Gert Pickel

Engagement und religiöse Indifferenz

Kernergebnisse der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD im Überblick

Anfang 2014 wurden die ersten Ergebnisse der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ihre fünfte seit 1972, veröffentlicht.1 Es handelt sich dabei um einen ersten, vorläufigen Blick auf die Resultate der Ende 2012 durchgeführten Repräsentativbefragung von 2016 Mitgliedern der evangelischen Kirche und 1011 Konfessionslosen in West- und Ostdeutschland. Ungefähr die Hälfte der Konfessionslosen waren aus der evangelischen Kirche Ausgetretene, die andere Hälfte Menschen, die noch nie Mitglied einer Religionsgemeinschaft waren. Inhaltlich im Zentrum der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung standen diesmal vor allem die Wirkungen der sozialen Einbindung der Kirchenmitglieder und ihr Verhalten sowie ihre religiöse Kommunikation innerhalb eines vielfältig verflochtenen sozialen Umfeldes. Dies führte in der Broschüre, in der die Ergebnisse der KMU V veröffentlicht wurden, auch zu dem programmatischen Untertitel „Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis“.2

Ohne die individuelle Perspektive der Kirchenmitglieder aufgeben zu wollen, rückten mit dieser Zielsetzung soziale Netzwerke und die Umsetzung, oder das Ausbleiben, zwischenmenschlicher religiöser Kommunikation stärker als in den vorangegangenen Untersuchungen in den Fokus. Gleichzeitig wurde das Augenmerk wieder stärker auf hochverbundene Mitglieder sowie noch einmal verstärkt auf Jugendliche und junge Erwachsene gerichtet. Standen in der dritten und auch der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung häufig die der Kirche wenig Verbundenen oder oft auch eher Mitglieder mit einer distanzierten Haltung zur Kirche im Zentrum des Interesses und mancher Aussagen, sollte diese Perspektive zwar nicht aufgegeben, aber doch wieder stärker zwischen den Gruppen unterschiedlicher Kirchenbindung austariert werden.3 Ziel war es dabei, eben auch der Sozialform der Gruppe gegenüber einem gelegentlich dominierenden Gegensatzpaar von individualisierter Religiosität und kirchlicher Institution stärker Beachtung zu schenken.4 Der Schwerpunkt „Jugend und junge Erwachsene“ ergab sich zwangsläufig aus dem Interesse an der Zukunft der Kirche – und aus der Frage, wie sich Kirchenmitgliedschaft reproduziert.5 Vor dem Hintergrund der weitreichenden Debatten über Bindungsverluste, Traditionsabbruch und Säkularisierung sind gerade sie von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Kirchen. Um adäquate Aussagen über die nachwachsenden Generationen zu erhalten und zudem belastbare Binnendifferenzierungen innerhalb dieser Gruppe vornehmen zu können, wurde durch das technische Mittel einer Überquotierung der entsprechenden Altersgruppen quasi eine eigene Jugend- und junge Erwachsenen-Stichprobe geschaffen. Sie kann nun für gesonderte, feinere Auswertungen dieser Gruppe genutzt werden.

Für das Grundverständnis der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wichtig ist das Ausgangsverständnis von Kirchenmitgliedern als selbstständige, in modernen Gesellschaften gut integrierte und frei für sich entscheidende Individuen. Sie bestimmen ihre Position zu Religion in modernen Gesellschaften selbst und mit dem Selbstbewusstsein, dies auch tun zu können. Gleichzeitig muss man hier etwas zur Vorsicht mahnen: Diese Annahme eines „religiösen Akteurs“ bedeutet weder, dass die Individuen vollständig autark sind, noch dass sie ihre Entscheidungen isoliert von ihrer Umwelt, ihren sozialen Beziehungen, ihren historischen Kontextbedingungen, ihren Eltern und der erfahrenen (religiösen) Sozialisation entwickeln. Vielmehr leben sie – und dies zeigen die Ergebnisse der KMU V, wie noch zu sehen sein wird, überdeutlich – eingebettet in soziale Kontexte und in Gemeinschaft und Austausch mit anderen Menschen. Dies sind in Deutschland, wie in anderen Ländern Europas, stärker oder weniger stark religiöse Personen, Konfessionslose und auch Menschen anderer Religion. Diese Vielfalt sozialer Rahmenbedingungen muss dabei genauso berücksichtigt werden wie die Veränderungen, welche Prozesse der religiösen Sozialisation aufgrund Veränderungen sozialer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen erfahren haben.6 Einfach gesagt: Die Individuen entwickeln im Wechselspiel mit der Umwelt und im Rückgriff auf ihre Erfahrungen und Sozialisation ihre eigene religiöse (oder möglicherweise auch nichtreligiöse) Identität. Diese Identität steht wiederum in Korrespondenz zu den anderen Rollen, die Menschen in modernen Gesellschaften in ihren multiplen Identitäten miteinander vereinbaren müssen. Dies geschieht unter spezifischen sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und erfordert zudem Priorisierungen bestimmter Rollen zu bestimmten Zeitpunkten.

