Entweltlichung weiterdenken

Der Papst in Deutschland

Das Verhältnis von Kirche und Welt beschäftigte bereits Professor Ratzinger in Tübingen und Regensburg, später auch Kardinal Ratzinger. Es war auch ein heimliches Thema des Besuches von Papst Benedikt XVI. in Deutschland, der vom 22. bis 25. September 2011 stattfand und nach seinen eigenen Worten darauf abzielte, „Menschen zu begegnen und über Gott zu sprechen“.

Wie sollen die christlichen Kirchen den Weg zu den Menschen im 21. Jahrhundert finden, in einem europäischen Kontext, der durch zunehmende Religionsdistanz und einen fortschreitenden religiösen Pluralismus bestimmt ist? Mit welchen selbstkritischen Eingeständnissen, Initiativen und Stellungnahmen, mit welcher Agenda können sie dem Evangelium treu bleiben und zugleich im Heute ankommen? Wie kann jene Verschiedenheit zwischen den Kirchen überwunden werden, die trennenden und die kirchliche Gemeinschaft aufhebenden Charakter hat?

Jede Kirche ist genötigt, darauf ihre Antworten zu geben: durch Schwerpunktsetzungen, durch ungeschönte Analysen, durch öffentliche Reden kirchlicher Repräsentanten. Evangelische und römisch-katholische Antworten sind gleichermaßen vielstimmig und vielfältig geworden. Zu einfach wäre es, die Trennlinien mit den Chiffren evangelische Modernitätskonformität und katholische Modernitätsverweigerung zu beschreiben. Angesichts zunehmender Ausdifferenzierungsprozesse in den Konfessionen verlieren pauschale Zuordnungen ihre Plausibilität, auch wenn sie bis heute ihren heuristischen Wert haben.

Mit einer beeindruckenden, rechtsphilosophisch ausgerichteten Rede im Deutschen Bundestag wurden die politisch Verantwortlichen von Papst Benedikt an die Grundlagen des Rechts erinnert. „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.“

Die Begegnung mit den Menschen stand im Zentrum des Besuches: zuallererst mit katholischen Christen in Deutschland, aber auch mit Muslimen, mit Juden, mit evangelischen Christen, die in ökumenischer Hinsicht ernüchtert und enttäuscht wurden, obgleich die Begegnung mit den Vertreterinnen und Vertretern der EKD am symbolträchtigem Ort Erfurt ein wichtiges Zeichen darstellte, das im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 weiterentwickelt werden kann.

Vor allem die Papstrede im Konzerthaus in Freiburg, die unter der Zielsetzung der „Begegnung mit engagierten Katholiken aus Kirche und Gesellschaft“ stand, wurde in der Medienöffentlichkeit intensiv wahrgenommen und kritisch kommentiert. Das Verhältnis von Kirche und Welt stand hier ganz pointiert im Zentrum der Ausführungen des Papstes. Angesichts des Rückgangs religiöser Praxis und angesichts von Distanzierungsprozessen zahlreicher Getaufter vom kirchlichen Leben stellte der Papst die Kirche unter eine doppelte Aufgabe: Sie soll sich – in Aufnahme des neutestamentlichen Sprachgebrauchs – „entweltlichen“ und sich zugleich „immer wieder neu den Sorgen der Welt öffnen“. Der Begriff der Entweltlichung spielte eine wichtige Rolle u. a. in der Gnosisforschung von Hans Jonas, der Existentialphilosophie Martin Heideggers und der Existentialtheologie Rudolf Bultmanns. Für Papst Benedikt heißt Entweltlichung vor allem die Loslösung von fragwürdigen Verweltlichungen. Die Kirche darf ihre Weltdistanz nicht aufgeben. Sie darf sich in der Welt nicht einrichten, nicht „Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht geben als ihrer Berufung zur Offenheit“. In diesem Sinne ist Papst Benedikt ein Modernitätskritiker. In Freiburg hat er engagierte Katholiken dazu aufgerufen, Weltdistanz einzuhalten und am katholischen Ideal kompromisslos festzuhalten. Neu sind diese Akzente keineswegs. Sie sind verbunden mit kritischen Anmerkungen zu verbreiteten Interpretationen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Entweltlichung kann meines Erachtens für die christlichen Kirchen durchaus angesagt sein. Eine Kirche, die sich der Welt chamäleonartig anpasst, verliert ihre Freiheit und Unabhängigkeit und kann nicht Salz der Erde und Licht der Welt sein. Entweltlichung in diesem neutestamentlichen Sinne muss freilich aus evangelischer Sicht zu Ende gedacht werden. Die evangelischen Kirchen können eine geschichtlich gewachsene Kirchenstruktur, also die hierarchisch-sakramental verfasste Kirche, nicht konstitutiv ansehen für das Kirche-Sein der Kirche. Die hierarchische Verfasstheit kann zu ihrem weltlichen Dasein gehören, muss es aber nicht. Die reformatorische Theologie bestreitet damit nicht die grundlegende Bedeutung der Sakramente für das Leben der Kirche, wohl aber die Überzeugung, dass die hierarchische Verfasstheit zum Wesen der Kirche und das Eingebundensein in diese Verfasstheit zum rechten Empfang der Sakramente gehören. Deshalb wird in evangelischen Kirchen zwischen Evangelium und Sakramenten in ihrer für das Leben der Kirche konstituierenden Bedeutung einerseits und menschlichen Ordnungen, Riten und Zeremonien andererseits (vgl. Confessio Augustana VII) unterschieden. Von diesen Überlegungen ausgehend, bleibt einem evangelischen Christen der am Ende der Papstreise geäußerte Aufruf zur treuen Verbundenheit „mit den Nachfolgern des heiligen Petrus und der Apostel“ fremd. Die tiefe ökumenische Verbundenheit, die sich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, wird durch solche Differenzen freilich nicht aufgehoben.


Reinhard Hempelmann