Helmut Zander

„Europäische“ Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung - Konsequenzen im interkulturellen Vergleich

Verlag de Gruyter, Berlin / Boston 2016, 642 Seiten, 99,95 Euro.

Der Religionswissenschaftler und Wissenschaftshistoriker Helmut Zander ist im Blick auf die Erforschung von unterschiedlichen Weltanschauungen kein Unbekannter: Er hat schon viele beeindruckende Darstellungen zu Reinkarnationsvorstellungen in Europa und zur Anthroposophie publiziert.

Die vorliegende, rund 650 Seiten umfassende Studie wendet sich einem Thema zu, das von dem Religionssoziologen Peter L. Berger unter dem Titel „Der Zwang zur Häresie“ aufgeworfen wurde. Wie der Autor schreibt, überprüft er, zu welchen Konsequenzen die Zugehörigkeit zu einer Religion durch Entscheidung statt Geburt führt (3). Er möchte „strukturelle Eigenheiten“ der europäischen Religionsgeschichte identifizieren (6). So erklärt er auch, was er unter einer dezidiert „europäischen“ Religionsgeschichte verstehen möchte: „die Geschichte von Traditionen, die in das heutige, größtenteils von der Europäischen Union abgedeckte Europa eingeflossen sind“ (15). Die „Spannung zwischen einer interessierten und normativen Position“ ist ihm dabei bewusst.

Das Opus gliedert sich in drei größere Kapitel. Im ersten trifft der Autor „Festlegungen“ (3-91), in denen er seine konzeptionellen Vorentscheidungen darlegt und „religionsgeschichtliche Stationen“ im Blick auf die Beziehungsgeschichte von Judentum, Christentum, Buddhismus und Islam markiert. Zusätzlich geht er in diesem Kapitel auf die „religiöse Tiefengrundierung des okzidentalen Christentums“ in Zeiten von „Mittelalter“ und Globalisierung ein.

Das zweite Kapitel, der eigentliche Hauptteil der Studie, widmet sich dem „Systemwechsel“ (95-351). Darin reflektiert er Formen der Entscheidung in zoroastrischer Perspektive, in der mediterranen Antike, in der paganen Welt, in Judentum und Christentum. Anschließend beleuchtet er „Konsequenzen entscheidungsbasierter Zugehörigkeit“ und unterzieht Judentum, Christentum, Islam, „Hinduismus“ und Buddhismus einem „eurozentrischen Vergleich“ (148ff). Ein wichtiger Zwischenbefund lautet:

„Eine realisierte Entscheidung für eine neue Religion, die mit einer Entscheidung gegen die angestammte Ethnie verbunden ist, war ausgesprochen risikoreich und blieb historisch selten“ (350).

Einen entscheidenden Faktor erblickt der Verfasser in der Durchsetzung des Sozialstaates, der die Voraussetzung für die Entscheidungsfreiheit und die religiöse Autonomie des Bürgers schaffte.

Im abschließenden dritten Kapitel fragt Zander nach den sich daraus ergebenden „Konsequenzen“ (353-539). Dabei konzentriert er sich exemplarisch auf vier Bereiche: die Entstehung der Schrift bzw. eines Kanons als Voraussetzung und Konsequenz von Vergemeinschaftung, die okzidentale „Stadt“, die Universität und die Naturforschung. Die Schriftlichkeit und die Kanonizität einer Schriftensammlung unterliegt – so Zander – verschiedenen sozialen Entstehungsbedingungen. Deshalb will er den Kanonbegriff innerhalb einer „europäischen“ Religionsgeschichte grundsätzlich problematisieren. So konstatiert er nüchtern:

„Die heute von vielen Theologen und Religionswissenschaftlern postulierte Zentralstellung ‚der Schrift‘ dürfte weder der Praxis der meisten Mitglieder noch den vielfältigen Positionen zur Relevanz des Schriftgebrauches entsprechen“ (368f).

