Christoph Schwöbel

Evangelische Identität im religiösen Pluralismus

Was heißt religiöser Pluralismus?

Es scheint mir keine Frage zu sein, dass wir im weltweiten Kontext in einer Situation leben, die weitgehend durch die Auseinandersetzung der Religionen geprägt ist. Es gibt keinen politischen Konflikt auf dieser Erde, der verstanden werden könnte, ohne dass man seine religiösen Faktoren versteht. Es gibt keine wirtschaftliche Situation, die richtig interpretiert werden könnte, ohne dass man sich deutlich macht, wie sie auch von der Religion mitgeprägt ist. In dieser Hinsicht, so scheint es mir, hat die Theologie einen Lernprozess durchzumachen. Nachdem sie im 20. Jahrhundert lange Zeit das Thema der Religion verdrängt hat, ist sie nun herausgefordert, der Wirklichkeit gerecht zu werden, in der die Religionen in unterschiedlichster Form unsere soziale Lebenswelt in globaler und lokaler Weise prägen. Denn das haben wir gemerkt, dass wir in Westeuropa und Deutschland nicht mehr auf einer Insel leben, in der wir uns selbstgenügsam mit der Auseinandersetzung mit unseren Säkularisierungsprozessen begnügen könnten, sondern dass wir von den religiösen Wiederbelebungsbewegungen in anderen Weltteilen stets mitbeeinflusst werden und sie als Teil unserer Lebenswelt hierzulande erleben. Das Globale und das Lokale greifen ineinander, und das gilt auch für die Religion.

Religiöser Pluralismus heißt, dass wir in einer Situation leben, in der unterschiedliche Basisdeutungen der Wirklichkeit mit Absolutheitsanspruch für die Handlungsorientierung ihrer jeweiligen Anhänger miteinander in einem Verhältnis der Koexistenz oder der Konkurrenz stehen. Religiöser Pluralismus heißt: Religionen im Wettbewerb – im Wettbewerb um gesellschaftlichen Einfluss, um Anhängerschaft, um die Gestaltung des sozialen Lebens. Dieser Pluralismus wirkt sich gleichzeitig auf die Deutungen der religiösen Situation aus. Auch hier gibt es keine einheitliche Deutung, sondern unterschiedliche Deutungen. Religiöser Pluralismus bringt mit sich, was man einen reflexiven Pluralismus nennen könnte, auch eine Pluralität in der Deutung des religiösen Pluralismus.Die Frage ist, welche Deutung die Wirklichkeit genauer beschreibt und präzisere Handlungsorientierungen ermöglicht. Eines jedenfalls ist klar: Die Ideologie der Aufklärung, dass Religion Privatsache sei, ist am Anfang des 21. Jahrhunderts definitiv widerlegt. Denn die Religionen tauchen im öffentlichen Bereich so stark auf wie wahrscheinlich seit dem Zeitalter der Religionskriege nicht mehr. Religion ist ein Faktum der öffentlichen Diskussion und nicht in den Bereich der Innerlichkeit abgedrängt. Insofern trifft Dietrich Bonhoeffers Kritik an der Religion, die sich auf ein bestimmtes Phänomen innerhalb des Christentums bezogen hat, auf diese Situation ganz und gar nicht zu. Ich bin davon überzeugt, dass ein so aufmerksam seine Zeit diagnostizierender Theologe wie Dietrich Bonhoeffer heute keinesfalls von einem religionslosen Christentum reden würde, sondern im Gegenteil aufmerksam und wach die Renaissance des Religiösen in unserer Zeit reflektieren würde, um daraufhin zu fragen, wie denn diese Zeitsituation zu deuten ist vor dem Hintergrund der Frage: Wer ist Jesus Christus für uns heute in den Wandlungen unserer religiösen Situation?