Im Folgenden werden in der gebotenen Kürze einer knappen Zusammenfassung – und dadurch an einigen Stellen sicherlich auch nur begrenzt differenziert – zentrale Ergebnisse der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland vorgestellt. Auf Abbildungen der Ergebnisse wurde aus Gründen der Begrenztheit der Darstellung verzichtet. Als Ausgleich wurden an den entsprechenden Stellen Verweise auf die EKD-Publikation „Engagement und Indifferenz“7 eingeführt, welche die Möglichkeit eröffnen, Einsicht in das den Ausführungen zugrunde liegende Datenmaterial zu nehmen. Der Übersichtlichkeit wegen werde ich die Kernergebnisse – ein wenig plakativ – als Blöcke vorstellen.

Kernergebnis 1: fortlaufender Traditionsabbruch und Säkularisierung

Was verschiedene Umfragestudien der letzten Jahre immer wieder herausfanden, wird auch in der KMU V bestätigt:8 Die evangelische Kirche ist weiterhin einem von Generation zu Generation verlaufenden Prozess des Traditionsabbruchs und der Säkularisierung ausgesetzt. Nicht nur verlassen weiterhin kontinuierlich mehr Menschen die evangelische Kirche, als ihr beitreten, auch bei den Mitgliedern sind Tendenzen einer sinkenden Bindung an die Kirche, aber auch eine geringere Religiosität festzustellen – vorausgesetzt, man liegt in der Interpretation entsprechender Differenzen zwischen den untersuchten Alterskohorten als Verlaufsaussagen richtig. So fühlen sich zwar im Durchschnitt 45% der westdeutschen Mitglieder der evangelischen Kirche dieser stark oder ziemlich verbunden und gar 47% der ostdeutschen Mitglieder, aber eben nur 22% oder 34% der 14- bis 21- respektive 22- bis 29-Jährigen in Westdeutschland (S. 61f)9. In Ostdeutschland ist die Differenz wesentlich geringer, stufen sich doch fast 40% der jüngeren Generation als verbunden ein.

Doch nicht nur die Verbundenheit zur evangelischen Kirche ist über die Alterskohorten different. Neben der ebenfalls höheren Distanz der jüngeren Kirchenmitglieder zu sozialen Praktiken zeigen sich auch deutliche generationale Unterschiede bei subjektiven Glaubensäußerungen: Bezeichnen sich gerade einmal 43% der 14- bis 21-Jährigen selbst als religiös, steigt dieser Anteil über 62% bei den 30- bis 45-Jährigen auf mehr als 80% bei den über 61-Jährigen. Einfach gesagt: Je jünger ein Kirchenmitglied ist, desto weniger fühlt es sich der evangelischen Kirche verbunden, desto weniger praktiziert es religiös und desto seltener bezeichnet es sich selbst als religiös – oder glaubt auch an Gott. Selbst wenn man von lebenszyklischen Lern- und Gewöhnungsprozessen an die Kirche genauso ausgehen kann wie von einer biografisch bedingten Vitalisierung von Religiosität mit größerer Nähe zum Lebensende oder im Krankheitsfall, muss doch von einer generational zunehmenden Distanzierung gerade der nachwachsenden Generationen zur Kirche ausgegangen werden. Soziologisch ausgedrückt: Generationale Abbruchseffekte überstrahlen lebenszyklische Anpassungseffekte.10

Schaut man in die Zukunft, so dürfte sich diese Entwicklung, setzt man einmal keine eklatanten Veränderungen der Entwicklung der gesellschaftlichen Kontexte gegenüber den letzten Jahrzehnten voraus, langfristig in weiteren Abbruchsprozessen äußern. So ist mit 40% in Westdeutschland und 20% in Ostdeutschland der Anteil derjenigen, welche sich entweder sicher sind, demnächst aus der Kirche auszutreten, oder zumindest schon öfter daran gedacht haben, sich aber noch unsicher sind (so die Äußerung), in der Altersgruppe der 14- bis 21-Jährigen der größte von allen Altersgruppen. Am nächsten dran ist die Alterskohorte der 22- bis 29-Jährigen mit 25% in Westdeutschland respektive 20 Prozent in Ostdeutschland (S. 64). Vergleicht man die Bekundung mit früheren Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, dann fällt die Gesamtanzahl der Austrittsäußerungen allerdings mit um 8% bei den sich sicheren Austrittswilligen etwas niedriger als früher aus. Ob diese Veränderung als Stabilisierung gedeutet werden kann, ist angesichts des trotzdem weiter bestehenden Abflusses an Mitgliedern mit etwas Vorsicht zu betrachten.11 So muss man nämlich gleichfalls konstatieren, dass nur zwischen 3 und 4% der Konfessionslosen überhaupt einmal über einen (Wieder)Eintritt in die evangelische Kirche nachdenken (S. 82).

