektierertum4, Dramatisierung5, Moralismus6, Autoritarismus7 und „Ökofaschismus“8 sowie Rassismus9 vorgeworfen. XR schüre bewusst Ängste mit dem Erzeugen apokalyptischer Szenarien, die bei Nichteinhaltung der Klimaziele drohen.10 Angst und Zeitdruck seien jedoch selten gute Berater, um rationale und demokratisch legitimierte Entscheidungen zu treffen. Die Ökologiebewegung versteht sich dagegen als basisdemokratisch, selbstorganisierend und hierarchielos.11 Sie agiert dezentral und ist formal weder als Verein noch als Partei organisiert. Ihr Vorgehen begründet sie mit der Dringlichkeit der Lage, dem „ökologischen Notstand“ und der „Klimakrise“, und stützt sich argumentativ auf wissenschaftlich überprüfbare Daten und berechnete Prognosen.12

Das ausgewiesene und ambitionierte Ziel der Bewegung ist in der Tat, die Treibhausgas-Emissionen bis 2025 auf Netto-Null13 zu senken, damit die weltweite Erhöhung der Temperaturen abgemildert werden kann. Zudem sollen das fortschreitende Artensterben und der Verlust von natürlichem Lebensraum gestoppt werden. Es gibt drei Forderungen und zehn Prinzipien der Bewegung.14 Alle, die sich ihnen verpflichten, können im Namen von XR Aktionen planen und durchführen. Die Forderungen lauten: 1. „Sagt die Wahrheit“ über den Klimawandel und das Artensterben, 2. „Handelt jetzt“, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, 3. „Politik neu leben“, indem die Regierung eine „Bürger*innenversammlung“15 einberuft und sich verpflichtet, deren Beschlüsse umzusetzen. Als Mittel zur Durchsetzung der Ziele nutzt XR eigenen Angaben zufolge gewaltfreien zivilen Ungehorsam, um medien- und öffentlichkeitswirksam den Druck auf die politischen Entscheidungsträger zu erhöhen und die Politik zu klimapolitischem Handeln zu zwingen. Der Slogan „Simply because it’s the right thing to do“ auf einem Werbemittel der Bewegung weist exemplarisch auf die moralisierende Komponente der Bewegung hin.

Die Religionswissenschaftlerin Nicole Hartmann engagiert sich in der XR-Ortsgruppe Berlin. Im folgenden Interview geht es um ihre persönlichen Erfahrungen mit der Bewegung, Moral und schließlich die weltanschauliche Dimension von XR.16

Jeannine Kunert: Warum engagierst du dich für XR?

Nicole Hartmann: XR ist eine Bewegung, die mit gewaltfreiem zivilem Ungehorsam sehr viele Menschen auf die Drastik der Klimakrise aufmerksam machen möchte. XR ist eine Rebellion gegen das Aussterben. Auf Deutsch sagen wir auch Aufstand gegen das Aussterben, um dieses rebellische Moment etwas abzuschwächen. Gegen das Aussterben heißt eben nicht nur gegen das aktuelle Aussterben von einer großen Zahl der Spezies weltweit, sondern auch gegen das mit dem Zusammenbruch der Ökosysteme einhergehende Aussterben der Menschheit. Täglich sterben ca. 200 Arten aus, in der Pflanzen- wie in der Tierwelt. Ja, das ist eine Dramatik, die die meisten Menschen überhaupt noch nicht verstanden haben. Die Rebellion gegen das Aussterben ist für viele Menschen, mich inbegriffen, der Versuch, das Wissen, das wir darüber durch die Wissenschaft gewonnen haben, in praktische Konsequenzen umzusetzen. Es sollen politische Entscheidungen getroffen werden, die im Rahmen des jetzt noch Möglichen liegen. Das Problem ist das schrumpfende Zeitfenster dafür, dass wir als Menschheit überhaupt noch etwas tun können, diese Entwicklung aufzuhalten.