Nun scheint mir, dass der Pluralismus der Religionen drei Hauptausprägungen hat. Die erste ist in dem Einflussgewinn der historischen Religionen im weltweiten Maßstab zu sehen. Das Christentum und der Islam wachsen im Weltmaßstab in einem Ausmaß, wie wir es lange Zeit nicht erlebt haben. Das Christentum ist die am schnellsten wachsende Religion in China. Der Islam wächst vor allen Dingen auch in Bereichen, die vormals christlich waren. Hier merkt man die Konkurrenz- und Konfliktsituation, in der sich die Religionen befinden. Man kann sehr deutlich spüren, dass es eine Auseinandersetzung um den öffentlichen und politischen Bereich ist, die die Revitalisierung der historischen Religionen prägt. Sie alle wachsen – und das ist gleichzeitig eine ernste Herausforderung – in ihren konservativen Flügeln. Nicht die Liberalen, die Toleranz auf ihre Fahnen geschrieben haben, verzeichnen in den unterschiedlichen Religionen die größten Wachstumszuwächse, sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen, oder die, die ihren islamischen Glauben in Deutlichkeit gegenüber ihrer Umwelt präsentieren.

Insofern ist die Auseinandersetzung mit der Frage des Fundamentalismus eine der entscheidenden Herausforderungen der Situation des religiösen Pluralismus. Gelöst werden kann diese Frage nur aus der Perspektive der jeweiligen Traditionen selbst. Der religiöse Fundamentalismus kann niemals von außen therapiert werden, sondern nur von innen, und es ist unser aller Aufgabe, uns an der Therapie des christlichen Fundamentalismus zu beteiligen, indem wir zunächst einmal das Gespräch mit dem Fundamentalismus und den Fundamentalisten beginnen. Fundamentalisten – das scheinen immer die anderen zu sein. Wir müssten herausfinden, wo eigentlich in unserer Religion die Tendenzen zum Fundamentalismus liegen, die dann geklärt und therapiert werden müssten. Meines Erachtens handelt es sich beim Fundamentalismus um ein Phänomen deplatzierter Fundamente, so dass – beim christlichen Fundamentalismus – an die Stelle des Glaubens an Gott der Glaube an die Bibel tritt und damit die Bibel als höchste Autorität den Platz Gottes einnimmt. Aber diese Verwechslung zwischen dem Glaubenszeugnis und dem Glaubensgegenstand kann nur aus der Perspektive des christlichen Glaubens selbst therapiert werden.

Das zweite Phänomen ist das Anwachsen kombinatorischer Formen von Religiosität, die wir alle kennen. Es gibt viele Zeitgenossen, für die es überhaupt kein Problem ist, auf der einen Seite noch so ein bisschen im Christentum zu verweilen, sich auf der anderen Seite an buddhistischer Meditation zu beteiligen, den Tanz der Derwische auch sehr interessant zu finden und im Übrigen der Kraft der Sterne noch ein bisschen mehr zuzutrauen als der Schulmedizin. Wir leben keinesfalls in einem skeptischen Zeitalter, sondern in einem Zeitalter der Leichtgläubigkeit. Religiöse Ansprüche können dann miteinander kombiniert werden, wenn ihre Wahrheitsansprüche vorerst suspendiert werden, wenn also die Wahrheitsansprüche der Religion als ästhetische Ansprüche für miteinander kombinierbar gehalten werden; denn über Geschmack lässt sich nicht streiten, und in Geschmacksfragen lässt sich vieles miteinander kombinieren, was sich als Wahrheitsanspruch ausschließt. „Mix and match“ ist die Devise postmoderner Kombi-Religiosität.