Diese doch eklatanten Altersdifferenzen in der kirchlichen Bindung deuten auf den zentralen Grund für das nachlassende Interesse an einer Kirchenmitgliedschaft hin – den Traditionsabbruch in der religiösen Sozialisation. Eine direkte Frage nach der Einschätzung der eigenen religiösen Sozialisation bestätigt die generationalen Unterschiede zwischen den Altersgruppen und die hohe Bedeutung der religiösen Sozialisation für die Kirchenmitglieder: Immerhin 70 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder bezeichnen sich als religiös sozialisiert. Mit geringerem Alter sinkt die Zustimmung zu dieser Aussage allerdings erheblich: Sind es nicht mal mehr die Hälfte der unter 21-Jährigen und gerade 58%, welche dieser Aussage in Westdeutschland zustimmen, so liegt der Zustimmungsgrad dieser Altersgruppen in Ostdeutschland immerhin noch über 60%.12 Selbst wenn nicht exakt zu bestimmen ist, wie der Einzelne diese Einschätzung für sich vornimmt (ob er zum Beispiel das tägliche Gebet zum Maßstab seiner Beurteilung religiöser Sozialisation macht oder allein, dass er einmal konfirmiert wurde), sagt sie doch etwas über sein Selbstbild aus: Er oder sie fühlt sich nicht mit Kirche, dem Christentum oder gar Religion als so vertraut gemacht, dass er oder sie sich als religiös ansehen würde.

Bedeutsamer noch: Die Einschätzung der eigenen religiösen Sozialisation bestimmt auch die Weitergabe religiöser Traditionen und Glaubensvorstellungen. Denken noch zwei Drittel der Mitglieder der evangelischen Kirche (West- wie Ostdeutschland), dass es wichtig ist, dass Kinder eine religiöse Erziehung bekommen, so finden dies nur 9% der westdeutschen und 4% der ostdeutschen Konfessionslosen. Für die Traditionsweitergabe noch relevanter: Diese Vorstellung wird nur noch von 39% der Westdeutschen unter 21 Jahren geteilt (58% dieser Altersgruppe in Ostdeutschland; S. 69). Selbst wenn sich Hinweise finden lassen, dass in den älteren Generationen mit einer wachsenden Nähe zum Lebensende so etwas wie eine lebenszyklisch steigende Bedeutung von Religion und Religiosität stattfindet, ist es wohl kaum zu leugnen, dass die Bindung an Religion und Kirche vornehmlich über die Sozialisation und Glaubensweitergabe vermittelt wird.

Nach wie vor finden sich die zentralen Sozialisationsagenten in der Familie: Zwei Drittel der befragten Kirchenmitglieder nennen die Mutter, mehr als die Hälfte den Vater (S. 71). Zwar kann auch jenseits der dort erfahrenen Sozialisation eine Annäherung an den christlichen Glauben stattfinden, nur ist diese von begrenzter Erfolgsaussicht, fehlt doch dann die Anschlussfähigkeit für religiöse Themen und Diskussionen. Damit ist das zentrale Argument an dieser Stelle genannt: Mit der abnehmenden religiösen Sozialisation erodiert die zukünftige Anschlussfähigkeit an den christlichen Glauben und kirchliche Angebote. Fehlt die Anschlussfähigkeit aber, so ist auch von zukünftigen Generationen von Konfessionslosen kaum zu erwarten, dass sie sich einmal für religiöse Angebote der Kirchen erwärmen werden. Sie haben Religion eben „nicht gelernt“, wie man in so manchem Gespräch in Ostdeutschland dann gerne – oft wohlwollend, aber eben auch distanziert – hört. Und dann greift hier ebenfalls ein Sozialisationsprozess, der einer Weitergabe von Konfessionslosigkeit oder eben Gleichgültigkeit Religion gegenüber.

Es stellt sich die Frage: Wenn man nicht viel über seine Religion weiß und auch nur begrenzt mit den grundlegenden religiösen Praktiken vertraut ist, wie tief kann der individuelle Glaube dann sein? Vermutlich findet dann auch hinsichtlich der Glaubensüberzeugungen eine Diffusion statt. Die sehr wohl vorhandenen Bastelreligiositäten zeichnen sich dann vermutlich auch nicht nur durch eine geringe Kirchenbindung, sondern auch durch eine geringe Weitervermittlung und Stabilität aus. Dass Glaube, selbstzugeschriebene Religiosität und Kirchenverbundenheit in enger Beziehung zueinander stehen, kann die KMU V, wie auch ihre Vorgängerstudien, deutlich zeigen. Dies belegen auch enge Beziehungen zwischen der Einschätzung der eigenen religiösen Sozialisation mit der selbstzugeschriebenen Religiosität und der Bereitschaft, eigene Kinder im Glauben zu erziehen Diese Bereitschaft sinkt stark korrespondierend zu einer für sich selbst als fehlend erachteten religiösen Sozialisation (S. 67-70).

Auch andere Ergebnisse der KMU V bestätigen die enge Verbindung zwischen Kirchenverbundenheit, religiösen Praktiken und subjektiver Religiosität (S. 44-49). Einfach ausgedrückt kann man sagen, „die Selbstbekundung von Gotteserfahrungen vollzieht sich vornehmlich im Kontext kirchlich-religiöser Praxis“ (S. 47). Dies beinhaltet auch eine für die evangelische Kirche positive Aussage: Viele Kirchenmitglieder identifizieren Religion wohl stärker mit Kirche, als man manchmal, z. B. angesichts von 70%igen Zustimmungsgraden zu Aussagen wie „man kann auch ohne Kirche religiös sein“, annimmt. Wichtiger aber noch, wenn man Religion sucht, dann findet man diese vornehmlich aus Sicht der Befragten in der Kirche.13 So wenig wie diese Wahrnehmung die Offenheit auch für alternative religiöse Angebote ausschließt, so sehr macht sie doch auch die kulturell gewachsene Kopplung zwischen christlicher Kirche und Religiosität in Westeuropa erkennbar. Damit ist es eher nicht zu erwarten, dass sich als zukünftiges Transformationsszenario von Religiosität eine nachhaltige christliche Religiosität außerhalb der Kirchen etablieren dürfte. Gleichwohl, die Zukunft kann vieles Neues hervorbringen. An dieser Stelle ist dann auch wichtig zu sagen, dass die enge Verbindung von Kirchenverbundenheit und Religiosität nicht zwingend ein eindimensionales Verhältnis widerspiegelt. So wie die Kirchenmitglieder ganz unterschiedliche, teils auch flexible Vorstellungen von gelebter Religiosität besitzen, so haben sie auch unterschiedliche Bilder von Kirche. Dass diese in ihrer Pluralität gewachsenen Ansprüche an die evangelische Kirche deren Entscheidungen über Angebotsstrukturen nicht zwingend erleichtert, dürfte jedem Betrachter schnell klar sein.

