Jens-Oliver Mohr

Erwiderung auf einen Artikel zu restaurativen Tendenzen in Adventgemeinden

Jens-Oliver Mohr, Referent der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten (STA) für zwischenkirchliche Beziehungen, hat der Materialdienst-Redaktion eine Entgegnung zukommen lassen, die sich auf den von André Bohnet verfassten Beitrag über die STA „Zwischen ökumenischer Öffnung und Restauration“ in der Mai-Ausgabe 2016 des Materialdienstes bezieht (164-171). Wir dokumentieren Auszüge der Entgegnung. In einer der nächsten Ausgaben des MD wird Reinhard Hempelmann eine Stellungnahme zu der Entgegnung und zu neueren Entwicklungen innerhalb des Adventismus abgeben.

Hier die Auszüge der Entgegnung:

Es irritiert die Einseitigkeit, mit der ein Artikel eines ehemaligen Adventisten unkommentiert abgedruckt wird. Letztlich bezieht sich meine Kritik auf die Methodik und Bewertung unserer Freikirche seitens des Verfassers.

Auch wenn der Autor die historischen Fakten über unsere Freikirche weitestgehend korrekt dargestellt hat, zeichnet sich sein Artikel durch mangelhafte taxierende Redlichkeit aus, die sich in nicht erkennbarer Methodologie, diskriminierenden terminologischen Setzungen, Unterstellungen und negativen Zuschreibungen, Fehlgewichtung von Partikularphänomenen sowie in mangelnder Selbstkritik zeigt. Dies soll im Folgenden begründet werden.

1. Nicht erkennbare Methodologie

Das Hauptproblem des Artikels stellt die Bewertung der STA dar. Der Autor kommt zu dem Schluss: „Die STA sind keinesfalls generell uneingeschränkt als ‚normale‘ Freikirche einzuschätzen“ (170). Die Frage, nach welchem Maßstab der Autor bemisst, was eine „normale Freikirche“ ist und wann eine Kirche diesen Maßstab erfüllt, wird in diesem Artikel allerdings weder gestellt noch beantwortet. Es ist nicht erkennbar, nach welchem konfessionskundlichen Analysemodell der Autor arbeitet. Das gesamte Ergebnis seiner Bewertung bleibt so ohne objektiv nachvollziehbare Grundlage.

Einzig die Terminologie der „Öffnung“ wird mehrfach verwendet („ökumenische Öffnung“, „Öffnungsprozess“, 164, 167, 168, 170). André Bohnet schreibt: „Wo Adventgemeinden, ganze Verbände/Vereinigungen oder auch nur einzelne Adventisten … die Bereitschaft zum Dialog und zur Relativierung des eigenen Exklusivitätsanspruches signalisieren, da sollte ihnen kein Stein in den Weg gelegt werden“ (171). Die Freikirche der STA vertritt keinen kirchlichen „Exklusivitätsanspruch“: „Die weltweite Gemeinde setzt sich zusammen aus allen, die wahrhaft an Christus glauben“, heißt es in Punkt Nr. 13 der Glaubensüberzeugungen der STA. Der Autor kann mit „Relativierung“ sicherlich nicht meinen, dass eine Kirche nur dann eine „normale Freikirche“ sei, wenn sie bereit ist, ihr spezifisches konfessionelles Profil einzuebnen – sonst würde er nicht von „Schätzen in den adventistischen Sonderlehren“ (171) sprechen.

