Claudia Knepper

Experiment Gemeinschaft

Die „Gemeinschaftsbewegung“ der Ökodörfer und anderer alternativer Lebensentwürfe

In der Altmark, mitten auf dem flachen Land zwischen Salzwedel, Stendal und Wolfsburg wächst seit 15 Jahren ein neues Dorf heran. Programmatisch haben sich die Gründer den Namen „Ökodorf Sieben Linden“ gegeben. Es ist ein in Deutschland wohl einmaliger Vorgang, dass eine neue Siedlung außerhalb eines bestehenden Dorfes entstehen darf, genehmigt von einer damals rot-grünen Regierung in Sachsen-Anhalt. Politisch gehört Sieben Linden zur Gemeinde Poppau, bekannt als „Mitte der Welt“ in Sten Nadolnys Roman „Ein Gott der Frechheit“. Als die Ökodörfler in den 1990er Jahren nach einer Gemeinde suchten, die sich auf das Projekt einer neuen Siedlung einlassen würde, fanden sie in Poppau einen Bürgermeister, der in dem geplanten Ökodorf eine Chance für die strukturschwache Region sah. In Zukunft sollen einmal 300 Bewohner auf einer aus ökologischen Gründen absichtlich knapp bemessenen Fläche zwischen Kiefernwald und Feldern in Häusern wohnen, die nach ökologischen Kriterien gebaut wurden. Im Moment leben rund 120 Männer, Frauen und Kinder in acht neu gebauten Häusern und in zahlreichen Bauwagen, die als Zwischenlösung zum Wohnen genehmigt wurden. Ein saniertes Hofgebäude dient als Gemeinschaftshaus. Die meisten Siedler sind zwischen 35 und 45 Jahren alt, haben einen Hochschulabschluss und oft mehrere Jahre Stadtleben sowie zum Teil bereits Erfahrung mit Gemeinschaftsprojekten hinter sich.

Das Interesse am Dorf ist groß und wächst weiter. Nicht nur zahlreiche Besucher kommen nach Sieben Linden, um dort zu erfahren, wie man selbst ähnliche ökologisch-soziale Gemeinschaftsprojekte aufziehen kann, auch Film und Presse, wie zuletzt National Geographic1, berichten über die Gemeinschaft, und Soziologen nehmen das Projekt mit wissenschaftlichem Interesse unter ihre Lupe. Das Dorf reagiert auf die zunehmende Aufmerksamkeit mit einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit. Die vielen Besucher erfüllen die Bewohner aber nicht nur mit Stolz, sondern sie bringen auch Unruhe in die Gemeinschaft, die noch im Aufbau begriffen ist. Jüngst hat der Dokumentarfilmer und Autor Michael Würfel, der selbst seit 2007 in Sieben Linden lebt, das lesenswerte Buch „Dorf ohne Kirche“ geschrieben, in dem er das Projekt aus der bewusst subjektiven Sicht eines Bewohners ausführlich vorstellt.2 Mit Bedauern stellt er im Gespräch zu spät fest, dass der Buchtitel in die Irre führen kann, wenn man ihn programmatisch versteht.3 Zum Ausdruck bringen wollte er lediglich den nicht traditionellen Charakter der neuen Siedlung, in der kein Kirchturm den architektonischen Mittelpunkt bildet. Im Dorf hat man nichts gegen Kirche, aber die Bewohner kommen wohl weitgehend ohne sie aus und praktizieren, wenn sie sich nicht als skeptisch in religiösen Dingen bezeichnen, eher freie spirituelle Formen, die durch esoterische, fernöstliche oder indigene Traditionen inspiriert sind. Allerdings, so betonen die Gesprächspartner aus Sieben Linden, gibt es im Dorf Christen, die gemeinsam Taizé-Andachten feiern, und der dorfeigene Chor hat auch schon mehr als einmal in der Poppauer Kirche gesungen. Das Dorf gibt sich betont tolerant und offen für viele Formen der Spiritualität.

Sieben Linden ist ein typisches Beispiel für eine Bewegung, die sich selbst „Gemeinschaftsbewegung“ nennt.4 Eine andere Selbstbezeichnung, die auch von der Soziologie übernommen wurde, ist „intentionale Gemeinschaften“. Im Folgenden soll die Bewegung der intentionalen Gemeinschaften vorgestellt werden. Zunächst wird versucht, die schwer greifbare, inhomogene Bewegung zu charakterisieren. Dabei wird in diesem Beitrag innerhalb der Bewegung die „sozial-ökologische Gemeinschaftsbewegung“ unterschieden, die sich als „die Gemeinschaftsbewegung“ versteht. Ein kurzer Rückblick wird an ähnliche Utopien und Gemeinschaftsprojekte in der Geschichte erinnern. Abschließend werden Fragen formuliert, die sich bei der Auseinandersetzung mit der Bewegung stellen.

