Islam

Erklärung von Marrakesch: Muslime bekräftigen die Charta von Medina

Am 27. Januar 2016 wurde die „Erklärung von Marrakesch“ (Marrakesh Declaration)1 veröffentlicht. Über 250 muslimische religiöse Autoritäten, Gelehrte und Staatsoberhäupter bzw. Regierungsmitglieder aus der arabischen Welt, aber auch aus Iran, Pakistan und Indonesien – Sunniten und Schiiten – waren in Marrakesch (Marokko) zusammengekommen, um die „Charta von Medina“ des Propheten Muhammad aus der Zeit nach 622 n. Chr. zu bekräftigen.

Das Treffen, zu dem von der marokkanischen Regierung eingeladen worden war, markierte das Ende eines längeren Konsultationsprozesses und stand unter der Leitung des achtzigjährigen Scheichs Abdallah ibn Bayyah, Präsident des „Forum for Promoting Peace in Muslim Societies“ (Vereinigte Arabische Emirate), Ko-Moderator von Religions for Peace und Mitunterzeichner des offenen Briefes von 138 muslimischen Gelehrten an die Christenheit „Ein gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch“ (A Common Word) von 2007.2 Ibn Bayyah lehrt an der König-Abdulaziz-Universität im saudi-arabischen Dschidda (Wikipedia), war Vizepräsident der „International Union of Muslim Scholars“ (IUMS, Vorsitz: Yusuf al-Qaradawi) und ist Mitglied des „European Council for Fatwa and Research“ (Vorsitz: Yusuf al-Qaradawi). Bei dem Anlass waren auch rund fünfzig nichtmuslimische Gäste anwesend, darunter neben evangelikalen Christen wie dem texanischen Pastor Bob Roberts (Northwood Church) und Rick Love (Peace Catalyst International) auch jüdische und ezidische Vertreter.

In den fast durchweg positiven Reaktionen – etwa des Ökumenischen Rates der Kirchen, der Evangelischen Allianz und verschiedener Dialoginitiativen – wird die Erklärung als „bahnbrechend“ begrüßt: „Muslimische Wissenschaftler fordern Religionsfreiheit für alle“, titelte die Evangelische Allianz. Das Dokument rufe zur Religionsfreiheit für nichtmuslimische Minderheiten in mehrheitlich islamischen Ländern auf (Christianity Today). Gewalt könne nicht im Namen des Islam angewendet werden. Die muslimischen Führungspersönlichkeiten zeigten, dass sie an eine gemeinsame Zukunft mit anderen Religionen sowie an gleiche Rechte und Respekt glaubten; die Charta von Medina habe die Religionsfreiheit für alle Menschen garantiert, so der Weltkirchenrat laut epd.

Die knappe englische Fassung sowie die umfangreichere arabische Fassung verdienen eine gründliche Lektüre und Würdigung, was im Rahmen dieser Information nicht geleistet werden kann. Und ganz ohne Zweifel kann und muss betont werden, dass alles, was dazu dient, dass dominante gesellschaftliche Gruppen mit Respekt und Anerkennung auf religiöse Minderheiten zugehen, zu begrüßen ist und in die Wege geleitet werden muss. In einem Klima der Furcht und der (von verschiedenen Seiten) häufig verzerrten Wahrnehmungen ist es von enormer Bedeutung, auf positive Entwicklungen und differenzierte Sichtweisen mit Nachdruck hinzuweisen und für solche Haltungen zu werben.

Die Erklärung von Marrakesch kann jedoch nur der Anfang eines Dialogs, einer Auseinandersetzung sein. Es sind zwei zentrale Aspekte, die dabei leitend sein müssen: einmal die Einsicht, dass die sogenannte Charta von Medina, die im Mittelpunkt des Interesses der Verfasser steht,3 nicht von Religionsfreiheit spricht, wie sie in demokratisch verfassten Rechtsstaaten verstanden wird; zum anderen – und davon nicht zu lösen – stellt sich die Frage, welche Konzepte hinter „Recht“, „gerechte Behandlung“, „Gleichheit vor dem Gesetz“ und den zu wahrenden „Freiheiten“ stehen. Die Erklärung vermeidet jede Konkretion, wie sich die Gelehrten die Anwendung der genannten Prinzipien in Kontexten wie etwa in Saudi-Arabien und den Golfstaaten, in Ägypten oder im Iran tatsächlich vorstellen (bzw. ob sie davon ausgehen, dass die Grundsätze dort im Wesentlichen in Geltung sind).

Die Charta, auch „Gemeindeordnung von Medina“ genannt (arab. sahifa), ist ein Bündnisvertrag aus der Frühzeit des Islam zwischen Muhammad bzw. den Muslimen und den Einwohnern von Yathrib/Medina über die Rechte und Pflichten aller Beteiligten, der von Muslimen häufig als schriftliche „Verfassung“, ja als „erster demokratischer Staatsvertrag“ gepriesen wird. Das große Vorbild für die vollkommene Verwirklichung einer auf islamischen Prinzipien gegründeten Gesellschaft ist in dieser Sicht das erste islamische Gemeinwesen in Medina unter der politischen und religiösen Führung des Propheten Muhammad von 622 n. Chr. bis zu dessen Tod 632. „Medina“ gilt – ohne große hermeneutische Umstände – als Modell einer gerechten Gesellschaftsordnung, in der die Rechte von Minderheiten gewahrt und Toleranz gegenüber Andersgläubigen praktiziert worden seien. Die Medina-Charta4, deren bekannteste Version in der (späten) Prophetenbiografie des Ibn Hischam überliefert ist, ist allerdings keine grundsätzliche Äußerung Muhammads oder der frühen islamischen Gemeinde, viel eher eine Vereinbarung, die das Verhältnis der jungen muslimischen Gemeinde (aus Zugewanderten und medinensischen „Helfern“) zu den ortsansässigen Stämmen pragmatisch zu regeln sucht; ob und inwiefern Juden überhaupt einbezogen waren, ist zumindest fachlich umstritten.5 Wichtig ist, und genau dies bestätigt die Erklärung von Marrakesch aufs Neue, dass die Verhältnisse in Medina als ein (mehr oder weniger fiktives) Ideal gelten, von dem auch heute noch ein gesellschaftsgestaltender Anspruch abgeleitet wird. Medina steht für eine Gesellschaft unter islamischer Herrschaft, in der Juden und Christen die Rechte von „Schutzbefohlenen“ (Dhimmis) im Rahmen einer islamischen Rechtsordnung haben und alle einschlägigen Rechtsfälle „Gott und Muhammad, seinem Gesandten“ vorzulegen sind.6

