Kai Funkschmidt

Entdeckung der Langsamkeit

Besuch einer Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft

Weltanschauungsarbeit befasst sich mit den Lehren und Lebensformen religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften. Eher selten wird beschrieben, wie die alltäglichen Kultvollzüge aussehen, die das religiöse Erleben einer Gemeinschaft ausmachen und die in der Mitgliederperspektive meist zentraler sind als die offiziellen Lehren. In einer losen Folge berichten wir daher von Besuchen im Kultus verschiedener Gemeinschaften. Es handelt sich dabei um Momentaufnahmen und persönliche Impressionen, die nicht den Anspruch erheben, die geistliche Praxis einer Gemeinschaft repräsentativ darzustellen (vgl. den Bericht über eine Andacht bei Scientology in MD 10/2012, 376ff, oder den über einen Gottesdienst der Johannischen Kirche in MD 5/2011, 187f).

 

Berlin-Wilmersdorf, Sonntagmorgen, zehn Uhr: Die Uhrzeit, die bürgerliche Wohngegend, das Publikum, der Tisch mit Kaffee und Gebäck „für hinterher“, die ausliegenden Flyer, der Büchertisch, das Begrüßungsgewusel in den Vorräumen, dies alles fühlt sich an wie vor einem Gottesdienst oder einer Messe. Aber ich bin auf dem Weg zur „Menschenweihehandlung“. So heißt der Gottesdienst der Christengemeinschaft (CG), die mit dieser zunächst ungewohnten Bezeichnung die Erhöhung und Heiligung des Menschentums durch die Gottestat Christi verbindet.

Erkennbar anders ist zunächst das Gebäude: Kirche oder Festung? Mächtig wächst es dem Besucher entgegen. Wer je den hochbunkerartigen Koloss des Goetheanums in Dornach bei Basel gesehen hat, erkennt schon architektonisch die Herkunft der CG aus der Anthroposophie – grauer Beton in stumpfe Winkel und abfallende Schrägen gegossen. Dieses Gebäude ist geeignet, der Welt die Stirn zu bieten und sie jedenfalls für die Dauer des Kultus visuell und akustisch auszuschließen. Doch der Zugang zur Menschenweihehandlung ist trotz dieses trutzburgartigen Eindrucks niedrigschwellig. Der Fremde kann ganz ungezwungen und anonym hereinkommen und später wieder gehen. Niemand ist hier aufdringlich. Umgekehrt ist niemand besonders aufmerksam gegenüber dem Neuling. Wer Ansprechpartner sucht, muss auch beim anschließenden Kaffeetrinken schon selbst aktiv werden.

In den Gottesdienstraum führen schwere Flügeltüren. Dahinter liegen die Stille und die Dämmerung. Denn elektrisches Licht fehlt, und die Buntglasfenster sind wie schmale Schießscharten sehr weit oben angebracht. Wie eindrücklich muss das erst in der dunklen Jahreszeit bei Kerzenschein wirken! Schweigend sucht man sich seinen Platz in einer typisch unbequemen, langen Kirchenbank. Nach und nach werden etwa hundert Besucher – deutlich mehr Frauen als Männer – die Reihen locker füllen. Graue Köpfe dominieren zwar auch hier, aber etwas mehr Besucher kommen aus der jungen und mittleren Generation als im durchschnittlichen evangelischen Gottesdienst. Für Kinder gibt es parallel eine eigene Veranstaltung.

Die Dekoration ist minimal: sieben Kerzen auf dem Altar und dahinter direkt auf dem Beton der Stirnwand ein riesiges, pastellfarbenes Gemälde – das ist alles. Das Bild zeigt im anthroposophischen Stil einen überlebensgroßen segnenden oder einladenden Christus mit Wundmalen. Er thront über einer Golgatha-Szene, die ihrerseits aus dem Altar herauszuwachsen scheint. Die Seitenwände sind großflächig verkleidet, ohne dass der wuchtige Eindruck gemildert würde. Ruhige Erwartung und Sammlung liegen in den dämmrigen Reihen.

Langsamkeit

Unvermittelt bricht von der Empore der anschwellende, klare Ton einer Geige in die Stille, erfüllt den ganzen Raum. Die Orgel gesellt sich sanft hinzu. Ein Ministrant tritt aus der Sakristei und entzündet mit größter Ruhe die sieben Altarkerzen. Diese Ruhe wird heute den gesamten Ablauf prägen – Entdeckung der Langsamkeit.

Zum Klang eines Glöckchens betritt die Liturgin in Begleitung von je zwei Ministranten und Konzelebranten die Kirche. Dies und vieles andere mutet katholisch an, aber die dazugehörigen Reflexe sind anders: Niemand steht zum Einzug auf. Die Alben und die liturgischen Gewänder darüber sind fliederfarben und orange – eine gewagte Kombination. Vom Altar grüßt die Priesterin die Gemeinde: „Christus in euch“, woraufhin ein Ministrant antwortet: „Und Deinen Geist erfülle er.“ Es folgt ein Segen, gespendet mit einer erhobenen und einer gesenkten Hand, eine Geste, die mir aus Christusdarstellungen vertraut ist. „Der Vatergott sei in uns. Der Sohnesgott schaffe in uns. Der Geistgott erleuchte uns“. Diese triadische Formel, die später noch einige Male wiederkehrt, begleiten Gemeinde und Priesterin, indem sie sich bekreuzigen.