Die Frage nach dem Beurteilungsmaßstab einer „normalen Kirche“ bleibt also unbeantwortet. Ist es die Ausrichtung an der Bibel - dem Wort Gottes als „norma normans“ aller kirchlichen Gestalt und Lehre? Genügt hier das Verständnis der Confessio Augustana einer rechten Verkündigung des Wortes und eines angemessenen Spendens der Sakramente? Wie partikularistisch darf der Blick auf eine Weltkirche überhaupt sein? Soll vom Ganzen auf die Teile geschlossen werden oder von Teilphänomenen auf das Ganze? Welche Rolle spielen quantitative Verhältnisse bei der Beurteilung von Randphänomenen? Welchen Lebensäußerungen und welcher Gestalt von Kirche wird welches Gewicht beigemessen? Eine methodische Reflexion seines Vorgehens anhand dieser Fragen sucht man beim Autor vergeblich. Allein dieser Mangel gibt Anlass zu Zweifel, ob es dem Autor generell um eine objektive und fachgemäße konfessionskundliche Einordnung der Freikirche der STA ging.

2. Diskriminierende terminologische Setzungen

„Der beschriebene Öffnungsprozess der STA in Deutschland rechtfertigt es auf der einen Seite, von einer ‚Entsektung‘ zu sprechen“, schreibt der Autor (170). Damit wird implizit ausgedrückt, dass die STA in Deutschland eine „Sekte“ waren, bzw. es zum Teil immer noch sind. Die Wahl von Begriffen wie „Sekte“ bzw. „Entsektung“ in Verbindung mit der Freikirche ist eine diskriminierende Setzung. Diese Begriffe auf evangelische Mitchristen anzuwenden ohne den Beurteilungsmaßstab deutlich zu machen (s. o.) zeugt eben nicht davon, dass „tatsächlich ein Gespräch auf Augenhöhe stattfindet, dem Gegenüber das Christsein nicht abgesprochen oder es infrage gestellt wird“, wie der Autor es selbst fordert (171).

Der Autor unterstellt der adventistischen Kirchenleitung in Baden-Württemberg (BWV) ferner einen „starken Wortfundamentalismus“ (170), ohne zu definieren, was er damit meint (in der entsprechenden Fußnote wird lediglich auf einen Artikel aus der Feder von Reinhard Hempelmann verwiesen). Zuschreibungen wie „fundamentalistisch“ oder „Fundamentalist“ gehören ebenfalls in die Reihe jener Kampfbegriffe, die geeignet sind, Andersdenkende zu diskreditieren, ohne dass man sich mit ihren Argumenten auseinander setzen müsste. Einer „Augenhöhe“ oder einem ökumenischen „par cum pari“ entspricht das nicht.

3. Unterstellungen und negative Zuschreibungen

„Der Kontakt zu anderen Christen wird kaum gesucht, oder andere Kirchen werden gar als antichristlich diffamiert“ (170). Welche Belege bringt der Autor für diese Unterstellung, die an die Adresse der STA in Baden-Württemberg gerichtet ist, bei? Die auf Seite 169 zitierte Meinungsäußerung eines ehemaligen Redakteurs des BWV-Mitteilungsblattes, der selbst weder Mitglied der Kirchenleitung ist, noch auf dem Gebiet der BWV wohnt, dürfte für eine pauschale negative Zuschreibung dieser Art kaum ausreichen. In meiner Zeit als Pastor der BWV habe ich beispielsweise in mehreren Städten Kontakt mit anderen Christen (darunter andere Pastoren und Pfarrer, ACK, ev. Allianz) gesucht und bei unterschiedlichen gottesdienstlichen Veranstaltungen mitgewirkt (in evangelischen, methodistischen und baptistischen Kirchen) – dabei war und bin ich in dieser Hinsicht sicherlich nicht der Einzige unter meinen Kollegen. Abgesehen davon hält die BWV einen Beobachterstatus in der ACK Baden-Württemberg.

„Darüber hinaus ist zu beobachten, dass innerhalb der BWV auch nach innen … sehr einengende Vorschriften hinsichtlich der Lebensgestaltung … gemacht und diese … auch eingefordert werden“ (170). Auch diese Aussagen enthalten Unterstellungen und negative Zuschreibungen. Eine Freikirche wie die STA zeichnet sich, im Gegensatz etwa zu evangelischen Landeskirchen, dadurch aus, dass eine Mitgliedschaft ausschließlich durch den freiwilligen Eintritt eines mündig Glaubenden möglich ist. Wer von „einengenden Vorschriften hinsichtlich der Lebensgestaltung“ für die Mitglieder der STA spricht, verkennt den Freiwilligkeitscharakter eines an biblischen Prinzipien orientierten Lebensstils dieser Freikirche.