Auch die Gründe für die Abbruchsprozesse sind so vielfältig, dass man sie in der hier gebotenen Kürze nicht in Breite ausführen kann. Der von den ausgetretenen Konfessionslosen am häufigsten genannte Grund ist: „Ausgetreten, weil die Kirche unglaubwürdig ist“. Gleichwohl sind es – nach dem Hinweis auf die enge Verkopplung von subjektiver Religiosität und Kirchenverbundenheit kaum überraschend – nicht allein auf die Institution Kirche bezogene Distanzhaltungen, welche zu Austritten und Kirchendistanzierung führen. Dichtauf zu dieser ersten Äußerung folgen die Nennungen „Kirche ist mir gleichgültig“, „weil ich keine Religion für das Leben brauche“ und „weil ich mit Glauben nichts anfangen kann“ (S. 80). Diese Aussagen sind grundsätzlicher und deuten auf einen sozialen Bedeutungsverlust von Religion als zentralen Grund für eine Distanzierung zur Kirche hin. Entsprechend fallen die Antworten dann auch in einer statistischen Hintergrundanalyse weitgehend zusammen – wer das eine äußert, nennt meist auch das andere. Religion und Kirche werden eben in der Regel von den Konfessionslosen (aber wohl auch den Konfessionsmitgliedern) nicht als grundsätzlich voneinander unterschieden wahrgenommen (S. 45-48). Damit ist man aber bei einer Aussage, die recht eindeutig an ein – auch kontrovers diskutiertes – theoretisches Leitmodell der Religionssoziologie anschließt – der Säkularisierungsthese. Diese geht von einem sozialen Bedeutungsverlust von Religion aus, der sich weniger durch eine strikte Ablehnung als durch Gleichgültigkeit Religion gegenüber ausdrückt. Damit ist man bei einem der Begriffe, die als Überschrift für die vorgelegte Broschüre der Erstergebnisse gewählt wurde: Indifferenz.14

Diese Indifferenz zeichnet vor allem die Konfessionslosen aus. Anders als gelegentlich propagiert ist die Zahl der religiösen Individualisten außerhalb der Kirche sehr übersichtlich, zumindest wenn man den christlichen Glauben als Maßstab heranzieht (S. 83). Findet man in Westdeutschland immerhin noch 12% unter den Konfessionslosen, die sich für religiös halten, sind dies in Ostdeutschland – aufgrund des größeren Anteils an Konfessionslosen der zweiten und dritten Generation gut erklärbar – gerade einmal noch 3%. Auch Gottesglauben oder andere Äußerungen entsprechen diesen Ergebnissen. Konfessionslose sehen sich weder als defizitär an, noch sehen sie zwingende Gründe, sich mit Religion auseinanderzusetzen. Man lebt auch ohne Religion gut. Dies impliziert genauso eine geringe eigene Erklärungsbedürftigkeit ihrer Konfessionslosigkeit, wie es aus ihrer Sicht das Produkt einer individuellen Entscheidung als eigenständiger Akteur (unter bestimmten Rahmenbedingungen) ist (S. 80-83). So mag es vielleicht noch sein, dass alternative Formen der Spiritualität oder Religiosität bei den Konfessionslosen eine Bedeutung besitzen, als Potenzial für kirchliche Rückgewinnungsprozesse scheinen sie nur sehr begrenzt tauglich. Speziell auch deswegen, weil sie aufgrund ihrer soziokulturellen Erfahrungen von den Betroffenen selbst kaum als religiös identifiziert und bezeichnet werden. Immerhin kommt ein Viertel bis ein Drittel der Konfessionslosen in Kontakt mit Kirche, vornehmlich über Kasualien und soziale Netzwerke. Doch auch hiermit können sie selbstbewusst umgehen, ohne zwingend ihre Haltung zu Kirche und Religion zu ändern.

Innerhalb der Kirchenmitglieder ist die Situation differenzierter. Aber auch hier finden sich Menschen, die man den Daten nach eigentlich als religiös indifferent bezeichnen müsste. Obwohl sie Mitglied in der Kirche sind, stehen sie ihr – und manchmal auch dem Glauben an sich – relativ gleichgültig gegenüber. Dies ist stärker in West- als in Ostdeutschland der Fall. Als Situation ergibt sich: Religiös weitgehend Indifferente stehen hochengagierten und stark verbundenen Christen gegenüber. Daneben findet sich auch eine Anzahl von nur lose Kirchenverbundenen, die aber noch religiös sind oder dem Christentum eine Bedeutung für ihr Leben oder das Leben allgemein zusprechen. Doch dazu im gleich folgenden Abschnitt mehr.

