Matthias Roser

Evangelikale Bekenntnisschulen

Historische Grundlagen und aktuelle Perspektiven

Seit knapp 40 Jahren existiert, aus bescheidenen Anfängen erwachsen, im evangelikalen Spektrum des deutschsprachigen Protestantismus eine mittlerweile prosperierende Privatschulbewegung, die bisher kaum die notwendige theologische und religionspädagogische Aufmerksamkeit gefunden hat.1

Die evangelikale Nachrichtenagentur „idea“ berichtet in der Ausgabe 39/2016 von interessanten quantitativen Aspekten: Im Schuljahr 2016/17 existierten 104 evangelikale Privatschulen an nunmehr 97 Schulstandorten in Deutschland. An diesen 104 Schulen wurden ca. 40 000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet.2

Tobias Lehmann weist darauf hin, dass evangelikale Bekenntnisschulen seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in einem kontinuierlichen Wachstumsprozess begriffen sind.3 Dies betrifft sowohl die Zahl der Schulgründungen als auch die Gesamtschülerzahl. Gegenwärtig wächst die evangelikale Privatschulbewegung um mindestens drei bis fünf Schulen pro Schuljahr und die Schülerzahl um durchschnittlich ca. 9,5 % im Vergleich zum jeweiligen Vorjahr. Bei den Schulgründungen handelt es sich teilweise um echte Neugründungen, teilweise aber auch um Filialschulen. Evangelikale Schulen partizipieren also am gesamtgesellschaftlichen „Trend zur Privatschule“.

Die geografischen Schwerpunkte4 evangelikaler Bekenntnisschulen liegen in Bremen, wo beinahe jeder dritte Privatschüler eine evangelikale Bekenntnisschule besucht,5 sowie in Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. In den neuen Bundesländern sind, gegen den allgemeinen Trend, die evangelikalen Bekenntnisschulen nur marginal (Brandenburg, Sachsen) bzw. überhaupt nicht vertreten (Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen). In deutlichem Gegensatz zum allgemeinen Privatschultrend steht auch die Entwicklung in Bayern.

Das statistische Material, auch mit Blick auf die Ebene der Städte und Landkreise, erhärtet den Eindruck, dass die evangelikale Privatschulbewegung sich dort ein stabiles Fundament erarbeitet hat, wo es ihr gelungen ist bzw. aktuell gelingt, bestimmte, von einer gemeinsamen Lebens- und Wertorientierung her strukturierte konfessionelle Milieus anzusprechen bzw. in Richtung möglicher Schulneugründungen zu aktivieren und professionell zu unterstützen. Die Beispiele der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen verweisen darauf, dass das Milieu signifikanter Konfessionslosigkeit der Gründung evangelikaler Bekenntnisschulen nachhaltig im Wege steht. Diese scheinen (noch) Thema der alten Bundesländer zu sein.

Das langsame, gleichwohl sukzessive Wachstum wurde m. E. insbesondere von drei Faktoren maßgeblich befördert.

1. Das Grundsatzurteil des BVerwG 1992

An erster Stelle ist das religionsverfassungsrechtliche Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 19. Februar 1992 zu nennen, dem von der evangelikalen Bekenntnisschulbewegung ein hoher legitimatorischer Wert beigemessen wird. Im historischen Kontext ging es um die Frage einer zeitgenössischen Exegese und Applikation von Art. 7,4 und Art. 7,5 in Verbindung mit Art. 4 GG.

Im Dezember 1986 hatte der „Verein Freie Christliche Bekenntnisschule Hamburg“ bei der Freien und Hansestadt Hamburg beantragt, die Genehmigung für eine christliche Bekenntnisschule mit der Bezeichnung „August-Hermann-Francke-Schule“ als private Ersatzschule zu erteilen. Mit Bescheid vom 26. Juli 1989 verweigerte der Hamburger Senator für Schule, Jugend und Berufsbildung die Genehmigung. Im Ablehnungsbescheid führte die Behörde aus, dass es sich nicht um eine „Bekenntnisschule“ im Sinne von Art. 7 Abs. 5 GG handle, „weil hierunter nur Schulen der evangelischen Landeskirchen, der katholischen Kirche und der jüdischen Gemeinden zu verstehen seien“6 und weil „die geplante Schule im Hinblick auf ihre Erziehungsziele nicht dem Erfordernis der Gleichwertigkeit mit den Erziehungszielen öffentlicher Schulen“7 genüge.