Die Bewegung „intentionaler Gemeinschaften“

Was vereint höchst unterschiedliche Gemeinschaften von christlichen Kommunitäten über sozial-ökologische, esoterische und links-politische bis zu radikal religiösen Gemeinschaften zu einer Bewegung? Zum einen sind es vergleichbare Motive, die Menschen dazu bringen, sich mit Gleichgesinnten für eine gemeinsame Lebensgestaltung zusammenzuschließen. Dies führt dazu, dass sich auch die soziologische Gemeinschaftsforschung mit diesen Gemeinschaften als einer Bewegung beschäftigt. Zum anderen gibt es Vernetzungen auch zwischen Gemeinschaften unterschiedlicher Prägung. Publikationen bringen das Selbstverständnis zum Ausdruck, Teil einer Bewegung zu sein. Im eurotopia-Verzeichnis 2010 stellen sich so unterschiedliche Gemeinschaften vor wie z. B. Agnus Dei (katholisch), die Kommune Niederkaufungen (links-politisch), BuddhaHill Commune (östlich-spirituell), Bremer Beginenhof Modell e.V. (feministisch-ökumenisch), Camphill Dorfgemeinschaft Sellen e.V. (anthroposophisch), Hofgemeinschaft Guggenhausen e.V. (christlich-ökumenisch), Lebensgut Pommritz (ökologisch-sozial), Stamm der Likatier (esoterisch-ökologisch), Yoga Vidya Haus (neuhinduistisch), Gemeinschaft der Zwölf Stämme (urchristlich).5 Das Selbstverständnis, Teil einer Gemeinschaftsbewegung zu sein, wird vor allem durch ein Milieu unter den Gemeinschaften geprägt. Dies sind die Gemeinschaften, deren Schwerpunkte auf Ökologie und dem Gemeinschaftsleben an sich liegen. Spirituell-esoterische Themen spielen in ihren Publikationen eine größere Rolle als explizit christliche oder auch politische Anliegen. Nach diesem Selbstverständnis betrachtet die Gemeinschaftsbewegung alle Projekte als zugehörig, in denen Menschen in Gemeinschaften miteinander leben, die über herkömmliche Familien hinausgehen und die durch eine gemeinsame soziale, politische oder religiöse Vision verbunden sind. Eine Abgrenzung erfolgt nur gegenüber rassistischen, rechtsradikalen und völkisch-arischen Gemeinschaften. Diese Abgrenzung vollzieht erstaunlicherweise auch die soziologische Gemeinschaftsforschung,6 obwohl streng genommen auch rechte Gemeinschaften Motive und Charakteristika aufweisen, die mit denen anderer Gemeinschaften der Bewegung vergleichbar sind, so sehr sie sich alle voneinander in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, ihrer Organisation und Lebensgestaltung unterscheiden.7

Die Kriterien für die Gemeinschaftsbewegung in ihrer Selbstwahrnehmung entsprechen den Kriterien für die sogenannten „intentionalen Gemeinschaften“. „Intentional communities“ nannten sich zuerst 1948 Gemeinschaften auf einem Kongress in den USA.8 Inzwischen ist die Bezeichnung zu einem Sammelbegriff für Gemeinschaften im eben genannten Sinne geworden.9 Der Soziologe Matthias Grundmann definiert „intentionale Gemeinschaften“ wie folgt: Sie „bilden sich bewusst aus einer oppositionellen Haltung gegenüber der Gesellschaft, um neue Wege des Zusammenlebens zwischen Menschen und mit der Umwelt experimentell zu erproben. Ihre verbindenden Merkmale, die eine Gruppenidentität ausmachen, sind dabei gemeinsames Zusammenleben, eine geteilte Lebenswelt und ein damit einhergehender Lebensstil ... Während ‚natürliche Gemeinschaften’ dazu tendieren, sich gesellschaftlichen Handlungsbezügen unterzuordnen, streben Intentionale Gemeinschaften eine Einmischung in und Gestaltung von Gesellschaft an.“10 Soziologen sprechen auch von „Wahl-Gemeinschaften“.

Obwohl es Ähnlichkeiten zwischen den so unterschiedlichen Gemeinschaften gibt und man deshalb mit Recht von einer Bewegung intentionaler Gemeinschaften sprechen kann, bleibt es doch schwierig, von „der Gemeinschaftsbewegung“ zu reden. „Die Gemeinschaftsbewegung“, die sich als solche über Publikationen, das Internet und Netzwerke präsentiert, ist hauptsächlich ökologisch, sozial und darüber hinaus links-politisch und spirituell-esoterisch geprägt. Je nach Ausrichtung und Vernetzung könnten weitere „Gemeinschaftsbewegungen“ unterschieden werden. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe bilden weltweit christliche Gemeinschaften. Es gibt Berührungspunkte zwischen Gemeinschaften und Netzwerken christlicher Prägung einerseits und sozial-ökologischer Prägung andererseits, aber sowohl in der Selbstwahrnehmung als auch in der Außenwahrnehmung sind christliche Gemeinschaften in der „sozial-ökologischen Gemeinschaftsbewegung“ nur schwach bzw. „leise“ vertreten. Der hier vorliegende Beitrag wird sich stärker auf den „sozial-ökologischen“ Flügel der Gemeinschaftsbewegung konzentrieren, der über Netzwerke und Medien gegenwärtig die Bewegung der intentionalen Gemeinschaften dominiert bzw. für die eigenen Anliegen in Anspruch nimmt.

Themen und inhaltliche Ausrichtung

Zu dieser engagierten Meinungsführerschaft gehören die gut untereinander vernetzten „Ökodörfer“. Im Blick auf diese ist manchmal von einer „Ökodorfbewegung“ die Rede. Im eurotopia-Verzeichnis definiert Martin Stengel Ökodörfer so: „In einem Ökodorf leben Menschen bewusst in Gemeinschaft oder mehreren Gemeinschaften zusammen ... Sie streben dabei die Erschaffung einer gemeinsamen Lebensstruktur und -kultur an, welche in ganzheitlicher Weise einen großen Teil der existentiellen Bedürfnisse des menschlichen Lebens vor Ort erfüllt. Nach der Definition des Globalen Ökodorf Netzwerkes (GEN) gehören dazu die Aspekte: Soziales, Ökologie, Ökonomie, Weltanschauung.“11