Fasst man diese Betrachtungen zusammen, so ist auch in der Zukunft mit weiteren Abbruchsprozessen in der Mitgliedschaft der evangelischen Kirche zu rechnen. Dieses Resultat ist nicht neu: Bereits in früheren KMUs waren Hinweise auf entsprechende Abbruchsprozesse festzustellen. Also nichts Neues und vielleicht doch Stabilität? Wenn, dann muss man es aber als eine Stabilität im Abbruch bezeichnen. Denn es scheint weder eine Trendwende in den Entwicklungen noch ein, 2006 einmal hoffnungsvoll ausgerufenes, „Wachsen gegen den Trend“ zu geben. So wie vielen Kirchenmitgliedern nicht nur ihre Religion, sondern auch die Kirche wichtig ist, kann die wachsende Gruppe der Konfessionslosen sehr gut auch ohne Religion leben und ihren Alltag gestalten. Doch auch Tendenzen anderer Entwicklungen sind in der KMU V zu beobachten.

Kernergebnis 2: Tendenzen der Polarisierung

Diesen Abbruchsprozessen widerspricht es nämlich keineswegs, dass die Kirchenbindung vieler Kirchenmitglieder relativ stark ausfällt. Nicht nur sind in Deutschland immer noch viele Menschen Mitglied in der evangelischen oder katholischen Kirche, viele von ihnen schätzen diese Mitgliedschaft auch. Immerhin finden sich unter den Kirchenmitgliedern bemerkenswerte Vertrauensbekundungen gegenüber der evangelischen Kirche von über 85% in West- und Ostdeutschland (S. 64). Auch fühlen sich in West- wie in Ostdeutschland mehr Mitglieder der evangelischen Kirche stark oder ziemlich verbunden als nicht oder nur gering verbunden. Gleichwohl finden sich innerhalb der Mitglieder plurale Ausprägungen sowohl in der Haltung zur evangelischen Kirche als auch hinsichtlich der gelebten Religiosität und Kirchlichkeit. Dabei sind 2012 leise Anzeichen einer gewissen Polarisierung zwischen stark verbundenen Mitgliedern und Mitgliedern, die doch in einer recht deutlichen Distanz zur Institution Kirche stehen, zu konstatieren. So hat sich sowohl die Zahl der stark verbundenen als auch die der nicht verbundenen Mitglieder in der evangelischen Kirche in den letzten Jahrzehnten gesteigert. Thies Gundlach hat die sich gegenüberstehenden Gruppen in einen Gegensatz von Hochverbundenen und einer kommunikativ verstummten Gruppe an Kirchenmitgliedern (und Konfessionslosen) gebracht.15

Diese – sicherlich derzeit noch mit Vorsicht zu interpretierende – Polarisierungstendenz ist dahingehend bemerkenswert, dass davon auszugehen ist, dass gerade früher nicht so stark verbundene Kirchenmitglieder diese über die Zeit wesentlich häufiger als stark verbundene Mitglieder verlassen haben. Damit wäre eigentlich, blieben die Mitglieder ihrer Kirche in kontinuierlicher Weise verbunden, innerhalb der evangelischen Kirchenmitglieder ein Konzentrationsprozess mit einem stetigen Zuwachs an hoch verbundenen Mitgliedern zu erwarten. So einfach verläuft die Entwicklung aber scheinbar nicht. Dies dürfte vor allem daran liegen, dass gerade in den jüngeren Generationen der oben bereits angesprochene Traditionsabbruch massiv durchschlägt. Zieht man noch die erhebliche Kirchen- und auch Religionsdistanz der Konfessionslosen mit ins Kalkül, könnte sich in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren eine stärkere Polarisierung zwischen stark religiösen Kirchenmitgliedern und eher säkularen Bürgern herauskristallisieren – eine Entwicklung, die übrigens für andere Länder Europas schon diskutiert wird.16 Derzeit ist der Entwicklungsprozess in Westdeutschland noch nicht weit genug vorangeschritten, um belastbare Zukunftsaussagen treffen zu können. Gleichwohl stellen die Tendenzen Fragen an das bislang gepflegte Modell einer Volkskirche in ihrer Breitenabdeckungsfunktion.

Denn die beobachteten Entwicklungen bedeuten – zumindest für Westdeutschland – noch kein Ende eines sozialen Bedeutungsverlustes. Vielmehr muss mit weiteren Abschmelzungsprozessen in der Mitgliedschaft wie auch bei den religiösen Praktiken gerechnet werden. Auch sich selbst als religiös zu verstehen, ist weiter rückläufig. Man sollte aber nicht nur auf die Entwicklung blicken. So ist es angebracht, auch zu konstatieren, dass die Verbundenheit und das Vertrauen in die evangelische Kirche immer noch höher sind, als dies viele Kritiker angesichts der Breite an ungünstigen Zeitungsmeldungen oft erwarten. Vermutlich wäre derzeit jede der Volksparteien zufrieden, würde sie die Wählerpotenziale mobilisieren können, die Mitglieder in den christlichen Glaubensgemeinschaften sind. In Ostdeutschland sieht die Situation sogar noch etwas anders aus. Dort könnte es sein, dass die im Sozialismus forcierten Säkularisierungsprozesse, die auch nach 1989 ihren Fortgang genommen haben, sich langsam beruhigen und sich so etwas wie ein „Tal des Mitgliederbestandes“ zu verdichten scheint. Ob dies so ist, wird man ebenfalls wohl erst in zehn Jahren sehen können, erste Anzeichen für eine solche Entwicklung der Stabilisierung gibt es zumindest.