Gegen den Ablehnungsbescheid erhob der Schulverein Klage beim Verwaltungsgericht Hamburg, das die Klage in seinem Urteil vom 17. Januar 1990 abwies. Die nächsthöhere Instanz, das Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg, kassierte mit seiner Entscheidung vom 26. November 1990 das Urteil und verpflichtete die Hamburger Schul- und Bildungsbehörde, die Genehmigung zur Errichtung der August-Hermann-Francke-Schule zu erteilen. In seiner Urteilsbegründung verdeutlichte das OVG, dass es dem Elternrecht in der Erziehung (Art 7 GG) und der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG) höchsten verfassungsrechtlichen Rang einräume und diese damit den wertneutralen Erziehungszielen der öffentlichen Schulen prinzipiell vorgeordnet seien.

In einem Kommentar zum Urteil heißt es: „Der Staat ist nicht berechtigt, seine Erziehungs- und Bildungsziele zum verbindlichen Maßstab auch für die Privatschule zu machen. Auch andere Lehrziele müssen [von vornherein; M. R.] nicht hinter denen der staatlichen Schulen zurücktreten. Der vom Grundgesetz … den Erziehungsberechtigten eingeräumte Anspruch auf eine private Bekenntnisschule darf nicht dadurch ausgehöhlt werden, daß der Staat das Bekenntnis überprüft, einer Bewertung unterzieht und die Genehmigung zur Errichtung deshalb versagt, weil die Erziehung der Schüler auf der Grundlage des Bekenntnisses nicht so frei und neutral sei wie in staatlichen Schulen.“8 Zwar seien die wesentlichen Erziehungsziele der Verfassung (Erziehung im Geist der Demokratie und der Freiheit, Erziehung zur Duldsamkeit und zur Achtung vor alternativen Überzeugungen und Weltanschauungen) auch für die privaten Bekenntnisschulen in Geltung, allerdings sei diesen die Freiheit einzuräumen, „wissenschaftliche Erkenntnisse mit dem Hinweis zu vermitteln, daß deren Aussagen von begrenztem Wert seien und die Lebenshaltung der Schüler nicht bestimmen dürften, soweit [sie] dem Maßstab der Bibel nicht genügten“9.

In der Perspektive des OVG Hamburg reicht die Versicherung der privaten Bekenntnisschulen aus, nicht gegen die vom Grundgesetz ableitbaren generellen Bildungsziele zu verstoßen bzw. diese via Schule und Unterricht zu befördern; die Rezeption, Anwendung und Akzentuierung des sog. Beutelsbacher Konsenses von 1979 („Überwältigungsverbot“) delegiert das Gericht damit in die Verantwortung der Privatschulen.

Die sehr ausführliche Auslegung und Interpretation von Art. 7,4 und 7,5 GG10 durch das OVG Hamburg ließ es dem Oberbundesanwalt beim BVerwG (Berlin) geraten erscheinen, das Verfahren an sich zu ziehen, zumal gegen das Urteil des OVG keine Revision zugelassen worden war.11

Sowohl die Länge des Verfahrens als auch der sich in dessen Verlauf herauskristallisierende Streitgegenstand – die Frage und die Notwendigkeit einer die gesellschaftlichen Realitäten der 1980er und 1990er Jahre anerkennenden höchstrichterlichen und damit normsetzenden religionsverfassungsrechtlichen Exegese von Art. 4 und Art. 7,4 sowie Art. 7,5 GG – signalisieren bereits die dem Urteil zukommende grundlegende Bedeutung für die evangelikale Bekenntnisschulbewegung.

Interessanterweise urteilt das BVerwG (19. Februar 1992) in der vom OVG Hamburg vorgegebenen Argumentationsrichtung und verwirft zu großen Teilen die Bedenken der Hamburger Schulbehörde und des Verwaltungsgerichtes Hamburg.

Laut BVerwG ist die „Glaubensbasis der evangelischen Allianz“ von 1846 verfassungsrechtlich gleichrangig mit den Bekenntnisschriften der beiden großen Kirchen zu behandeln.12 Die Rechtsnormen des Grundgesetzes sind – in der Perspektive des BVerwG – von daher gegenwartsbezogen nicht mehr so auszulegen, als stünden die Bekenntnisse der beiden großen Konfessionen unter einem besonderen grundgesetzlichen Schutz.13

In der Perspektive des BVerwG ist damit – begründet durch die Rechtsnorm der positiven Religionsfreiheit (Art. 4 GG) – religiöser und weltanschaulicher Wettbewerb im Bereich Schule vorgesehen und gesamtgesellschaftlich erwünscht.