Ist dieser Hintergrund maßgeblich für das Verständnis der Erklärung von Marrakesch – und daran lässt das Dokument selbst keinen Zweifel –, dann leiten sich die Prinzipien des gesellschaftlichen Miteinanders aus der Scharia ab und aktualisieren damit das Konzept des Dhimmi-Status für Christen und Juden. Es geht von vornherein um die Darlegung der „Rechte von Minderheiten in mehrheitlich islamischen Ländern“ aus den islamischen Quellen, so der Hauptfokus des Schreibens.

Der muslimische Reformdenker Farid Esack (Johannesburg) äußerte sich daher skeptisch zur Konferenz. Es bedürfe tiefgreifender politischer und theologischer Reformen, um das Verhältnis von Muslimen zu nichtmuslimischen Minderheiten wirklich zu verbessern. Betroffenheitsrhetorik helfe nicht gegen massive Marginalisierung und Verfolgung. Der in den USA lehrende Kopte Ayman S. Ibrahim beklagt, dass derlei Worten häufig keine Taten folgten. Das Dokument sei wohl bemerkenswert, die Frage sei jedoch, ob es zum konkreten Handeln führe. So gebe es in Marokko Untergrundkirchen, die keine Chance auf Anerkennung hätten, da nur Muslime und Juden gesetzlich anerkannt seien; offiziell gebe es keine Christen.

Es kann am Ende nicht unerwähnt bleiben, dass die „Charta“ den Juden in Medina nicht geholfen hat. Jedenfalls wurden die Stämme Banu Qainuqa‘, Banu Nadir und Banu Quraiza innerhalb weniger Jahre vertrieben und/oder hingerichtet. Ohne jeglichen Kommentar zu diesen Vorgängen im unmittelbaren historischen Kontext der Charta macht sich eine so bedeutende Zusammenkunft wie die von Marrakesch im 21. Jahrhundert unglaubwürdig. Oder sie will richtig verstanden werden – was eine ganz andere Dimension des Dialogs auftun würde, von der bisher in den westlichen Rezeptionen kaum etwas wahrgenommen wird.

Werden Christen in Algerien, Mauretanien oder Saudi-Arabien anerkannt werden? Werden sie Kirchen bauen und ihre Religion frei ausüben dürfen? Wird Entsprechendes mutatis mutandis z. B. für Bahai, Eziden, Buddhisten und Atheisten gelten? An der Bemühung, sich diesen Fragen zu stellen, wird der Wert der Erklärung zu messen sein.

Friedmann Eißler


Anmerkungen

1 www.marrakeshdeclaration.org.
2 Vgl. Friedmann Eißler (Hg.), MuslimischeEinladung zum Dialog. Dokumentation zum Brief der 138 Gelehrten („A Common Word“), EZW-Texte 202, Berlin 2009.
3 Mit der Erwähnung 1400 Jahre Promulgation der Charta und der Betonung, dass es um die Bekräftigung der Prinzipien der Charta geht, stellt sich die Erklärung von Marrakesch insgesamt als Dokument zur Feier dieses „Jubiläums“ dar.
4 Vgl. zum Vertrag von Medina Moshe Gil, The Constitution of Medina, in: ders., Jews in Islamic Countries in the Middle Ages, Leiden 2004, 21-45; Michael Lecker, The „Constitution of Medina“. Muhammad’s First Legal Document, Studies in Late Antiquity and Early Islam 23, Princeton 2004; Tilman Nagel, Mohammed. Leben und Legende, München 2008, 342-345; Günter Schaller, Die „Gemeindeordnung von Medina“ – Darstellung eines politischen Instrumentes. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Fundamentalismus-Diskussion im Islam, Inaugural-Dissertation, Augsburg 1985.
5 Das Abkommen dient „der Festigung der Gemeinschaft der unter dem Banner des Propheten Kämpfenden“ und schließt dazu die jüdischen Mitglieder der Sippen ein, „deren Muslime sich Mohammed zur Verfügung stellten, und nur auf diese Sippen sind die Bestimmungen zurechtgeschnitten“, so Tilman Nagel (s. vorherige Fußnote), 342.
6 Theologisch wie praktisch ist in dem Zusammenhang der bemerkenswerte Umstand von Bedeutung, dass die islamische Zeitrechnung nicht mit der Geburt des Propheten, sondern mit der „Verleiblichung“ des Islam in einem Gemeinwesen nach der Hidschra im Jahr 622 n. Chr., also gleichsam mit der „Staatwerdung“ und damit dem Anspruch auf Gesellschaftsgestaltung, beginnt.