Kernergebnis 3: persönliche religiöse Kommunikation – auch bei digitalen „natives“

Spricht man von den sozialen Rahmenbedingungen, dann kommt die digitale Revolution in den Blick. So sind es doch gerade die jungen Menschen, die verstärkt auf neue Kommunikationsformen zurückgreifen. Kann es da nicht sein, dass nicht eine sinkende Religiosität und religiös-kirchliche Kommunikation, sondern eher eine andere Form religiöser Kommunikation Raum greift? Und ist diese nicht angepasster an neue, alternative Formen individualisierter Religiosität? Zumindest für die religiöse Kommunikation ist die Bedeutung neuer Formen der Kommunikation übersichtlich.Digitale Medien spielen zwar, gerade für jüngere Menschen, eine große Rolle im Lebensalltag, für religiöse Kommunikation im engeren Sinne sind sie aber aus der Sicht ihrer Nutzer nur begrenzt geeignet. Nur gerade einmal 2% kommunizieren per Internet über den Sinn des Lebens. Immerhin nehmen noch etwa 13% auf diesem Wege häufig oder gelegentlich Informationen über Kirche oder über kirchliche Themen wahr (S. 50). Diese Raten werden aber von allen anderen Medien weit übertroffen. An der Spitze der Informationsquellen liegen Tageszeitungen (52%) und auch der Kirchengemeindebrief (45%). Doch bedeutet Information noch nicht zwingend religiöse Kommunikation, fehlt doch ein Ansprechpartner für einen beidseitigen Kommunikationsprozess.

Religiöse Kommunikation, wie auch die Kommunikation über religiöse Themen, ist – so zeigen die Ergebnisse der KMU V eindeutig – überwiegend face-to-face basiert. Ehepartner (79%), Freunde und Bekannte (58%) sowie Familienmitglieder (53%) sind die zentralen Ansprechpartner für entsprechende Themen – und dies findet zumeist zu Hause statt. „Der Austausch über religiöse Themen erfolgt primär in Mikronetzwerken“ (S. 7). Grund ist, dass Religiosität als eine Privatsache verstanden wird, die – soweit sie einen selbst betrifft – nicht in der Öffentlichkeit verhandelt werden soll. Die sehr persönlichen Prozesse des Lebens möchte man mit Personen besprechen, zu denen man Vertrauen besitzt – und diese sind vornehmlich im nahen bis ganz nahen Bereich angesiedelt (S. 27).

Natürlich ist es damit für die Kirchen nicht obsolet, sich um die Präsenz in neuen Medien zu kümmern. Will man das Image einer verstaubten und rückwärtsgewandten Institution zumindest ein wenig ablegen, dann ist eine zeitgemäße öffentliche Präsenz Pflicht. Zumeist dient sie aber als Informationsträger. Dies ist nun eine ebenfalls nicht zu unterschätzende Funktion. Als Kommunikationsersatz für die face-to-face-Kommunikation kann sie im religiösen Sektor aber wohl nicht dienen (S. 31). Nach wie vor – und dies belegen auch bereits die Resultate früherer Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen – ist das Reden über Religiöses Privatsache. Gleichwohl sind es immerhin auch zu über 20% kirchliche Bedienstete, die als Kommunikationspartner für Gedanken über den Sinn des Lebens herangezogen werden. Ohne Frage ist aber religiöse Kommunikation etwas Existenzielles.

Damit ist man bei der Frage, inwieweit der Blick auf die individualisierten Formen des Religiösen überhaupt hinreichend Auskunft über mögliche Potenziale der Kirchenentwicklung gibt? So wie Religiosität etwas sehr Persönliches zu sein scheint, ist es aber auch nichts, was man jenseits der sozialen Einbindung leben möchte. Einfach gesagt: Man benötigt für jedes Gespräch ein Gegenüber. So findet nicht nur der Besuch des Gottesdienstes selten allein statt; gerade die großen kirchlichen Feste werden dann besonders gut besucht, wenn sie als Familienfeste oder auch Familientradition wahrgenommen werden, so zeigen es die Ergebnisse der KMU V. Es scheint also so, als würde auch die Kirche als Gemeinschaftsform eine eigenständige Bedeutung entfalten können.