Die Exegese von Art. 7,4 und Art. 7,5 GG, wie sie durch das BVerwG vorgenommen wird, erhält ihre Strukturierung und Normierung von Art. 4 GG her. In Bezug auf die – im gesamten Hamburger Verfahren hoch umstrittene Frage des „Nichtzurückstehens der Lehrziele“ (d. h. die vom GG her vorgesehene „Gleichwertigkeit der Lehrziele“) – urteilt das BVerwG im Sinne des vom Grundgesetz her vorgesehenen und gewollten Wettbewerbs unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Welt- und Daseinsorientierungen.

Staatlichen Schulbehörden kommt in Bezug auf die evangelikalen Bekenntnisschulen dann keine wie auch immer geartete Überwachungsfunktion zu, ihnen obliegt primär eine „Prognoseentscheidung“, dass sich „voraussichtlich gegenüber den Lehrzielen der entsprechenden öffentlichen Schulen keine erheblichen Defizite ergeben werden“.14

In diesem Zusammenhang ist die Begründung des Votums schul- und bildungspolitisch bedeutsam: „Auch von einer Bekenntnisschule sind als Erziehungsziele ein Mindestmaß an Toleranz im Sinne von Duldsamkeit gegenüber abweichenden Überzeugungen anderer sowie die Achtung und Förderung der individuellen Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit der Schüler zu verlangen, nicht aber Neutralität und Offenheit in dem Sinne, daß am Ende der schulischen Erziehung nicht ein eindeutiges Bekenntnis zu bestimmten Glaubensinhalten und eine Bindung an bestimmte Werte stehen dürfen; in diesem Rahmen ist auch das Werben für das eigene Bekenntnis zulässig.“15

Das BVerwG begegnet der Bekenntnisschulbewegung ausweislich dieses Urteils mit – verfassungsrechtlich sicherlich gut begründetem – Wohlwollen und einem großen Vertrauensvorschuss. Das Urteil ermöglichte der Bewegung einen breiten Gestaltungsspielraum in Bezug auf die theologische, religionspädagogische und fachdidaktische Normsetzung, der auch entsprechend genutzt wurde.16

2. Der Lobbyismus des VEBS

Als zweiter Faktor, der das Wachstum evangelikaler Bekenntnisschulen gefördert hat, ist der mittlerweile professionelle und durchaus erfolgreiche gesellschafts- und bildungspolitische Lobbyismus des Verbandes Evangelischer Bekenntnisschulen (VEBS) zu nennen. Gegenwärtig sind ca. 60 % der im Bundesgebiet vertretenen evangelikalen Privatschulen (Einzelschulen und Schulstandorte) Mitgliedsschulen des VEBS. An diesen werden aktuell mehr als zwei Drittel (ca. 69 %) aller Schülerinnen und Schüler evangelikaler Privatschulen unterrichtet.17 Im VEBS-Gesamtverband spiegelt sich gegenwärtig sicherlich noch die theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Pluriformität der evangelikalen Bewegung in Deutschland wider.

Der VEBS übernimmt für die Mitgliedsschulen die Funktion einer Interessenagentur, die Funktion einer Interessenaggregation und Interessenselektion, sowie die Aufgabe des politischen Lobbyismus, ebenso die des betriebswirtschaftlichen Consultings.18 Für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse ist die Interessenaggregation der im Verband zusammengeschlossenen Schulen als zentrale verbandspolitische Aufgabe einerseits und die interne Interessenselektion als weitere zentrale verbandpolitische Funktion andererseits.