Auch über ökologisch ausgerichtete Gemeinschaften hinaus sind Ökologie und die Gestaltung des Zusammenlebens in Gemeinschaft zwei Schwerpunktthemen, die in den meisten Gemeinschaften eine Rolle spielen, unabhängig von ihrer sonstigen inhaltlichen Orientierung. Die Zuordnung der Gemeinschaften nach ihren Schwerpunkten orientiert sich in Publikationen aus der Bewegung und der Wissenschaft in der Regel am Selbstverständnis der Gemeinschaften. Dies kann zu Unschärfen führen, weil die Begriffe nicht klar definiert sind und unterschiedlich verstanden werden können. Die folgende Übersicht von Ralf Gehring gibt einen Eindruck von der Ausrichtung intentionaler Gemeinschaften und ihrer jeweiligen Stärke weltweit.12 Sein umfangreiches eigenverantwortlich erstelltes Verzeichnis, „Encyclopedia of Large Intentional Communities“ erfasste zuletzt im November 2009 weltweit 281 Netzwerke und 3802 „intentionale Gemeinschaften“ mit einer Gesamtzahl von 407 250 Mitgliedern.13 Er zählte nur große Gemeinschaften mit mehr als 100 Mitgliedern. (Klöster mit einem zölibatären Leben wurden nicht mitgezählt.) Bemerkenswert ist, dass weltweit zwei Drittel der gezählten Gemeinschaften und Gemeinschaftsmitglieder christlicher Prägung sind. Erstaunlich wenige große Gemeinschaften sind nach dieser Zählung „esoterisch“ geprägt, nämlich weniger als 1 Prozent und gar nur 0,6 Prozent der Gemeinschaftsmitglieder. Darunter zählt Gehring unter anderem Findhorn, Damanhur und Tamera. Auffällig ist, dass diese Gemeinschaften durch ihre Vernetzung in der Ökodorfbewegung stärker in der Gemeinschaftsbewegung präsent sind, als dies ihrer tatsächlichen Größe entspricht. Die sozial-ökologischen Gemeinschaften sind zwar mit den meisten Netzwerken (ein reichliches Drittel aller gezählten Gemeinschaftsnetzwerke) vertreten, sie machen aber nur 6 Prozent der großen Gemeinschaften und Mitglieder aus. Wahrscheinlich ist es die gute Vernetzung, die zu einer stärkeren Wahrnehmung von außen und einem größeren Einfluss innerhalb der Bewegung führt. Christliche Gemeinschaftsnetzwerke und Gemeinschaften haben offenbar weniger Interesse, sich innerhalb der Bewegung der intentionalen Gemeinschaften zu Wort zu melden und sich aktiv als ein Teil einer solchen Bewegung zu verstehen. Politische Gemeinschaften sind mit nur wenigen Netzwerken vertreten. Die Stärke der politischen Gemeinschaften ergibt sich hauptsächlich durch die Kibbuz-Bewegung in Israel mit ca. 45 000 Bewohnern in ca. 130 Gemeinschaften.

• Religiöse Gemeinschaften: jüdisch: 11 Netzwerke, 38 Gemeinschaften mit 46 080 Mitgliedern; christlich: 97 Netzwerke, 2491 Gemeinschaften mit 230 530 Mitgliedern; muslimisch: 2 Netzwerke, 84 Gemeinschaften mit 4000 Mitgliedern; jainistisch: 1 Netzwerk, 1 Gemeinschaft mit 100 Mitgliedern; hinduistisch: 19 Netzwerke, 376 Gemeinschaften mit 18 615 Mitgliedern; buddhistisch: 5 Netzwerke, 15 Gemeinschaften mit 3645 Mitgliedern; sikhistisch: 3 Netzwerke, 61 Gemeinschaften mit 10 825 Mitgliedern; esoterisch: 12 Netzwerke, 29 Gemeinschaften mit 2485 Mitgliedern; interreligiös: 1 Netzwerk, 1 Gemeinschaft mit 260 Mitgliedern.

• Säkulare Gemeinschaften:politisch: 11 Netzwerke, 234 Gemeinschaften mit 54 945 Mitgliedern; sozial engagiert: 17 Netzwerke, 249 Gemeinschaften mit 9615 Mitgliedern; sozial-ökologisch: 102 Netzwerke, 224 Gemeinschaften mit 26 150 Mitgliedern.

Über ihre Orientierung an einem sozialen, politischen oder religiösen Schwerpunktthema hinaus können natürlich weitere Themen für die Ausrichtung einer Gemeinschaft charakteristisch sein. Einen Überblick über Orientierung und Themen „intentionaler Gemeinschaften“ in Europa gibt die aktuelle Ausgabe des eurotopia-Verzeichnisses von 2010 (Redaktionssitz: Sieben Linden).14 Da das Verzeichnis im „sozial-ökologischen“ Flügel der Gemeinschaftsbewegung erstellt wird, kann sich hier schon eine gewisse Verlagerung der Themen ergeben, wenn sich auch unter den 390 erfassten Gemeinschaften sehr verschiedene, sowohl religiöse wie säkulare Gemeinschaften befinden. Die Gemeinschaften charakterisierten sich selbst in folgender Weise nach einer Auswertung von Martin Stengel:15

• Ökologie: 73 Prozent der Gemeinschaften bezeichnen sich als ökologisch, wobei sich 57 Prozent mit alternativen Energien, neuen Technologien oder ökologischem Bauen beschäftigen; 65 Prozent betreiben biologische Landwirtschaft und/oder biologischen Gartenbau und/oder „Permakultur“, 30 Prozent ernähren sich vegetarisch, 10 Prozent vegan.

• Politik: 21 Prozent haben ein linkes Politikverständnis, 10 Prozent sind anarchistisch und feministisch.16

• Religion: 53 Prozent sind eine „spirituell“ ausgerichtete Gemeinschaft. Diese Zahl setzt sich aus 38 Prozent christlichen, 11 Prozent buddhistischen und 3 Prozent taoistischen Gemeinschaften zusammen. Nur 4 Prozent haben einen „Guru“ oder einen Leiter bzw. eine Leiterin. 41 Prozent der Gemeinschaften widmen sich dem „inneren Wachstum“, davon 26 Prozent, ohne „spirituell“ oder „esoterisch“ zu sein.

• Friedensarbeit und Entwicklungshilfe: 28 Prozent engagieren sich in Friedensarbeit und/oder Entwicklungshilfe.

• Bildung: 48 Prozent wirken direkt mit Bildungsarbeit, Pädagogik, einem Tagungshaus oder einer freien Schule in die Öffentlichkeit.