Kernergebnis 4: Kirche als soziale Institution: soziale Ziele, Sozialkapital und soziale Netzwerke

Entsprechend ist die Botschaft der KMU V dann auch nicht nur auf eine Bestätigung der mit dem Gedanken der Säkularisierung verbundenen Verlustsemantik ausgerichtet. Die KMU V zeigt gleichzeitig eindrücklich die hohe Bedeutung sozialer Netzwerke und persönlicher Beziehungen für religiöse Kommunikation und die Ausübung von Religiosität. Die meisten Menschen teilen ihre Religiosität gerne mit einer nahe stehenden Person. Hierzu bietet die Kirche an verschiedenen Stellen (Gottesdienst, Gemeindearbeit, Hauskreise u. a.) Möglichkeiten – und diese werden auch gar nicht so selten wahrgenommen (S. 122f). So ist zum Beispiel der Gottesdienst eine gemeinschaftliche soziale Praxis, geben doch über drei Viertel der Gottesdienstbesucher an, dies mit anderen gemeinsam zu tun. Die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft wie der evangelischen Kirche stärkt über Prozesse der Identifikation und der Selbstversicherung auch die individuelle Identität. So gibt es Sicherheit, wenn man mit anderen Menschen bestimmte Vorstellungen und Werte teilt. Entsprechend besitzt man auch die stärkste Verbindung zur evangelischen Kirche allgemein und dann wieder zur Heimatgemeinde. Gelebte Religiosität ist somit soziale Praxis. Soziale Praxis ist aber auch an Gemeinschaft (Sozialität) und kulturelle Rahmenbedingungen gebunden.

Die persönlichen Netzwerke tragen zu einer positiven Wahrnehmung von Religion bei. Nicht immer ist also die Kirche in ihrer Sozialform der „verderbte Partner der Religion“, wie es William James vor über 100 Jahren ausdrückte,17 sondern möglicherweise aufgrund ihrer sozialen Organisation – und auch ihrer sozialen Ausrichtung – sogar ein wesentlicher Bestandteil für die Durchsetzungskraft von Religion überhaupt. Darauf deutet auch die hohe Bereitschaft hin, sich im Umfeld der Kirche sozial zu engagieren. 30% der evangelischen Kirchenmitglieder engagieren sich in einer kirchlichen oder religiösen Organisation bzw. sozialen Gruppe, und nahezu genauso viele engagieren sich auch außerhalb der Kirche. Dieses Engagement übersteigt die Bereitschaft konfessionsloser Menschen zu zivilgesellschaftlichem Engagement deutlich (S. 109). Angelehnt an Überlegungen im angelsächsischen Raum wird das, was hier entsteht, etwas uncharmant als „Sozialkapital“ bezeichnet.18 Es kennzeichnet die ehrenamtliche oder besser freiwillige Tätigkeit von Bürgern. Dieses Sozialkapital besitzt nicht nur eine Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt in der Kirche, sondern strahlt auch auf die Gesellschaft aus. Wie auch die Ergebnisse der KMU V belegen, besitzen Menschen, die sich in und im Umfeld der evangelischen Kirchen engagieren, in der Regel ein höheres Vertrauen in ihre Mitmenschen (S. 110).

Einmal dahingestellt, ob dies nicht bereits in Teilen vor ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit vorhanden war, scheint die gemeinschaftliche freiwillige Betätigung einen vertrauensbildenden Effekt mit sich zu führen. Äußern über 50% der Kirchenmitglieder ein allgemeines Vertrauen in ihre Mitmenschen, so trifft dies nur für knapp mehr als 30% der Konfessionslosen zu (unter den aktiv engagierten Kirchenmitgliedern finden wir sogar Vertrauenswerte von über 70%). Dies entspricht exakt der angesprochenen Theorie des Sozialkapitals. Das Problem ist, dass nicht immer klar ist, welche religiöse Substanz in den kirchennahen Netzwerken verbleibt. So können diese Netzwerke auch ohne starke religiöse Prägung funktionieren. Gleichzeitig ist Religion auch Gemeinschaft und Sozialität. Und soziales Engagement ist problemlos mit dem Christentum vereinbar, wenn nicht sogar dessen essenzieller Bestandteil. Als günstig erweist sich dabei, dass soziale Netzwerke modern sind, weil sie selbstentscheidenden Individuen eine eigene Wahl überlassen. Zum anderen sind sie „strukturell offen“, d. h. sowohl Konfessionsmitglieder als auch Konfessionslose können an ihnen teilnehmen – und so wechselseitiges Vertrauen und Offenheit entwickeln.

Überhaupt ist die soziale Bedeutung von Kirche nicht zu unterschätzen. So zeigen die Ergebnisse der KMU V, dass sich die meisten Mitglieder eine sozial verantwortliche Kirche wünschen. Mehr als vier Fünftel der Mitglieder sehen es als Pflicht für die evangelische Kirche an, „Arme, Kranke und Bedürftige zu betreuen“ oder „sich um Menschen in sozialen Notlagen zu kümmern“. Diese Nennungen liegen sogar vor der (von drei Viertel der Mitglieder eingeforderten) religiösen Kernaufgabe, „die christliche Botschaft zu verkündigen“ oder „Raum für Gebet, Stille und persönliche Besinnung zu geben“ (S. 93). Kirche wird anscheinend zuallererst als etwas Soziales gesehen. Dies gilt sogar für die Konfessionslosen. So sollte sich aus dem Blickwinkel von mehr als der Hälfte der Konfessionslosen die evangelische Kirche sozial engagieren. Dass die Diakonie immer etwas bessere Vertrauenswerte als die evangelische Kirche allgemein auf sich vereinen kann, ist dann nicht überraschend.