Auf der Homepage des VEBS konnte – bis zum „Relaunch“ des Internetauftritts im Frühjahr 2018 – das Ergebnis der Interessenaggregation innerhalb der Mitgliedsschulen abgelesen werden: „… [Die] christliche[n] Bekenntnisschulen … vermitteln nicht nur kompetent die Inhalte der öffentlichen Lehrpläne, sondern wollen ihr Christsein authentisch und tolerant vorleben sowie tragfähige Antworten auf die Fragen des Lebens geben.“19 Dieses Zitat fasst die Intention der Mitgliedsschulen des VEBS zusammen, als bildungstheoretisch begründbare, vom Grundgesetz vorgesehene und gesellschaftspolitisch notwendige Alternative zum öffentlichen Schulsystem wahrgenommen und auch entsprechend mit öffentlichen Geldern gefördert zu werden.20 Der Verband verfolgt dieses Ziel mit dem Zweck, „Kindern und Jugendlichen Orientierung in einer vom Werteverfall bedrohten Gesellschaft“21 zu vermitteln. Dieser Kollektivklausel kann deutlich ein evangelistisch-missionarisches Bestreben des Verbandes entnommen werden, im Modus eines erneuerten Bildungs- und Erziehungsverständnisses dem durch die säkulare (öffentliche) Bildung aus ihrer Sicht vorangetriebenen und unterstützten allgemeinen Werteverfall Einhalt zu gebieten.

Ein zentrales Ergebnis der internen Interessenselektion innerhalb der Mitgliedsschulen findet sich ebenfalls auf der Homepage des VEBS: „Unterricht durch Lehrer, die bewusste Christen sind und durch die Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Jesusnachfolge überzeugen. Bildungsinhalte der staatlichen Lehrpläne. Orientierung der Unterrichtsinhalte am Deutungsrahmen der Bibel. Dadurch Vermittlung von: Sinn und Orientierung und der Fähigkeit zur selbständigen Auseinandersetzung mit anderen Deutungssystemen. Stärkung der Persönlichkeit durch eine am biblischen Menschenbild ausgerichtete Pädagogik, Erfahrung sowohl von Anerkennung und Geborgenheit als auch von Grenzen und Anforderungen, dadurch hohe Motivation, Leistungsbereitschaft und Selbstverantwortung. Kennenlernen des Evangeliums von Jesus Christus als Lebensorientierung und rettende Kraft.“22

Genauer wird die Interessenselektion durch die Benennung eindeutiger Kriterien für die Aufnahme in und die Mitgliedschaft innerhalb des VEBS bestimmt. In der Satzung des VEBS heißt es dazu: „Die Mitglieder und ihre Mitarbeiter sehen sich in allen Fragen des Glaubens, der Lebensführung, der Lehre, der Wissenschaft, der Erziehung und der öffentlichen Verantwortung an die Autorität der Bibel gebunden. Diese bezieht sich auf die ganze Inspiration, Wahrheit und Einheit der Heiligen Schrift.“23 Dies wird in Thesenform weiter erläutert: „Dem entsprechend gehören zum echten Christsein neben persönlichem Glauben auch Taufe, Bekehrung und Wiedergeburt. Dürfen gemeindespezifische Lehrfragen und Prägungen nicht trennend wirken. Sollen die Erkenntnisse der Schöpfungsforschung angemessen in den pädagogischen und didaktischen Konzepten berücksichtigt werden. Sehen sich die Bildungseinrichtungen aufgefordert, die Bibel in allen Erziehungs- und Bildungsfragen auch gegen nichtbiblische Grundpositionen in Schule und Pädagogik verbindlich werden zu lassen. Gilt die Autorität der Heiligen Schrift sowohl in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung als auch in Fragen der Lehre, der Wissenschaft und der öffentlichen Verantwortung.“24

Es wird in der Satzung des VEBS zwar darauf hingewiesen, dass der Verband den Mitgliedsschulen nicht weisungsbefugt sei, dennoch ist für das Selbstverständnis des VEBS die nachfolgende Exklusivitätsklausel von hoher Bedeutung: „[Es] dürfen nur Bildungsträger Mitglieder des Verbandes25 werden, die durch ihre geistlich-theologische Ausrichtung die Autorität der Heiligen Schrift nicht in Frage stellen, weder durch eine höhere Autorität des Verstandes, noch der persönlichen Erfahrung, des Gefühls oder der Tradition.“26

Letztendlich vermögen das Profil und die theologische und pädagogische Ausrichtung der Schulen mit den höchsten Schülerzahlen die Organisation und die inhaltliche Ausrichtung des Gesamtverbandes maßgeblich zu bestimmen. Die Schulen mit den aktuell höchsten Schülerzahlen sind, mit der Ausnahme der Freien Evangelischen Bekenntnisschule in Bremen, im Milieu russlanddeutscher Spätaussiedler verortet bzw. sind in historischer Perspektive Gründungen aus diesem Milieu heraus. Von daher kann als These formuliert werden, dass die im VEBS zusammengeschlossenen Schulen mittlerweile wesentliche theologische und pädagogische Impulse aus der Frömmigkeitskultur russlanddeutscher Spätaussiedler empfangen bzw. sich (zukünftig) mit dieser verbandspolitischen Dominanzkultur auseinanderzusetzen haben.