Freie Liebe: In der Auswertung des eurotopia-Verzeichnisses von 2007 wurde zusätzlich die Ausrichtung am Konzept der „freien Liebe“ ausgewertet, die bei 6 Prozent der Gemeinschaften zur Ausrichtung gehörte.17

Die Angabe zum „inneren Wachstum“ in der vorliegenden Auswertung ist verwirrend. Da Stengel zuvor explizit religiöse Gemeinschaften lediglich als „spirituelle“ Gemeinschaften bezeichnet, meint er wahrscheinlich, dass immerhin 26 Prozent der Gemeinschaften um „inneres Wachstum“ bemüht sind, obwohl weder eine religiöse noch eine esoterische Ausrichtung zu ihrem Konzept gehört. Das Ökodorf Sieben Linden kann dafür selbst als Beispiel gelten. Innerhalb der sozial-ökologischen Gemeinschaftsbewegung wird beobachtet, dass in den letzten Jahren politische Gemeinschaften spiritueller und spirituelle Gemeinschaften politischer geworden seien. Aus der Sicht politischer Gemeinschaften, die im Netzwerk Kommuja organisiert sind, scheint das Ökodorf Sieben Linden eher zu den spirituellen Gemeinschaften zu gehören. Sich selbst verstehen die Sieben Lindener durchaus als politisch.18 Hinter den unscharfen, nicht weiter definierten Begriffen des „inneren Wachstums“ und der „Spiritualität“ stehen sehr freie, kreativ gestaltete spirituelle Formen, die in der sozial-ökologischen Gemeinschaftsbewegung verbreitet sind. Esoterisches Gedankengut fließt in diese Formen ein, aber oft nur in oberflächlicher Weise. Überhaupt scheint die sozial-ökologische Gemeinschaftsbewegung, die sich selbst als tolerant versteht, nur verdünnte Formen von Religiosität zu vertragen, weil alles andere nicht mehr ihrem „pluralistischen“ Anspruch gerecht werden kann.19 Übersehen wird dabei, dass die eigenen „spirituellen“ Inhalte keineswegs so offen formuliert und pluralistisch angelegt sind, dass sich, wie behauptet und gewünscht, alle Religionen und lokalen Traditionen in ihnen wiederfinden können. Beispielhaft zeigt sich das am „spirituellen“ Konzept eines Kurses von „Gaiaeducation“ zur Bildung von Ökodörfern aus dem Umfeld von Global Ecovillage Network (GEN, 1991 in Dänemark gegründet). Es geht dabei in Anlehnung an typische esoterische Vorstellungen um „Bewusstseinswachstum“ als „Evolution“, die Erde als „lebendige, atmende Einheit“ (daher leitet sich „Gaia“ in „Gaiaeducation“ ab), „das Göttliche in Allem“, die „unsichtbare, feinstoffliche Dimension des Lebens“, „unsichtbare Strukturen und Prinzipien“ „hinter der beobachtbaren, physischen Realität“, entsprechende „Neue Wissenschaften“ usw. Im Kurs wird jeder Student ermutigt, eine eigene spirituelle Praxis zu (er)finden.20 Aus der beabsichtigten „Vereinheitlichung“ verschiedener „spirituell-kultureller“ Traditionen ist an dieser Stelle nicht etwas allen Gemeinsames, sondern etwas Eigenes geworden, das nur von einer Minderheit vertreten wird. Die im Kurs gelehrte spirituelle „Weltsicht“ wird als besonders „nachhaltig“ verstanden. Damit erhält sie einen normierenden Charakter.

Unscharf und nicht näher definiert ist auch der Begriff der „Friedensarbeit“ als Thema der Gemeinschaften im eurotopia-Verzeichnis. Die Gemeinschaft Tamera in Portugal gehört mit ihrem sehr speziellen Verständnis von „Friedensarbeit“ zu den Protagonisten in diesem Bereich.

„Freie Liebe“ ist ein Konzept, nach dem eine freie Partnerwahl, Partnerwechsel und Liebesbeziehungen zu mehreren Partnern gleichzeitig innerhalb einer Gemeinschaft prinzipiell möglich sein sollen. Als Voraussetzungen dafür werden eine offene Kommunikation zwischen allen Beteiligten, Ehrlichkeit und Vertrauen angesehen. Das Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) setzt seinen Schwerpunkt auf „freie Liebe“ und die „Erforschung“ verschiedener Möglichkeiten der Partnerschaften und Beziehungen. Zum Konzept gehört, dass alle Formen der Partnerschaft in der Gemeinschaft akzeptiert werden, vom sexuell enthaltsamen Leben über monogame Partnerschaften und Familien bis zu Liebesbeziehungen mit mehreren Partnern.

Einige der genannten Themen, besonders aber Ökologie, Prozesse der Gemeinschaftsbildung und -gestaltung21, Spiritualität, Ökonomie und Politik, werden in gemeinschafts- und netzwerkeigenen Publikationen als zentrale Themen der Gemeinschaftsbewegung behandelt. Größere Gemeinschaften und einzelne Gemeinschaftsmitglieder bieten zu diesen Themen Seminare und Kurse an, was zum Erfahrungsaustausch und zur Vernetzung untereinander beiträgt.

Die „sozial-ökologische Gemeinschaftsbewegung“

Die Gemeinschaften, die gegenwärtig in besonderer Weise das Selbstverständnis intentionaler Gemeinschaften als Bewegung prägen, haben ihre Wurzeln in der Jugendbewegung der 68er, die eine neue Welle an Gemeinschaftsgründungen hervorbrachte. Es war die zweite Welle von Gründungen alternativer Lebensgemeinschaften nach der Lebensreformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Vereinzelt wird die Einschätzung geäußert, dass die sozial-ökologische Gemeinschaftsbewegung seit den 1990er Jahren zu einer neuen Blüte gelangt sei. Einen „Boom“ kann Martin Stengel, Redakteur des eurotopia-Verzeichnisses, gleichwohl nicht ausmachen.22 Die vor allem sozial-ökologisch, links-politisch und „spirituell-kreativ“ geprägte Gemeinschaftsbewegung hat sich im Laufe der letzten 40 Jahre verändert und präsentiert sich heute anders als Gemeinschaften ähnlichen Typs in den 1970er und 1980er Jahren. Entsprechende Projekte heute treten meist weniger ideologisch, weniger politisch und weniger abgrenzend gegenüber der immer noch kritisierten „Mainstreamgesellschaft“ auf, dafür sind sie pragmatischer, spiritueller, vernetzter, in ihren Entscheidungsstrukturen in der Regel demokratisch und bieten individuellen Bedürfnissen mehr Spielraum. Ungebrochen ist eine Sehnsucht nach Gemeinschaft als Hauptmotiv der zahlreichen, oft kurz-, manchmal langlebigen Gemeinschaftsgründungen und nach einem Leben in Harmonie zwischen Mensch und Natur. Für viele der Gemeinschaften der sozial-ökologischen Gemeinschaftsbewegung gilt, dass sie versuchen, Balance zu halten zwischen Individualismus und Gemeinschaft, privatem und öffentlichem Raum, Verzicht und Lebensqualität, hohen Ansprüchen und Pragmatismus. Sie versuchen, den Spagat zwischen Hightech und Naturnähe im ökologischen Bauen, Wirtschaften und gegenseitigen Vernetzen, zwischen hoher Bildung und Professionalität auf der einen Seite und zum Teil mühsamer Selbstversorgung und Improvisation in alltagspraktischen Dingen auf der anderen Seite. Ihrem Selbstverständnis nach rechnen sich Vertreter dieser Bewegung am ehesten zum sozialen Milieu der sogenannten „kulturell Kreativen“.