Schließlich – das ist das dritte Phänomen – zeigt sich die Revitalisierung der Religion auch im nichtreligiösen Bereich, nämlich in der religiösen Aufladung von Lebensbereichen, die vormals als rein säkular interpretiert wurden, zu deren Selbstverständnis der Abschied von der Religion geradezu dazugehörte. Die Wissenschaft, die Wirtschaft und das Gesundheitswesen gehören zu diesen Bereichen, in denen die Verwissenschaftlichung als eine Befreiung von der Religion verstanden wurde. Max Weber hat in diesem Zusammenhang von der Entzauberung der Welt gesprochen. Wenn ich recht sehe, erleben wir gegenwärtig eine Wiederverzauberung der Welt, indem die ehemals säkular und antireligiös interpretierten Bereiche selbst wieder interreligiös interpretiert werden. Das Buch von Richard Dawkins „The God Delusion“ („Der Gotteswahn“) ist nicht das Beispiel einer wissenschaftlichen Kritik am Christentum, sondern vor allen Dingen ein herausragendes Beispiel einer naiven Wissenschaftsgläubigkeit, die meint, religiöse Ansprüche wissenschaftlich erklären zu können. Diese Art von Wissenschaftsreligion ist nicht eine wissenschaftliche Kritik der Religion, sondern eine Konkurrentin der Religion auf dem Gebiet der Orientierung in der Wirklichkeit.

„Worauf du nun dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott.“ Mit dieser allereinfachsten Religionsdefinition hat Martin Luther gearbeitet, und es kann mir niemand erzählen, dass die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die wir in unserer Gesellschaft erleben, nicht auch ein religiöses Phänomen in diesem Sinne ist: dass Menschen ihr Herz auf das hängen, was der Markt ihnen zuteilt, und dass deshalb der Markt – selbst in der Rede der Ökonomen – quasi gottheitliche Züge bekommt, Segen und Fluch austeilt, für Heil und Unheil zuständig ist und immer mehr zu einer mythischen Größe wird, die unberechenbar ist und deren Providenz von unsichtbarer Hand, wenn sie den Reichen gibt, auch den Armen etwas zuteilen sollte. Unser Verhältnis zum Markt, zu den Gütern ist längst nicht mehr ein rein wirtschaftliches, sondern mehr und mehr von religiösen Unbedingtheiten, von Heilserwartungen und Unheilsängsten, mitgeprägt.

Ein weiterer Bereich, bei dem es mir so scheint, als ob religiöse Haltungen unseren Umgang mit der Wirklichkeit und mit uns selbst prägen, ist der Bereich der Gesundheit. „Healthism“ ist in den USA längst ein von Religionssoziologen untersuchter Bereich geworden. Denn „worauf du nun dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott“: Das kann auch die eigene Gesundheit, das kann auch die eigene Körperlichkeit sein. Das kann auch das sein, womit wir versuchen, auf dem mühsamen Weg endlich so fit zu werden, wie wir sein könnten, um nicht nur das Wohl, sondern auch das Heil zu realisieren. Es kann mir niemand erzählen, dass die Plagen, die man im Fitnessstudio auf sich nehmen muss, um einigermaßen fit zu werden, nicht auch eine Form von religiöser Askese sind. Anders sind die Schmerzen wohl kaum zu ertragen.

Religion gehört also in eine Vielfalt von sehr unterschiedlichen und unterschiedlich beschreibbaren Phänomenen. Wir müssen sie nur in ihrer Orientierungskraft ernst nehmen, die sie für Menschen gewonnen haben. Ein entscheidender Aspekt dieses Phänomens ist, dass es sich weitgehend auf der Ebene der Deutungen abspielt. Deshalb können statistische Untersuchungen so wenig über das Ganze herausbekommen. Die unterschiedlichen Religionen begegnen sich auf der Ebene ihrer unterschiedlichen symbolischen Deutungen. Und die Frage, vor der wir stehen, lautet: Wer hat eigentlich die Deutungskompetenz in Bezug auf die Wirklichkeit? Die Auseinandersetzungen, die wahren Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft werden längst im Krieg der Symbolwelten entschieden. Es ist keine Überraschung, dass der 11. September ein Angriff auf das World Trade Center war und damit ein Angriff auf das entscheidende Symbol der kapitalistischen Globalisierung. Kruzifix-, Kopftuch- oder Inszenierungs-Streit, all das sind Symbolstreitigkeiten. Sie spielen sich nicht auf der Ebene der realen Erfahrungen der Wirklichkeit ab. Diese Auseinandersetzungen der Symbolwelten werden sich nur bewältigen lassen, wenn die Deutungskraft der Symbole an unserer erlebten Alltagswirklichkeit gemessen werden kann. Wie ist es anders zu erklären, dass immer neue Selbstmordattentäter für Anschläge im Irak rekrutiert werden können, die überall herkommen – nur nicht aus dem Irak? Das ist nur möglich auf dem Wege der symbolischen Identifikation mit einem Konflikt, der nicht ihrer ist.