„Das stark dualistische Weltbild führt zu einem entsprechend angstbesetzten Gottesbild, das der psychischen Gesundheit der Mitglieder kaum zuträglich sein dürfte“ (170). Mit dieser deklassierenden Aussage wird eine ganze kirchliche Verwaltungseinheit (BWV) ohne statistisch belastbares Datenmaterial unter den Verdacht gestellt, dass sie bei ihren Mitgliedern ein krankmachendes „angstbesetztes Gottesbild“ evoziere. Diese Negativ-Zuschreibung wird allenfalls vor dem Hintergrund der persönlichen Erfahrung des Autors etwas verständlicher. Vielleicht hat der Autor selbst solche Erfahrungen gemacht. Oder er kennt Adventisten, deren Glaube zu einem „angstbesetzten Gottesbild“ geführt hat. Selbst wenn sich, entgegen der erklärten Intention des adventistischen Glaubens, solche Fälle finden ließen, wäre dies, so traurig jedes Einzelschicksal auch sein mag, ein bedauerliches Problem in fast jeder Glaubensgemeinschaft. Was allerdings eine derartige pauschale Unterstellung keinesfalls rechtfertigt.

4. Fehlgewichtung von allgemein anzutreffenden Partikularphänomenen

Die vom Autor monierte und seiner Bewertung zugrunde liegende „innere Diskrepanz zwischen dem Streben nach Anerkennung und Öffnung einerseits und den Konservierungs- bzw. Restaurationstendenzen andererseits“ (164) lässt sich nicht nur im Adventismus beobachten, sondern wahrscheinlich auch in jeder anderen Glaubensgemeinschaft, die sich im Austausch mit der Gesellschaft befindet, deren Teil sie ist. Dieses Phänomen ist also weder neu (es findet sich bereits im Alten Testament), noch bleibt es christlichen Kirchen in der Postmoderne generell erspart. Bezüglich solcher Tendenzen innerhalb der evangelischen Landeskirchen in Deutschland braucht nur an die Bekenntnisbewegungen (Konferenz Bekennender Gemeinschaften in den Evangelischen Kirchen Deutschlands) erinnert zu werden. Der em. Tübinger Professor für Missionswissenschaft und Ökumenische Theologie, Peter Beyerhaus, spricht in einer neueren Publikation sogar vom „Glaubenskampf der Bekennenden Evangelischen Gemeinschaften in Deutschland“, deren Ziel es war, „der modernistischen Irreführung der Gemeinden entgegenzutreten“. Dieses Vokabular dürfte in die gleiche Kategorie fallen, welcher der Autor die Bezeichnung „Konservierungs- bzw. Restaurationstendenzen“ gibt.

Es stellt sich weiter die Frage, worin der heuristische Wert von Beobachtungen liegt, die unterschiedliche Entitäten (Weltkirchenleitung, deutsche Verbände) im Hinblick auf „Öffnung“ beschreiben, dann aber bei einer kleinen Einheit (Baden-Württembergische Vereinigung, BWV) stehen bleiben, um dort restaurative Tendenzen zu erkennen, die dann überbewertet werden. Auf S. 168-170 werden aus Sicht des Autors Fehlentwicklungen in der BWV hervorgehoben –sie bleibt die einzige namentlich genannte Vereinigung. Wie entgeht der Autor einer Fehlgewichtung, wenn er geografischen oder theologischen Partikularphänomenen in einer Kirche besondere Aufmerksamkeit schenkt? Es wäre beispielsweise genauso unredlich, von der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands, deren Synode kürzlich beschlossen hat, künftig keine Frauen mehr als Pfarrerinnen zu ordinieren, einseitig wertend auf den Lutherischen Weltbund zu schließen; oder von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens auf die EKD. Unredlich wäre auch, von Pastor Olaf Latzel einseitig wertend auf die Bremische Evangelische Kirche zu schließen.