Gemeinschaften der sozial-ökologischen Gemeinschaftsbewegung vereinen das Moment der Kritik an und der Flucht vor gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen mit dem Moment der Suche nach einem anderen, besseren Leben, das sie zu verwirklichen versuchen. Sie verstehen sich oft nicht nur als Alternative oder Gegenmodell zu gängigen Lebens-, Arbeits-, Wirtschafts-, Erziehungs- oder auch Religionsformen, sondern sie treten mit dem Anspruch auf, mit ihrer Alternative Modell für die Veränderung der Gesamtgesellschaft sein zu können. Oft wollen sie nicht nur eine Insel oder Nische sein, auf der ein paar Zeitgenossen mit ihren Träumen von einem anderen Leben Zuflucht finden. Sie haben den Anspruch, „Keimzelle“, „Labore“ oder „Lehr- und Lernstätten“ für die Menschheit zu sein. Sie wollen Ideen und Praktiken für ein anderes Leben entwickeln, die sich in die Gesamtgesellschaft integrieren lassen. Oft geht es dabei in gegenwärtigen Texten aus der Bewegung um soziale und ökologische „Nachhaltigkeit“.

Das Verhältnis zur „Mainstreamgesellschaft“

Hintergrund für das mehr oder weniger missionarisch auftretende Engagement von Gemeinschaften aus dieser Bewegung bildet meist ein erhebliches, zum Teil alarmistisch vorgebrachtes Krisenbewusstsein. Es speist sich aus der Angst vor globalen Problemen, zum Beispiel vor Ressourcenknappheit, einer drohenden Klimaveränderung und Überbevölkerung, und aus einem allgemeinen Unbehagen am Leben in modernen Gesellschaften, an dem man Individualisierung, Konsum, Sinnleere und Entfremdung kritisiert. Erlösung erhoffen sich Mitglieder von sozial-ökologischen Gemeinschaften durch mehr Nähe zu Menschen, zur Natur und durch eigener Hände Arbeit in überschaubaren Gemeinschaften meist auf dem Land in möglichst weitgehender Selbstversorgung und im schonenden Umgang mit Ressourcen.

Das Verhältnis vieler Gemeinschaften der Bewegung zur Gesellschaft ist gespalten. Sie schwanken zwischen Abgrenzung vom „Mainstream“ und dessen Abwertung einerseits und der Suche nach Öffentlichkeit, Kontakten zur und Anerkennung durch die Gesellschaft andererseits. Beispiele für die öffentliche Anerkennung sind die Ernennung des Ökodorfs Sieben Linden zum offiziellen Projekt der Weltdekade der Vereinten Nationen 2010/2011 unter der Überschrift „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und die Auszeichnung des ZEGG durch den Landkreis mit einem zweiten Preis beim „Agenda 21“-Wettbewerb. Mitglieder der Gemeinschaftsbewegung möchten in die „Mainstreamgesellschaft“ hinein wirken, ihr aber nicht zu nahekommen. In Sieben Linden zum Beispiel spricht man offenbar recht unreflektiert von „drinnen“ und „draußen“.23 Kosha Anja Joubert, bis vor Kurzem Bewohnerin von Sieben Linden, jetzt in Findhorn ansässig, und Geschäftsführerin von GEN-Europe, schreibt, dass der größte Schwachpunkt der ökologischen Bewegung sei, „die Menschheit“ nicht zu mögen.24 Ein gewisser Elitarismus ist aus den meisten gemeinschaftseigenen Publikationen herauszuhören. Zwar scheint die Akzeptanz alternativer Gemeinschaften im gesellschaftlichen Umfeld zu wachsen, gleichzeitig ist das Interesse an den „gelebten Alternativen“ aber geringer, als sich das die Gemeinschaften wünschen. Für das Selbstverständnis mancher ökologischer Gemeinschaften ist es zudem offenbar irritierend, wenn in der Gesellschaft das ökologische Bewusstsein wächst. So schreibt die mit der Ökodorfbewegung sympathisierende amerikanische Politikwissenschaftlerin Karen Litfin: „Im Moment müssen die Ökodörfer sich allerdings ran halten, um mit dem rasant wachsenden ökologischen Gewahrsein der breiteren Gesellschaft und den dementsprechenden Entwicklungen ‚grüner’ Technologien, Schritt zu halten.“25 Ein Gefühl der Fremdheit zwischen alternativen Gemeinschaften und Mehrheitsgesellschaft dürfte auf beiden Seiten gleichermaßen vorhanden sein. Bei allen bestehenden Vorbehalten nehmen aber offenbar die gegenseitigen Berührungsängste ab.