Innerhalb des Judentums lassen sich aus historischer Sicht mehrere unterschiedliche Kanonisierungsprozesse beobachten, die wohl um 200 n. Chr. mit einer „Verfestigung des Schriftenbestandes“ zum Abschluss kamen. Beim Kanonisierungsprozess des Christentums ist von „Wechselwirkungen zwischen Gottesdienstpraxis und Schriften“ auszugehen. Mit anderen Worten: Die Schriften beeinflussen die Praxis – und umgekehrt (379). Die in der Esoterik immer wieder verbreitete Fama, wonach ein christliches Konzil einen für alle verbindlichen Kanon definiert habe, lässt sich nicht halten. Für den Kanonisierungsprozess dürfte – so Zander – vor allem ein den religiösen Medienprozess veränderndes Geschehen eine Rolle gespielt haben: Das Buch ersetzt die Textrolle. Sog. Kodizes gewinnen an Bedeutung: „Gebundene Bücher wurden ein Kennzeichen der christlichen Texttradierung“ (383). Die Verschriftlichung wird zum entscheidenden Faktor für die Herausbildung einer christlichen Identität. Gleichwohl blieb das christliche Schriftenkorpus offen. Die eigentliche Kanonisierung der Schrift fand erst in der Frühen Neuzeit in der lateinischen Kirche statt. Mit den neuzeitlichen Spiritualisten wurde die Diskussion um die Schriftautorität als „papiernen Papst“ neu eröffnet. Aktualität gewann sie durch die Niederschriften Emanuel Swedenborgs, womit eine „evolutionäre Offenbarungsgeschichte“ einsetzte (401). Im 19. Jahrhundert erreichte sie mit dem Neuoffenbarer Jakob Lorber, dem Neureligionsgründer Joseph Smith und dem Esoteriker Rudolf Steiner ihren Höhepunkt. Konfessionelle Unterschiede begannen sich abzuzeichnen: Während Protestanten an der Suffizienz der Schrift festhielten, kam es im Katholizismus zur Auffassung ihrer Insuffizienz. Das Anfertigen von Übersetzungen wird zu einem wichtigen Charakteristikum des Christentums (403). Die Textkritik führte auch zu einem Bewusstsein der Relativierung der eigenen Religion und war Ausdruck einer Philologisierung der Bibelinterpretation (423).

Im Islam war der Koran zunächst nur ein relatives Zentrum. Im Mittelpunkt religiöser Erfahrung stand das gottesdienstliche Hören. Schrift und Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft waren früh eng aufeinander bezogen. Kanonisierung und Gruppenbildung gingen Hand in Hand. Es ist davon auszugehen, dass die Korantexte in einem kommunikativen Prozess Dispute zwischen Juden, Christen und den späteren Muslimen dokumentieren (430). Nach Mohammeds Tod systematisierten seine Erben und Nachfolger den Textbestand. Später setzte eine starke Sakralisierung des Koran ein.

Auch für den Buddhismus erblickt der Verfasser eine „reiche Schrifttradition“, die jedoch erst viel später nach einer langen mündlichen Überlieferung einsetzte und durch Kulturkontakte möglich wurde (439). Angesichts europäischer Kanonisierungsvorstellungen wurde durch okzidentale Missionare im 19. Jahrhundert ein buddhistischer Kanon konstruiert. Theosophen erhoben ihre Übersetzung der Bhagavadgita in einen kanonischen Rang „des Hinduismus“. Auch für buddhistische Schriften nutzte man die christliche Semantik, um die indischen Schriften „quasi-biblisch“ zu systematisieren. Zander weist bei der vedischen Tradition auf die Probleme zeitlicher Datierungen einzelner Schriften wegen ihrer langen mündlichen Überlieferungsgeschichte hin.

Buddhas Reden wurden zunächst oral tradiert, der Orden (Sangha) sorgte in unterschiedlichen Tradentengruppen für die Überlieferung von Predigten und Lehrreden Buddhas. Zander geht bei seiner kursorischen Analyse auch auf die Schriftensammlung im Jainismus, bei Zoroaster und bei der Sikh-Gemeinschaft ein. Schließlich resümiert er: Eine abgeschlossene Sammlung heiliger Texte hat im Buddhismus nie existiert. Der Kanon war offen, aber es gab Sammlungsprozesse verbindlicher Schriften (458). Der Kanon diente demzufolge als Sicherung der Gruppenidentität und zur Abgrenzung.

In einem weiteren Schritt analysiert Zander die Konsequenzen, die sich aus der Konzeption einer Vergemeinschaftung durch Entscheidung für die politische Gemeinschaft ergeben. Er verdeutlicht dies am Beispiel der Themenbereiche Stadt (463ff), Universität (485ff) und neuzeitliche Naturforschung (513ff) in der okzidentalen und arabisch-islamischen Welt. Ab dem 15. Jahrhundert begannen sich in „Europa“ Hochschulen und Akademien zunehmend neben der Universität zu etablieren. In der Neuzeit, so die abschließende Beobachtung, kam es zu erheblichen Wissens- und Praxisdifferenzen in der lateinischen und arabischen Welt (537).

Die Lektüre dieses Werkes ist keine leichte Kost. Aber sie lohnt sich in jedem Fall, bekommt der Leser doch fundierte Einblicke in Kanonisierungsprozesse in den Religionen und auch in wissenshistorische Zusammenhänge. Als besonders hilfreich erweist sich das beigefügte Namens- und Sachregister. Dieser Studie kommt insgesamt zugute, dass ihr Verfasser das Thema multiperspektivisch bearbeitet. Mit welch hoher Akribie dies geschieht, unterstreicht allein schon das 80 Seiten umfassende Literaturverzeichnis.


Matthias Pöhlmann, München, 07.05.2020