5. Mangelnde Selbstkritik

Der Autor beachtet bei seiner Kritik der STA in keiner Weise, dass sich „ökumenische Öffnungsprozesse“ bei vielen Kirchen nur langsam durchgesetzt haben. So wurde die Leuenberger Konkordie erst 1973 unterzeichnet: Damit haben die reformatorischen Kirchen Europas zur ökumenischen Einheit gefunden – nach mehreren Jahrhunderten der Trennung. In Deutschland waren es auch nicht die evangelischen Landeskirchen, die den Prozess der zwischenkirchlichen Ökumene auf den Weg gebracht haben – im Gegenteil: In den Anfängen der ökumenischen Bewegung in Deutschland engagierten sich kaum Kirchenleiter und Kirchenbehörden dafür. Die treibenden Kräfte waren überwiegend unabhängige akademische Lehrer und Vereinsgeistliche. Auch Pietismus, Erweckungsbewegung und die Bildung der Gemeinschaftsbewegung hatten Einfluss auf die ökumenische Entwicklung Deutschlands. Allerdings drohte ihnen nicht selten Ausgrenzung oder gar Unterdrückung seitens der Landeskirchen. Im Hinblick darauf (und auf andere Punkte, s. o.) lässt der Verfasser als Pfarrer der württembergischen Landeskirche grundsätzlich Selbstkritik vermissen, d. h. es wird nicht erkennbar, dass er bereit ist, die Prinzipien seiner Kritik an den STA auch auf seine eigene Kirche (bzw. die evangelischen Landeskirchen generell) anzuwenden.

Ist mit dem vom Verfasser kritisierten „Wortfundamentalismus“ (170) vielleicht der „Biblizismus“ gemeint, den die STA nach Ansicht des Autors mit konservativ-evangelikalen Gruppen gemeinsam haben? (166). Etwa die Hälfte der Evangelikalen in Deutschland sind Mitglieder einer evangelischen Landeskirche. Dies gilt vor allem für den Pietismus in Baden-Württemberg. Wäre dann die württembergische Landeskirche nach der Logik des Autors ebenfalls keine „generell uneingeschränkt normale Kirche“?

Ferner impliziert die Verwendung des Begriffs „Wortfundamentalismus“, dass es auf der anderen Seite auch einen „Wortrelativismus“ gibt. Also eine Haltung, die das Wort Gottes in dem Maße relativiert, dass es seine normative Prägekraft in Glaubens- und Lebensfragen verliert. Nach der Logik des Autors müsste sich diese Haltung auf das „normale Kirche“-Sein ebenfalls negativ auswirken.

Nun gäbe es aber gerade in dieser Hinsicht einige Beispiele in evangelischen Landeskirchen: Ich erwähne nur die Debatte zu Ostern 2016 über die Äußerungen von Landesbischof Gerhard Ulrich (Schwerin) zur Auferstehung Jesu von den Toten. Dabei ist das aktuell entzweiende Thema der Trauung homosexueller Paare noch gar nicht berührt. Sowohl von evangelischer wie auch von römisch-katholischer und orthodoxer Seite ist zu hören, dass diese Beschlusslage bzw. Praxis einiger evangelischer Landeskirchen in Deutschland in ökumenischer Hinsicht eine Belastung bzw. eine „riesige Zerreißprobe“ darstellt. Müsste man daraus im Sinne der Logik des Autors nicht den Schluss ziehen, dass auch gewisse evangelische Landeskirchen „keinesfalls generell uneingeschränkt als normale Kirchen“ einzuschätzen sind, weil sie einen „starken Wortrelativismus“ vertreten und das ökumenische Miteinander massiv gefährden?


Jens-Oliver Mohr, Ostfildern