Historische Vorläufer der gegenwärtigen Gemeinschaftsbewegung

Die gegenwärtigen utopischen Entwürfe eines besseren Lebens haben eine lange Reihe von Vorläufern in der Geschichte. Die philosophische Tradition des Abendlandes kennt solche Entwürfe im Zusammenhang ihrer Frage nach dem „guten Leben“. Der Begriff Utopie, erstmals in Thomas Morus’ Schrift „Utopia“ 1516 verwendet, meint einen gedanklichen Entwurf alternativer Lebensweisen, der von einer lebenspraktischen Umsetzung nie oder nicht ganz eingeholt werden kann, Versuche in dieser Richtung aber immer wieder zu motivieren vermag. In der christlichen Tradition übernimmt die Bergpredigt die Funktion einer solchen Utopie. Die gegenwärtige sozial-ökologische Gemeinschaftsbewegung erkennt in Klöstern und christlichen Kommunitäten eine Vorläuferbewegung. Als ein früher Vorläufer heutiger Gemeinschaftsgründungen, wenn auch ohne utopischen Charakter, kann das Streben nach Selbstbehauptung und Selbstverwaltung von Dorfgemeinschaften und städtischen Kommunen im ausgehenden Mittelalter angesehen werden. Ferdinand Tönnies, dessen soziologischer Klassiker „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) für die gegenwärtige soziologische Gemeinschaftsforschung immer noch einen Grundstein bildet, sieht hier den Beginn der Moderne.26

Das Buch „Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe“ versammelt eine ganze Reihe kurzer, essayistisch gehaltener Darstellungen unterschiedlicher utopischer Gemeinschaftsprojekte seit dem Mittelalter.27 Beschrieben werden unter anderem das Täufertum, die bis heute bestehenden christlichen Gemeinschaften der Amish, Hutterer und Shaker in Nordamerika, die europäischen Sozialreformer Robert Owen, Etienne Cabet und Giovanni Rossi, die im 19. Jahrhundert ebenfalls in Amerika utopische Gemeinschaften gründeten, die jedoch alle nach kurzer Zeit scheiterten. Die Südsee als Sehnsuchtsort im 18. und 19. Jahrhundert wird ebenso vorgestellt wie Projekte der Lebensreformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel die Künstlerkolonie Worpswede und der „Zauberberg der Gegenkultur“ Monte Verità. Zu dieser Bewegung gehörten auch völkische Gemeinschaften, an die heute zum Teil rechtsradikale Gemeinschaften anknüpfen.

Strukturen und Organisationsformen intentionaler Gemeinschaften

Zur Datenerhebung über die Bewegung intentionaler Gemeinschaften liegen hauptsächlich drei Quellen vor: Das sind neben der Zählung von Ralf Gehring und dem eurotopia-Verzeichnis Studien im Bereich der Gemeinschaftsforschung am Institut für Soziologie der Universität Münster.28

Eine Auswertung der 98 deutschen Gemeinschaften im eurotopia-Verzeichnis aus dem Jahr 2000 kam zu folgendem Ergebnis:29 Viele kleine Gemeinschaften sind nach der Wende seit 1990 in Ostdeutschland entstanden. Vor allem strukturschwache Gegenden boten offenbar günstige Voraussetzungen für Gemeinschaftsgründungen durch billiges Land und große freistehende Gebäude. Die Motivation für solche Projekte habe weniger wirtschaftliche Gründe, sondern sei eher in der „Suche nach naturverbundener Arbeit in gemeinschaftlichen Zusammenhängen“ zu sehen. Der Kinderanteil war bei großen Gemeinschaften auffallend gering. Die Zahl der Kinder veränderte sich mit der Größe der Gemeinschaft kaum. Über 80 Prozent der Gemeinschaften hatten weniger als 50 Mitglieder. Über zwei Drittel der Gemeinschaften im Verzeichnis waren erst nach 1990 gegründet worden. Im eurotopia-Verzeichnis ist von Ausgabe zu Ausgabe eine große Fluktuation festzustellen. Gemeinschaften aus alten Verzeichnissen verschwinden, neue tauchen auf. Dies kann zum einen daran liegen, dass sich Gemeinschaften aus unterschiedlichen Gründen nur einmal am Verzeichnis beteiligen. Die Daten insgesamt deuten jedoch darauf hin, dass viele nur von kurzem Bestand sind.

Die meisten Gemeinschaften in Deutschland im Jahr 2000, nämlich 79, befanden sich im ländlichen Raum, 13 in der Stadt, 6 in Kleinstädten. Im Jahr 2000 gaben 3 Prozent der Gemeinschaften Selbstversorgung an, 2007 waren es immerhin 33 Prozent.30 Die auffällige Steigerung lässt sich an dieser Stelle nicht erklären. Mehr als zwei Drittel der Projekte (65) gaben im Jahr 2000 an, Entscheidungen über das Konsensprinzip zu treffen. Nach mehrheitsdemokratischem Prinzip entschieden 12 Gemeinschaften, 16 gaben hierarchische Entscheidungsstrukturen an.

Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit denen der soziologischen Fragebogenstudie 2003 der Universität Münster (113 Fragebögen: 67 Gemeinschaften, 46 Klöster), die wie folgt aussahen: Die häufigste Rechtsform, in der sich Gemeinschaften in Deutschland organisieren, ist laut der Studie der Verein (62 Prozent). Als Genossenschaften hatten sich nur 4 Gemeinschaften organisiert. In vielen sei die Ökonomie erstaunlich wenig gemeinschaftlich, so die Studie. Es überwiege die individuelle Finanzierung mit 37 Prozent gegenüber Einkommensgemeinschaft und gemeinsamer Ökonomie mit ca. 27 Prozent. Eine nach sozialen Kriterien gestaffelte Kostenbeteiligung praktizierten etwa 17 Prozent. In Klös­tern sei im Unterschied dazu gemeinsame Ökonomie die Regel. Entscheidungen werden laut der Studie in den meisten Gemeinschaften im Plenum oder durch Zuständige gefällt. „Fast nie“ würden Entscheidungen von einem „Chef“ getroffen. Die Plenen seien für Mitglieder unterschiedlich verpflichtend oder optional. Während in Klöstern das Mehrheitsentscheidungsprinzip vorherrsche, träfe der mit Abstand größte Teil der Gemeinschaften Entscheidungen im Konsensverfahren (75 Prozent). Hierarchische Entscheidungsstrukturen gaben 12 Gemeinschaften an. Für verschiedene Bereiche Zuständige mit Entscheidungsbefugnissen gab es in 23 der untersuchten Gemeinschaften.