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Anmerkungen
1 Umfrage zum Klimawandel. 86 Prozent sagen, der Mensch sei schuld, in: Tagesschau, 17.5.2019, https://bit.ly/3c7sCkS (Abruf der Internetseiten: 19.5.2020).
2 Z. B. deutlich im Pro & Kontra „Als Christ bei Extinction Rebellion mitmachen“, in: ideaSpektrum 44 (2019), 15. Achijah Zorn bezichtigt XR, eine „apokalyptische Bewegung“ zu sein, die „apokalyptischen Terror“ betreibe. Thomas Zeitler hingegen sieht in den Aktivitäten von XR „ein legitimes Mittel der demokratischen Kultur“.
3 Jutta Ditfurth hat sich als eine hartnäckige Kritikerin von XR erwiesen. Vgl. z. B. Katja Thorwarth: Jutta Ditfurth: „Extinction Rebellion ist eine Weltuntergangssekte“, in: FR, 16.10.19, https://bit.ly/3dgyIPZ; Jannik Waidner: Irrationalismus einer Endzeit-Sekte, in: FAZ, 11.10.2019, https://bit.ly/2zebISQ. Positivere Meldungen werden von XR in einem Pressespiegel gesammelt: https://bit.ly/2YzlI3I.
4 Z. B.: Ralf Frisch: Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie. Kleines theologisches Spiel mit dem Feuer, in: zeitzeichen, https://zeitzeichen.net/node/7759. Auf diesen Gastbeitrag antwortete Hermann Diebel-Fischer: Theologische Brandstiftung, https://zeitzeichen.net/node/7773. Ein abwägender Blick auf die Klimadebatte: Philipp Adolphs: Generation Klima, in: Stimmen der Zeit 1/2020, 17-26.
5 Z. B.: Wie Extinction Rebellion funktioniert, in: taz, 27.10.2019, https://bit.ly/2L2MlGl.
6 Z. B.: René Scheu: Wo Politik war, soll Moralismus werden, in: NZZ, 9.11.2019, 12. Scheu wirft den Vertretern von XR moralische Selbstüberhöhung und damit amoralisches Handeln vor.
7 Z. B.: Georg Isamar / Mathias Müller v. Blumencron: Lob und Tadel für „Fridays for Future“. Steinmeier warnt vor Schlechtreden der Demokratie, in: Tagesspiegel, 7.11.2019, https://bit.ly/3de52CU; Apokalypse lähmt. Steinmeier kritisiert Demokratie-Verständnis der Klimabewegung, in: Welt online, 8.11.2019, https://bit.ly/2L16vR7; Bernd Ulrich: Murmelnde Macht. Der Bundespräsident warnt Klima-Aktivisten davor, die Demokratie schlechtzureden. Er warnt die Falschen, in: Zeit Online, 13.11.2019, https://bit.ly/2SEDezY.
8 Z. B.: Herbert Meyer: Extinction Rebellion – Inneneinsichten einer ökopopulistischen Sekte, www.heise.de/-4701351. Dazu die Gegendarstellung: Tino Pfaff: Extinction Rebellion. Einblicke und Klarstellungen, 23.4.2020, https://bit.ly/3b9awNU.
9 Z. B.: Repräsentation bei Extinction Rebellion. Ausschluss garantiert, in: taz, 9.11.19, https://taz.de/!5628587.
10 Z. B.: Pascal Kober: Handeln statt Protest. Die alarmistische Klimadebatte schürt zu viel Angst und nährt den Populismus, in: Herder Korrespondenz 1/2020, 6. XR negiert Kober zufolge die „prinzipielle Offenheit von Zukunft“ und sei der „christlichen Hoffnung“ verlustig gegangen.
11 Extinction Rebellion Hannover (Hg.): Hope Dies – Action Begins, Bielefeld 2019; Annemarie Botzki u. a. (Hg.): Wann wenn nicht wir*. Ein Extinction Rebellion Handbuch, Frankfurt a. M. 2019.
12 https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/fakten und https://xrscience.earth/de/warum-wir-rebellieren.html.
13 Netto-Null-Emissionen und CO2-Neutralität bedeuten, dass die Treibhausgas-Emissionen durch Vermeidung, natürliche Bindung und künstlichen Entzug rechnerisch auf Null gesenkt werden.
14 https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/unsere-forderungen und https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/prinzipien-und-werte.
15 Bürger*innenversammlung ist ein Begriff der Bewegung.
16 Die Interviewpartnerinnen kennen sich seit mehreren Jahren persönlich. Nicole Hartmann machte auf ihr Engagement bei XR während der Rebellion Week im Oktober 2019 aufmerksam. Das Gespräch wurde geführt, bevor die sogenannte Corona-Krise begann.