3. Russlanddeutsche Spätaussiedler

Als dritter Faktor sind die Zuwanderung russlanddeutscher Spätaussiedler und deren schul- und bildungspolitische Initiativen zu nennen. Zwischen 1989 und 1999 siedelten nach Angaben des Bundesverwaltungsamtes Köln ca. 1,7 Millionen russlanddeutsche Spätaussiedler in die Bundesrepublik über.27 Das bis 2009 geltende „Wohnortzuweisungsgesetz“ und die Verteilung nach dem sog. Königsteiner Schlüssel zeitigte in Bezug auf die Konzentration der Spätaussiedler nachhaltige Wirkungen: Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen wurden zu Hauptaufnahmeländern.

Mit Blick auf erste zentrale theologische und pädagogische Motive, die die Schulgründungsinitiativen russlanddeutscher Spätaussiedler zeitnah nach deren Immigration begründeten, macht Sonja Luehrmann28 auf die als traumatisch wahrgenommenen Erfahrungen in der ehemaligen Sowjetunion aufmerksam. Sowohl die Gründergeneration als auch die aktuelle Elterngeneration wurde vor ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik Zeuge der Didaktik und Methodik des wissenschaftlichen Atheismus sowohl im sozialistischen Alltag als auch im Schulsystem.

In der Perspektive russlanddeutscher Spätaussiedler vermochte gerade ihre Standhaftigkeit im Glauben dem als widergöttlich verstandenen atheistischen sowjetischen Staat und dessen Pädagogik zu widerstehen. Dieser gewissermaßen göttlich approbierten Glaubenstreue kommt, in der Perspektive der Spätaussiedler, die normative Funktion einer unzerstörbaren theologischen und pädagogischen Basis für die schnell einsetzende Gründung „evangelischer Schulen“ zu.

Dem theologischen bzw. frömmigkeitsstrukturierenden Narrativ der in der ehemaligen Sowjetunion bewiesenen Glaubenstreue einerseits, der auch in der Sowjetunion erfahrenen göttlichen Führung andererseits korrespondieren – im Selbstbild der Spätaussiedler – nachhaltige theologische und pädagogische Dissidenz- und Deprivationserfahrungen im Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft der Bundesrepublik zu Beginn der 1990er Jahre.29

Der ehemalige Gymnasiallehrer Otto Hertel, selbst russlanddeutscher Spätaussiedler, initiierte und begleitete (via einer entsprechenden kommunal- und landespolitischen Lobbyarbeit) im westfälischen Teil von Nordrhein-Westfalen (insbesondere in Ostwestfalen-Lippe) zu Beginn der 1990er Jahre entsprechende Schulgründungsinitiativen mit dem Ziel, die zweifache Dissidenzerfahrung der Zugewanderten in schul- und bildungspolitische Handlungsperspektiven zu transformieren.30

Die evangelikale Privatschullandschaft der Bundesrepublik und das jeweilige konfessionelle Milieu der aufnehmenden Bundesländer erfuhren mithin durch die Zuwanderung russlanddeutscher Spätaussiedler seit Mitte der 1990er Jahre eine weitere, bis in die Gegenwart reichende Ergänzung.