Gegenwärtig ist zu beobachten, dass in der sozial-ökologischen Gemeinschaftsbewegung nach neuen Entscheidungsstrukturen gesucht wird, die eine bessere Handlungsfähigkeit gewährleisten können als das Konsensprinzip. Michael Würfel beschreibt ausführlich die Arbeit an diesen Strukturen in Sieben Linden.31 Im aktuellen eurotopia-Verzeichnis wird das Modell „Holocracy“ vorgestellt, eine Praxis für Organisationen.32 Statt mit „künstlichen Hierarchien“ und Basisdemokratie arbeitet sie mit selbst organisierten Zuständigkeits-Kreisen. Gegenwärtig wird dieses Modell beim ZEGG auf Tauglichkeit getestet.

Zwischen den Gemeinschaften gibt es eine gewisse Fluktuation der Mitglieder. Häufigster Grund der Abwanderung sei das Verlieben und der daraus folgende Umzug in eine andere Gemeinschaft.33 Manche Mitglieder wechseln im Laufe der Jahre Gemeinschaften, weil sich ihre Bedürfnisse geändert haben. Einige Mitglieder lassen sich im Umfeld der Gemeinschaft nieder und bleiben mit ihr verbunden.

Ausblick

Eine Frage ist, wie es um die Lebensdauer der Gemeinschaften bestellt ist. Einige wenige haben schon ein beträchtliches Alter erreicht, aber ein richtiger Generationswechsel steht noch aus. Bei Gemeinschaften wie Sieben Linden und dem ZEGG ist es fraglich, ob sich eine nachfolgende Generation einmal die Projekte aneignen wird oder ob nicht die Gründergeneration gemeinsam altern wird, ohne dass für den Fortbestand der Gemeinschaften gesorgt ist. Das ZEGG ist dabei, aus Sorge um den Nachwuchs, besonders unter jüngeren Menschen zu werben. Schon jetzt fehlen vor allem Männer zwischen 30 und 40 Jahren.34

Mehrere Schwierigkeiten sind mit der Normativität verbunden, mit der die sozial-ökologische Gemeinschaftsbewegung auftritt.35 Wenn Werte wie Liberalismus, Toleranz und Pluralismus mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit vertreten werden, sind sie genau nicht mehr liberal, tolerant und pluralistisch. Wie verhalten sich Gemeinschaften im Zweifelsfall gegenüber Abweichlern, anders denkenden Gemeinschaften und Menschen bzw. der Gesellschaft? Der eigene hohe Anspruch kann zu einer „Tyrannei der Werte“ (Thomas Mohrs) führen, denen sich die Mitglieder verpflichtet fühlen und die sie zu überfordern drohen. Die Gemeinschaftsbewegung scheint in der Ambivalenz gefangen zwischen Rückzug in eine Nische bei gleichzeitigem Anspruch auf globale Bedeutung des eigenen Denkens und Handelns. Wie aber soll das überschaubare Leben in Gemeinschaft auf die Gesamtgesellschaft übertragen werden? Warum begnügen sich die Gemeinschaften nicht damit, für sich herauszufinden und zu leben, was ihnen richtig scheint, ohne den Anspruch, die Welt zu verbessern?

Bemerkenswert ist das Engagement der Gemeinschaftsglieder für die Gestaltung eines anderen Lebens nach ihren Überzeugungen und ihre Bereitschaft, dafür auf manches zu verzichten (v. a. beruflich und finanziell). Sie selbst sehen ihr Leben in Gemeinschaft und Natur als Gewinn an Lebensqualität. Von der sozial-ökologischen Gemeinschaftsbewegung können in der Tat Impulse in die Gesellschaft ausgehen. Letztlich bleiben die Gemeinschaften jedoch Inseln für Utopisten und Nischen für den Traum von einem Leben in Gemeinschaft.


Claudia Knepper


Anmerkungen

1 Siebo Heinken, Landlust in Sieben Linden, in: National Geographic, April 2012, 18-24.

2 Michael Würfel, Dorf ohne Kirche. Die ganz große Führung durch das Ökodorf Sieben Linden, Sieben Linden/Beetzendorf 2012.

3 Im Rahmen der Recherche zum vorliegenden Beitrag besuchte die Verfasserin im April 2012 das Ökodorf Sieben Linden sowie das Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) und sprach mit mehreren Mitgliedern beider Gemeinschaftsprojekte.

4 Nicht zu verwechseln mit der im 19. Jahrhundert wurzelnden pietistischen Gemeinschaftsbewegung.

5 Einfach Gut Leben e.V. (Hg.), eurotopia-Verzeichnis. Gemeinschaften und Ökodörfer in Europa, aktualisierte Auflage, Poppau 2010. S. auch Harald Lamprecht, Kommunitäten außerhalb der Kirchen. Gemeinsames Leben im Trend, www.confessio.de/cms/website.php?id=/religionheute/zeitgeist/kommunitaeten.html  (5.5.2012), und die Filme: „Ein Neues Wir. Ökologische Gemeinschaften und Ökodörfer in Europa“ (L.O.V.E., 2010) mit zehn Gemeinschaften aus acht Ländern und „Empire Me“ (2011, s. dazu den Beitrag in diesem Heft, 229f).

6 Vgl. Gemeinschaftsforschung am Institut für Soziologie der Universität Münster.

7 Eine Ausnahme bildet die Zählung von Ralf Gehring (s. u.), der große völkische Gemeinschaften in Südafrika in seine Zählung politischer Gemeinschaften aufgenommen hat.

8 Vgl. Iris Kunze, Soziale Innovationen für eine zukunftsfähige Lebensweise. Gemeinschaften und Ökodörfer als experimentierende Lernfelder für sozial-ökologische Nachhaltigkeit, Münster 2009, 53.

9 Vgl. Netzwerk „Fellowship Intentional Communities“, www.ic.org (5.5.2012).

10 Matthias Grundmann zitiert von Iris Kunze, Soziale Innovationen, a.a.O., 53 (Zitat konnte an angegebener Stelle nicht gefunden werden).

11 Martin Stengel, Vorwort zur Ausgabe 2009 des eurotopia-Verzeichnisses, in: Einfach Gut Leben e.V. (Hg.), eurotopia-Verzeichnis, a.a.O., 10.

12 Gehring beobachtet seit Jahren Lebensgemeinschaften und Kommunen und engagiert sich in der Gemeinschaftsbewegung (vgl. http://coforum.de/?549).