Was heißt Identität?

Wo uns alles nur noch im Pluralismus der Vielfalt begegnet, da ist die Frage „Wer bin ich und wer sind wir?“ die entscheidende Frage, wenn es darum geht, sich selbst in der Wirklichkeit orientieren zu können. Religion erscheint als das beste Mittel einer – wie auch immer motivierten – Identitätspolitik. Denn in der Religion geht es um das Unbedingte, um das, wofür sich Menschen unbedingt einsetzen können. Gelingt es mir, meine Identität religiös zu begründen, dann ist diese Identität unantastbar. Wir können sehen, dass Identität hauptsächlich in der Abgrenzung von anderen definiert wird. Wer sind wir? Wir sind die, die die anderen nicht sind. Und deshalb brauchen wir einen „Identity Marker“, etwas, was unsere Identität unterscheidend von anderen abhebt. Das Kopftuch ist im Islam vor allen Dingen ein solcher „Identity Marker“, der mit den religiösen Grundüberzeugungen gar nichts zu tun hat. Es ist nicht eine der fünf Säulen des Islam, aber fungiert erfolgreich als „Identity Marker“.

Identitätspolitik als Politik der symbolisierten Differenz: Das macht natürlich alle Möglichkeiten einer weltweiten Kooperation bei den uns schließlich gemeinsam angehenden Problemen sehr, sehr schwierig. Man muss an dieser Stelle also versuchen zu vermeiden, dass Religion zum Instrument einer – vielleicht vorrangig gar nicht religiös motivierten – Identitätspolitik missbraucht wird. Teile historischer Identitätspolitik finden sich auch in der gegenwärtigen Erfahrung. Ein Beispiel: Als ich – durch das typische Umhängeschild leicht als Kirchentagsbesucher erkennbar – durch die Kölner Altstadt ging, rief mir von der anderen Straßenseite einer zu: „Ach guck – schon wieder ein Ketzer!“ Man sieht sehr deutlich: Identitätspolitik aus dem 16. Jahrhundert ist in Köln offensichtlich noch eine Realität. Das Entscheidende ist, dass diese Form der Identitätspolitik durch Abgrenzung stets der Kritik des Glaubens zu unterliegen hat. Denn nach christlichem Verständnis ist unsere personale Identität ebenso wie unsere Identität als christliche Gemeinschaft nicht eine Identität, die wir durch die Abgrenzung von anderen gewinnen, sondern in der Beziehung zu Gott.

Identität ist weder eine soziale Konstruktion, noch darf sie sozial dekonstruiert werden. Sie wird nicht durch ein gutes Gruppengefühl zugesprochen. Wenn die anderen meine Identität konstruieren können, dann können sie sie auch dekonstruieren. In diesem Sinne hat Sartre Recht, wenn er sagt: „Die Hölle – das sind die anderen!“ Das christliche Verständnis von Identität versteht diese als begründet in der Beziehung zu dem dreieinigen Gott. Sie wird jedem Menschen in der Taufe zugesprochen und ist deshalb unverfügbar und unveräußerlich. Für jeden von uns gilt: „Fürchte Dich nicht, ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen. Du bist mein.“ Es ist eine unveräußerliche Identität, die eine unveräußerliche Würde begründet. Für manche Jugendlichen ist das die konkrete Gestalt der Entdeckung des Evangeliums in der Pubertät: dass sie verstehen lernen, dass ihre Identität nicht das Produkt ihrer Eltern ist. Und in dem Zusammenhang ist die von Gott verliehene Identität eine befreiende Nachricht: Ich bin mehr als das Produkt meiner biologischen Herkunft. In dieser Form kann also eine religiös begründete Identität eine befreiende Identität sein, die auch befreit zur Gemeinschaft mit anderen.