Schule und Unterricht an den August-Hermann-Francke-Schulen in Ostwestfalen-Lippe werden gegenwärtig bereits als bedeutsamer russlanddeutscher Beitrag zu einer Civil Religion/Zivilreligion im landes- und bundespolitischen Kontext wahrgenommen und entsprechend gewürdigt. In einer aktuellen Bestandsaufnahme des Landesbeirats für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2016 heißt es beispielsweise: „Auf Einladung des lippischen Bundestagsabgeordneten Heinrich Zertik besuchte Armin Laschet [seinerzeit Landtagsfraktionsvorsitzender der CDU, M. R.] das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. Das Ereignis war Teil eines umfangreicheren Besuchs mehrerer Detmolder Einrichtungen, die von russlanddeutschen Freikirchen initiiert wurden und gefördert werden. Dazu zählen außer dem Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte die August-Hermann-Francke-Schulen und das Christliche Sozialwerk OWL.“31 Laschet wird im Folgenden mit der Aussage zitiert: „Wir können froh darüber sein, dass der Gottesbezug und die Verankerung des Rechts auf Bekenntnisschule im Grundgesetz vorhanden sind. Daher darf man sein Bekenntnis stärker und selbstbewusster formulieren … Es besteht parteiübergreifender Konsens, dass private christliche Schulen zum Land gehören und dem Staat guttun; es ist dort oft ein qualitativ hohes Niveau festzustellen.“ Das Rundschreiben berichtet außerdem, dass sich Laschet „von dem aktiven und selbstbewussten christlichen Glauben vieler russlanddeutscher Christen“ beindruckt gezeigt und in diesem Zusammenhang das „Miteinander von Wissenschaft und Glauben, das ihm beim Rundgang durch die Schulen begegnet sei“, explizit gelobt habe. „Allgemein bezeichnete Laschet die Spätaussiedler als ‚Leuchttürme beispielhafter Integration‘, denen der ‚schwierige Spagat zwischen Integration in die neue Heimat und Bewahrung der eigenen Identität und Kultur‘ gelingt. Dies führt er ganz wesentlich auf den Fleiß und das große Engagement vieler Russlanddeutscher zurück: ‚Sie warten nicht, bis der Staat ihnen ein Museum, eine Schule oder ein Kirchengebäude baut, sie packen an und hoffen dann, dass der Staat weiterunterstützt.“

Abschließende Überlegungen

Zukünftige Beobachtungen müssen zeigen, ob etwaige Versuche der Instrumentalisierung evangelikalen „Schule-Machens“, als Modus eines „gesellschaftstransformativen Evangelism“, erfolgreich sein können. Zumindest scheint die sich gegenwärtig wandelnde und dynamisierende Bekehrungsfrömmigkeit russlanddeutscher Spätaussiedler der dritten Generation und deren hoher missionarischer Impetus diesbezüglich prinzipiell anschlussfähig zu sein.

Interessanterweise wird in dem vom Kirchenamt der EKD herausgegebenen Leitfaden zur „Statistik Evangelische Schulen. Zweite Erhebung“ (2018) ein innerkirchlicher Diskussionsprozess greifbar, wenn es dort heißt, dass nur solche Schulen als „evangelische Schulen“ bezeichnet und in die Erhebung aufgenommen werden sollen, „die sich in der Ausrichtung der inhaltlichen Arbeit an einschlägigen Grundsatztexten der EKD orientieren“. Offenkundig ist ein Unbehagen der EKD und der Evangelischen Schulstiftung in der EKD in Bezug auf die Akzentuierung des evangelikalen Bekenntnisschulwesens, und offensichtlich sollen mit dem Leitfaden erste „rote Linien“ mit Blick auf das Bekenntnisschulwesen und dessen Bildungsbegriff und eine etwaige Funktionalisierung von Bildung und Erziehung („Überwältigungsverbot“) gezogen werden.