13 Ralf Gehring, Encyclopedia of Large Intentional Communities, 2009, bei yahoo groups „Gemeinschaften. Toleranz und Verbindlichkeit“, http://groups.yahoo.com/group/gemeinschaften; s. auch ältere Daten: ,,The World Communal Scene“, www.communa.org.il/world.htm#ICFEncyclopedia .

14 Das eurotopia-Verzeichnis wird von Gemeinsam Gut Leben e.V. herausgebracht und erscheint seit 1997 etwa alle vier Jahre, wobei das jeweils aktuelle Verzeichnis alle zwei Jahre überarbeitet wird. Bisher liegen vier eurotopia-Verzeichnisse vor: 1997/98, 2000/1, 2005/07 und 2009/10. Für das aktuelle Verzeichnis wurden rund 2300 Adressen in Europa angeschrieben. Davon haben 588 geantwortet. 390 Gemeinschaften wurden in das Verzeichnis aufgenommen, darunter 54 Ökodörfer. Die Auswahl der Adressen im Verzeichnis ist in gewisser Weise willkürlich, da sie sich hauptsächlich aus der Bereitschaft von Gemeinschaften ergibt, sich im Verzeichnis vorzustellen. Warum das viele Gemeinschaften nicht tun oder in aktualisierten Ausgaben nicht wieder tun, kann unterschiedliche Gründe haben: ein Mangel an Interesse, Zeit, Identifikation mit der Bewegung und Weiteres. Gemeinschaften, die nach Wissen der Redaktion nicht mehr existieren, werden aussortiert.

15 Martin Stengel, Vorwort, eurotopia 2010, 11.

16 Hier bleibt unklar, ob es sich bei diesen 10 Prozent um eine Summe aus „anarchistisch“ und „feministisch“ orientierten Gemeinschaften handelt.

17 Martin Stengel, eurotopia 2007, 14.

18 Vgl. Michael Würfel, Dorf ohne Kirche, a.a.O., 103.

19 Siehe Iris Kunze, die in ihrer Forschungsarbeit christliche und anthroposophische Gemeinschaften nicht berücksichtigte mit der Begründung eines fehlenden, von ihr an dieser Stelle nicht näher erläuterten, Pluralismusanspruchs. Vgl. Iris Kunze, Soziale Innovationen, a.a.O., 85.

20 Vgl. Gaiaeducation, Ecovillage Design Education. Ausbildung zur Nachhaltigkeit, 59ff, www.gaiaeducation.org/docs/German_EDE.pdf (6.5.2012).

21 Besonders populär sind Erfahrungs-Seminare der Gemeinschaftsbildung nach M. Scott Peck, Gemeinschaftsbildung. Der Weg zu authentischer Gemeinschaft, Sieben Linden/Bandau 2007. In mehreren sozial-ökologischen Gemeinschaften wird die Methode des „Forums“ angewandt, ursprünglich in der „Bauhütte“ von Dieter Duhm, beim ZEGG und in Tamera entwickelt.

22 Martin Stengel, Gemeinschafts-Bildung, in: eurotopia 2007, 50-54, hier 50.

23 So oft in dem Film „Menschen, Träume, Taten“ (Stiglmayer Film, 2011) von den Bewohnern Sieben Lindens zu hören. Der Film konzentriert sich vor allem auf den „Club 99“, eine Gemeinschaft in der Gemeinschaft mit dem Anspruch, besonders konsequent ökologisch und vegan zu leben.

24 Kosha Anja Joubert, Schritte zur Kollektiven Intelligenz, in: eurotopia 2010, 73.

25 Karen Litfin, Die Ganzheitlichkeit der Gemeinschaftsbewegung. Potential und Realität, in: eurotopia 2010, 22.

26 Vgl. Stephan Drucks, Vormodern oder voll modern? Kommune als Irritation der Moderne, in: Matthias Grundmann u. a. (Hg.), Soziale Gemeinschaften. Experimentierfelder für kollektive Lebensformen, Berlin 2006, 43-62.

27 Joachim Meißner/Dorothee Meyer-Kahrweg/Hans Sarkowicz (Hg.), Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe, Frankfurt a. M. 2001.

28 Vgl. Fragebogenstudie „Soziale Gemeinschaften“ 2003, a.a.O.; siehe auch Matthias Grundmann/Iris Kunze, Eine Internetbefragung zum Thema Gemeinschaft 2011, www.uni-muenster.de/Soziologie/forschung/gemeinschaftsforschung/docs/internetbefragung_2011.pdf, und allgemeine Informationen zur Gemeinschaftsforschung an der WWU Münster: www.uni-muenster.de/Soziologie/forschung/gemeinschaftsforschung (5.5.2012).

29 Iris Kunze, Datenanalyse auf Basis des Eurotopia-Verzeichnisses 2000, aus Diplomarbeit Iris Kunze, 2003,  www.uni-muenster.de/Soziologie/forschung/gemeinschaftsforschung/docs/gemforsch_material_eurotopia2000_analyse.pdf  (3.5.2012).

30 Martin Stengel, eurotopia 2007, 14.

31 Vgl. Michael Würfel, Dorf ohne Kirche, a.a.O., v. a. 155ff.

32 Francois Michael Wiesmann, Das Forum und Holocracy. Innenleben und Handlungsfähigkeit von Gemeinschaften, eurotopia 2010, 66-71.

33 So übereinstimmend verschiedene Gesprächspartner in Sieben Linden und im ZEGG im April 2012.

34 Zum Problem der Generationen: Stephan Drucks, Das kommunitäre Generationenproblem: Leitideen und Dynamiken. Fragen an intentionale Gemeinschaften, in: Matthias Grundmann u. a. (Hg.), Soziale Gemeinschaften, a.a.O., 135-153.

35 Zu folgenden kritischen Rückfragen siehe Thomas Mohrs, „Mir san mir!“ unter Globalisierungsdruck – Menschliche Gemeinschaften zwischen Nahbereich und Globalität, in: Matthias Grundmann u. a. (Hg.), Soziale Gemeinschaften, a.a.O., 63-73.