Was heißt evangelische Identität?

Mit diesen Überlegungen zur Identität in religiöser Begründung sind wir schon zu dem übergegangen, was evangelische Identität heißen kann. Denn evangelisch sein, das heißt ja zunächst: sich anstecken lassen von der Befreiungsbotschaft des Evangeliums. Und überall dort, wo das Evangelium als Befreiungsbotschaft erlebt wird – auch gegenüber den Ansprüchen einer vielfältigen religiösen Welt – dort ist das Evangelium von Jesus Christus wirksam. Evangelische Identität ist dort zu spüren, wo Jesus Christus mein Herr ist, weil er mich befreit. Nur der, der letztgültige Freiheit schenkt, darf als Herr anerkannt werden.

Deshalb ist es für mich immer ungeheuer berührend gewesen, dass amerikanische Sklaven, die wahrhaftig genug davon wussten, wer ihr „Master“ war, in ihren „Hush Harbours“, den geheimen Treffpunkten, an denen sie sich versammelten, um ihre Spirituals zu singen, von Jesus sagten: „My Master it’s my Lord“ – sehr genau wissend, dass dieser Herr sie befreit und nicht neu knechtet.

Evangelische Identität hat also mit Freiheit zu tun. Aber wie lässt sich diese Freiheit gewinnen, und wie lässt sich Identität evangelisch bilden? Meines Erachtens sind die Hinweise, die die Reformation in dieser Hinsicht gegeben hat, heute noch unübertreffbar gültig. Die Reformation hat zur Bildung evangelischer Identität zunächst gesagt, dass sie allein durch die Schrift gebildet wird. Dabei muss man sehen, dass die reformatorische These vom Priestertum aller Gläubigen und die These „allein die Schrift“ aufs Engste zusammenhängen. Nur dann können alle Christen und Christinnen ihre Urteilskraft in Bezug auf die Lehre wirklich wahrnehmen, wenn sie alle das auf der Basis der Bibel tun können. Das Alphabetisierungsprogramm in Sachen des Glaubens, das die Reformation darstellt, dient der Ermöglichung eines eigenen Urteils, auch in der Situation des Pluralismus. Und deshalb bleibt die Bibel, die Grammatik und das Lexikon des christlichen Glaubens, die Zeichenwelt, in der Christen und Christinnen ihre Welt deuten.

In der Situation des religiösen Pluralismus stellt sich daher die Frage, wie diese Zeichenwelt, in der der christliche Glaube lebt, erhalten werden kann und wie wir im Umgang mit ihr eingeübt werden können. Die Frage lautet ganz konkret für viele unserer Kirchengemeinden: Wie geschieht diese Einübung in die Wirklichkeitsdeutung durch die Bibel, nachdem die gute alte Bibelstunde abgeschafft und durch den Männergesprächskreis und das Frauenfrühstück abgelöst worden ist? Christlicher Glaube ist nicht überlebensfähig ohne diese Basis und erhält seine Ressourcen – auch die Ressourcen zur Identitätsbildung – stets nur aus dem Umgang mit der Schrift.

Das zweite Kriterium, das die Reformation für evangelische Identität formuliert hat, ist die Deutung des „Sola Scriptura – allein die Schrift“ – als „Solus Christus – Christus ist der, in dem Gott allein das Heil für die Welt verwirklicht hat“. Christus verträgt keine Addition. Deshalb kann man nicht Christus und die Heiligen und Nothelfer sagen. Deshalb kann man nicht sagen: Christus plus Zazen (Meditationstechnik des Zen-Buddhismus, Anmerkung der Redaktion) oder Tanz der Derwische. Die Heilsvermittlung geschieht in Christus allein. Zazen mag eine gute Konzentrationsübung sein, durch die wir viel lernen können, und der Tanz der Derwische mag uns bekannt machen mit der Begeisterungsfähigkeit unserer menschlichen Natur. Für Christen gehören sie auf die Seite der Welt und nicht auf die Seite des religiösen Heils.