Von nun an spricht die Liturgin die gesamte Liturgie fast immer zum Altar hin, der Gemeinde den Rücken zuwendend. Den Tonfall empfinde ich als salbungsvoll-pastoral, er erinnert mich an jenen Tonfall, in dem Pfarrer in schlechten Fernsehserien predigen und den man uns damals im Predigerseminar bei Leibesstrafe verboten hat. Hier scheint er Programm – vermutlich gewöhnt man sich daran.

Der Wortlaut der Liturgie ist unveränderlich, weil er direkt auf Rudolf Steiner zurückgeht. Dabei sind die eigentlichen Worte kaum zu verstehen, denn neben elektrischem Licht sind auch Verstärkeranlagen verpönt. Da die Liturgie sich nie ändert, ist das wörtliche Verstehen wohl auch Nebensache. Sie entfaltet ihre Kraft durch die Wiederholung. Variabel ist allein die Lesung, heute die Blindenheilung nach Luk 18,35-43. Ihr folgt eine fünfminütige Predigt durch einen der konzelebrierenden Priester, der seine Lehrerrolle an dieser Stelle durch Aufsetzen eines Professorenbaretts und Betreten einer Kanzel, natürlich aus Beton, kennzeichnet. Seine Botschaft ist konzentriert und elementarisiert: Es gehe in der Perikope um das Sehen in die Tiefe, in gewisser Weise seien wir alle blind und müssen geheilt werden, um die Tiefendimension der Wirklichkeit zu „sehen“. Solche Heilung bewirke der Glaube.

Viele Worte, wenig Stille

Der weitere Verlauf der Liturgie hinterlässt bei mir zwei Eindrücke: Sie kommt angenehmerweise ohne jene zahllosen Regieanweisungen und Erklärungen aus, die den liturgischen Verlauf im evangelischen Gottesdienst heutzutage verunstalten. Da wäre etwas zum Thema liturgische Präsenz zu lernen.

Noch stärker aber ist der zweite Eindruck: Sehr viele Worte, antiquiertes Deutsch. So klingt Steiner. Die Priesterin spricht ruhig. Vor allem aber spricht sie fast ununterbrochen. Ihre zum Altar gewandten Gesten sind oft ebenso wenig auszumachen, wie ihre Worte zu verstehen sind. Wer eine mystische Gottesdienstform mit Zeiten der Stille und Versenkung verbindet, wird enttäuscht. Hatten die protestantischen Theologen, die die CG gründeten, hatte Rudolf Steiner, der die Liturgie 1921 schrieb, wirklich so wenig Gespür für die Kraft des Schweigens, die Macht der Musik, dass er auf diesen Wortschwall vertraute? Oder geht es vielleicht gar nicht ums Zuhören, sondern um das Eintauchen in den immer gleichen, vertrauten Wortstrom? Wirken nicht alle meditativen Techniken nur durch Einübung und Wiederholung? Hier stößt der Erstbesucher an Grenzen.

Der gesamte Ablauf wird minimal durch zwei einstrophige Gemeindegesänge unterbrochen. Das Gesangbuch enthält 20 einstrophige Lieder von sechs Komponisten. Die Texte sind mehrheitlich Bibelverse, aber auch ein Text von Goethe und einer von Christian Morgenstern ist dabei. Mir bekannte Kirchenlieder finde ich nicht. Abgesehen von den zwei Strophen, der Bekreuzigungsgeste und dem Abendmahl bleibt die Gemeinde während des gesamten Ablaufs eine stumme und reglose Beobachterin.

Angesichts dieser fast ohne Publikumsbeteiligung ablaufenden Liturgie und der kargen Dekoration ist eines klar: Wer beim Gottesdienst Zerstreuung, Neuigkeiten, technische Inszenierungen oder tiefgründige Ansprachen erwartet, ist hier falsch. Wer hier sitzt, braucht ein reiches geistiges und geistliches Innenleben, das sich auch ohne starke Außenreize entfaltet – ein Gegenentwurf zu einer medial überfluteten Moderne.

Zum Abendmahl – die Einsetzungsworte habe ich, überwältigt vom priesterlichen Wortstrom, verpasst – versammeln sich die Gläubigen an den Altarstufen und erhalten von den beiden Konzelebranten Hostie und Kelch. Ihnen folgt die Liturgin und segnet jeden einzeln: „Der Friede sei mit dir.“ Auch hier fällt wieder auf, wie gemessen alles abläuft. Knapp 20 Minuten dauert allein das Abendmahl.

Nach der Schlussliturgie ziehen die Beteiligten aus. Die Gemeinde bleibt sitzen, bis ein Ministrant zurückkehrt, um die Kerzen ebenso langsam zu löschen, wie er sie entzündet hat. Ich merke, dass man Langsamkeit üben muss, sogar als Zuschauer. Erst nach dem Verlöschen der letzten Kerze strömen wir schweigend hinaus, am Ausgang wird eine Kollekte gesammelt. Genau 60 Minuten hat die Menschenweihehandlung gedauert.

Die Welt hat uns wieder, die Sonne strahlt intensiver als vorher. Wer möchte, bleibt zu Kaffee und Keksen, deckt sich am Verkaufsstand mit Waren aus Südafrika ein oder stöbert am Büchertisch. Manchem Neuling wird das alles ganz vertraut vorkommen, bis er dort einen Titel wie „Der kleine Prinz – eine Darstellung des Menschensohns?“ entdeckt: Da weiß man wieder, dass man nicht in einer evangelischen Kirche ist.


Kai Funkschmidt