Matthias Roser
 

Anmerkungen

  1. Ausnahmen bilden die beiden Dissertationen: Tobias Lehmann: Evangelikal orientierte Schulen – geschlossene Systeme oder exemplarische Bildungsräume?, Münster 2015; Susanne Roßkopf: Der Aufstand der Konservativen. Die Bekenntnisschulbewegung im Kontext der Bildungsreformen der 70er Jahre, 2016.
  2. Vgl. auch: Immer mehr Kinder an evangelikalen Schulen, in: idea-spektrum 42 (2017), 28-31. Für das Schuljahr 2017/18 nennt idea-spektrum die Zahl von 42148 Schülerinnen und Schülern.
  3. Vgl. Lehmann: Evangelikal orientierte Schulen (s. Fußnote 1), 304f.
  4. Vgl. Matthias Roser: „Schöpfungswissenschaft“ an evangelikalen Bekenntnisschulen. Eine religionspädagogische Analyse, Nordhausen 2018, 38-45, 48f.
  5. Zur Freien Evangelischen Schule Bremen und ihrer Genese vgl. Roßkopf: Der Aufstand der Konservativen (s. Fußnote 1), 408-433.
  6. BVerG C 3.91 (19.2.1991), 4.
  7. Ebd.
  8. Klaus Kretschmann: Bekenntnisschulen als Ersatzschulen? Urteil des Hamburgischen OVG vom 26.11.1990, in: Schulverwaltung, Ausgabe Nordrhein-Westfalen, April 1991, 110-112, 111.
  9. Ebd.
  10. OVG Bf III 27/90.
  11. Gesch.Z OBA. 2 R 339.91.
  12. Gesch.Z OBA. 2 R 339.91, 2.
  13. Ebd.
  14. BVerG C 3.91 (19.02.1991).
  15. Ebd.
  16. Die nachhaltigen Konsequenzen des Urteils lassen sich bereits mit einem Blick auf die Gesamtschülerzahlen erschließen. Wurden 1990 noch 3200 Schüler an 21 evangelikalen Privatschulen unterrichtet, so waren es 1996 bereits 11 000 Schüler an 43 Schulen. Zur statistischen Entwicklung im Zeitraum von 1988 bis 2017 vgl. Roser: „Schöpfungswissenschaft“ (s. Fußnote 4), 47.
  17. Im Schuljahr 2016/17 wurden ca. 28 000 Schüler an VEBS-Schulen unterrichtet (eigene Berechnung).
  18. Vgl. Roser: „Schöpfungswissenschaft“ (s. Fußnote 4), 60-63.
  19. www.vebs-online.com/home/home.html  (Abruf: 21.7.2016).
  20. Die Artikulation der aggregierten Interessen des Verbandes erfolgt sehr häufig – rhetorisch geschickt indirekt formuliert – über die zustimmende Zitation von Voten kommunal-, landes- und bundespolitischer Prominenz.
  21. Homepage des VEBS (s. Fußnote 19).
  22. www.vebs-online.com/home/christliche-schulen/profil-und-ziele.html  (Abruf: 29.4.2019).
  23. Satzung (2014).
  24. Ebd.
  25. Neben Mitgliedsschulen gibt es auch befreundete Schulen. Die Teilnahme an den Veranstaltungen des VEBS ist nicht an eine Mitgliedschaft gebunden.
  26. Satzung (2014).
  27. Das Bundesverwaltungsamt nennt folgende Aufnahmezahlen von Spätaussiedlern aus der ehemaligen UDSSR. 1989: 98 134; 1990: 147 950; 1991: 147 333; 1992: 195 629; 1993: 207 347; 1994: 213 214; 1995: 209 409; 1996: 172 181; 1997: 131 895; 1998: 101 550; 1999: 103 599; www.bva.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BVA/Staatsangehörigkeit/Aussiedler/Statistik/Zeitreihe_1950_2016.pdf?__blob=publicationFile&v=6  (Abruf: 7.1.2018).
  28. Vgl. Sonja Luehrmann: Abstract Secularism Soviet Style, 2009, www.researchgate.net/publication/289910715_Secularism_Soviet_style_Teaching_atheism_and_religion_in_a_Volga_Republic  (Abruf: 11.5.2019); dies.: Secularism Soviet Style. Teaching Atheism and Religion in a Volga Republic, Bloomington/Indiana 2011.
  29. Vgl. hierzu die eindrückliche Studie von Regina Löneke: Die „Hiesigen“ und die „Unsrigen“. Werteverständnis mennonitischer Aussiedlerfamilien aus Dörfern der Region Orenburg/Ural, Marburg 2000; Olga Neufeld: Fromm in der fremden Heimat. Identitätssuche bei russlanddeutschen Baptisten in Folge der Konfrontation mit der Dominanzkultur Deutschland, Frankfurt a. M. 2007.
  30. Die Aktivierungsleistung Hertels erfolgte – strategisch durchdacht vorgenommen – zum einen über die Gründung des „Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte“ in Detmold, zum anderen durch kleine Beiträge in Gemeindezeitschriften wie z. B., im Gemeindemagazin „Jünger und Meister“, das vom Bund Taufgesinnter Gemeinden herausgegeben wird. Vgl. z. B. Otto Hertel: Unsere Bekenntnisschulen, in: Jünger und Meister 2, 1990, 24-26; Unser Museum in Detmold, in: Jünger und Meister 1, 1996, 24-26; Die jungen Aussiedler, in: Mennonitisches Jahrbuch 1990, 91-94. Eine nicht zu unterschätzende Förderung erfuhren die von Hertel angestoßenen Schulgründungsinitiativen durch das ihm vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau verliehene Bundesverdienstkreuz.
  31. Vgl. Landesbeirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen (Hg,): Rundschreiben 2/2016, 41. Folgende Zitate ebd.