Deshalb ist die Gottesfrage auch nur durch den Verweis auf Jesus Christus zu beantworten. Die Begegnung von Christen mit anderen Religionen geschieht immer so, dass sie in anderen Religionen aufmerksam hinhören, wo ihnen ein Echo von dem begegnet, was sie in der Christuswirklichkeit erfahren haben. Denn dass die Religionen auch mit Gott zu tun haben, das müssen wir annehmen, wenn wir uns zu Gott als dem Allmächtigen und dem Allgegenwärtigen bekennen. Wie sollte denn Gott überall sein, aber nicht in den Religionen? Wie sollte er allmächtig sein, aber die Religionen nicht zur Realisierung seines Willens benutzen? Nur wird die Stelle, die die Religionen im Heilsplan Gottes haben, uns als Christen nur im Blick auf Jesus Christus ersichtlich, in dem das Heil Gottes für die Welt zugesagt ist. Die Bibel wird also als Christusbuch interpretiert, und die Pointe des „allein in Christus“ ist, dass „allein in Christus“ die Gnade Gottes erschienen ist. Christus ist also nicht der neue Gesetzgeber, nicht die neue Überlebensregel im Kampf der Religionen, sondern in ihm ist die unbedingte Gnade Gottes für die Welt verwirklicht.

Das Unterscheidungskriterium der evangelischen Identität zu den Formen der religiösen Pluralität ist deshalb stets: Begegnet uns darin eine Botschaft der Gnade oder ein neues Gesetz? Evangelische Christen und Christinnen sind stark in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Und sie sehen die Religionen dort, wo sie nur das Gesetz bringen, bestenfalls als Zubringer zum Aufnehmen der Befreiungsbotschaft des Evangeliums. Das Gesetz kann ungeheuer verführerisch sein, wenn es uns verspricht, durch bestimmte Lebensregeln religiöser Art endlich das ewige Heil zu erreichen. Das Gesetz ist fatal, wenn es auf unsere Identität angewandt wird. Denn aus der Perspektive des Gesetzes ist der Mensch das, was er tut. Und dann haben alle schlechte Karten, die nicht auf irgendeinem Gebiet zu den Hochleistungssportlern dieser Gesellschaft gehören. Dann haben wir alle schlechte Karten – am Anfang und am Ende unseres Lebens. Deshalb ist die reformatorische Botschaft „Allein aus Gnade“: Der Mensch ist nicht das, was er tut, sondern der Mensch ist das, was ihm von Gott geschenkt wird. Und dieses will „allein im Glauben“ angenommen werden.

Evangelische Identität heißt, dass es jedem einzelnen Christen, jeder einzelnen Christin zugemutet wird, in der Situation des religiösen Pluralismus urteilsfähig und handlungsfähig zu werden auf der Basis dessen, was uns vom christlichen Glauben eingeleuchtet hat. Christliche Überzeugung kann nicht gemacht werden. Glaube kann nicht von Menschen geschaffen werden, auch nicht von uns selbst. Wir können uns nicht selbst in einen Zustand stärkeren Glaubens hineinreden. Aus diesem Grund können wir den Glauben nur annehmen als das, was uns einleuchtet, als das, was uns gegeben wird, als Geschenk des Heiligen Geistes. Das, was uns so klar geworden ist, das bedeutet das „Sola fide“, „allein durch den Glauben“. Es ist dann für uns klar geworden, wenn es uns Orientierung bietet. Deshalb geht es bei der Frage nach evangelischer Identität im religiösen Pluralismus darum: Wie kann unsere Identität so gebildet werden, dass sie diesen Maßstäben des „Sola Scriptura“, des Christus allein, des „allein aus Gnaden“ und des „allein aus Glauben“ entspricht? In dieser Hinsicht hat sich im neuen Zeitalter des religiösen Pluralismus am Grundauftrag der evangelischen Kirche gar nichts geändert.


Christoph Schwöbel, Tübingen

(Diesem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den der Autor am 7. Juni 2007 in der Werkstatt Weltanschauungen beim 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln gehalten hat.)