Kernergebnis 5: Pfarrer als Brückenbauer und zentrale Schaltstellen der Kirche

Was bedeutet dies aber nun für die kirchlichen Bediensteten? Nach wie vor besteht eine zentrale Position der Pfarrerin oder des Pfarrers. Mehr als drei Viertel der evangelischen Kirchenmitglieder kennen Pfarrerin oder Pfarrer vom Sehen oder zumindest namentlich (S. 13). Diese Kenntnis steht dabei in einer engen Verbindung zur Kirchenbindung. Neben der wichtigen face-to-face-Beziehung der Pfarrerin oder des Pfarrers zu seinen Gemeindegliedern wird auch die öffentliche Wahrnehmung ihrer oder seiner Präsenz für eine Beurteilung der Kirche als wichtig angesehen. Pfarrer oder Pfarrerin sind die für die meisten Kirchenmitglieder sichtbarsten Repräsentanten ihrer Kirche. Dabei dürfen andere kirchliche Bedienstete nicht übersehen werden. Immerhin 40% der Mitglieder hatten im letzten Jahr persönlichen Kontakt zur Gemeindesekretärin und mehr als ein Viertel jeweils zu Küster/Küsterin, Diakon/Diakonin oder Kantor/Kantorin. Gleichwohl bleibt die Stellung der Pfarrerin oder des Pfarrers zentral. Dies bestätigt auch der Befund, dass 30% der befragten evangelischen Kirchenmitglieder in einer offenen Frage Pfarrer oder Pfarrerin (ob als allgemeine Kategorie oder als konkrete Person) als das nannten, was ihnen einfällt, wenn sie evangelische Kirche hören.

Allerdings dürfte die Stellung der Pfarrer und Pfarrerinnen, nimmt man die Ergebnisse zu den sozialen Netzwerken ernst, möglicherweise einem sich langsam verändernden – oder bereits veränderten – Rollenbild unterliegen. So ist die Pfarrerin oder der Pfarrer eben mittlerweile, gerade unter Berücksichtigung der vielen Aufgaben, die er oder sie zu erfüllen hat, in zentraler Weise auch die oder der Brückenbauer für die ihn umgebenden sozialen Gruppen. Sie oder er dient als Motivator und Helfer für die freiwillig Engagierten und Ehrenamtlichen im Umfeld der Kirche. Sowohl in der sozialen Organisation als auch im Außenbild oder als Gate Keeper in den sozialen Netzwerken nehmen Pfarrer damit eine zentrale Schaltstelle der evangelischen Kirche ein.

Mit dieser konkreten Ansprechbarkeit schließt sich nun auch der Kreis wieder. So wie – übrigens neben 30%, die Martin Luther erwähnten – die Pfarrer als Repräsentanten der evangelischen Kirche gesehen werden, sind es ganz spezifische Orte, die aus Sicht der Mitglieder die evangelische Kirche ausmachen. Sowohl Begegnungen vor Ort als auch Orte als Gelegenheitsstrukturen, wie dies etwas abstrakt in der Sozialkapitaltheorie heißt, für Begegnungen spielen eine große Bedeutung für Kirchenverbundenheit und die Wahrnehmung als Kirche überhaupt. Immerhin denken fast 50% an Kirchengebäude (ob abstrakt oder konkret genannt), wenn sie danach gefragt werden, was ihnen bei „evangelischer Kirche“ einfällt – und 32% an religiöse Praktiken und Kasualien. Da überrascht es dann wenig, wenn Gerd Wegener gerade Kasualien und Diakonie dem Sozialkapital in zivilgesellschaftlichem Engagement als Brücken zur Gesellschaft zur Seite stellt.19

Zusammenfassung

Fasst man die Ergebnisse zusammen, so sind sie in den Zahlen an vielen Stellen nicht wirklich überraschend – zumindest nicht für diejenigen, die gelegentlich Befragungen mit dem Schwerpunkt Religiosität oder Kirchlichkeit zur Kenntnis nehmen – und decken sich auch dort, wo sie mit anderen Studien verglichen werden können, mit den festgestellten Befunden. Zum einen ist immer noch eine bemerkenswerte Stabilität in der Bedeutung religiöser Praktiken und des Gefühls kirchlicher Zugehörigkeit bei einem Gros der Mitglieder der evangelischen Kirche festzuhalten. Und die Zahl der Mitglieder macht immerhin noch fast ein Drittel der Deutschen aus. Gleichzeitig muss man wohl aber auch konstatieren, dass Prozesse der Säkularisierung, verstanden als ein sozialer Bedeutungsverlust von Religion, in Deutschland, wie auch in den westeuropäischen Nachbarländern, weiterhin greifen. Kann man in Ostdeutschland seitens der evangelischen Kirche in den nächsten Jahren vielleicht auf eine Beruhigung des Traditionsabbruchs auf niedrigem Niveau hoffen, so muss man in Westdeutschland wohl erst noch von einem weiteren Mitgliederverlust und Traditionsabbruch ausgehen. Nicht wenige der heute schon nicht mehr wirklich der Kirche verbundenen Mitglieder werden diese in den nächsten Jahren verlassen. Eklatanter noch ist aber, dass in den nachwachsenden Generationen immer weniger Menschen sein werden, die überhaupt Mitglieder sein werden. Auf diese Weise wird unter den einmal Kirchenfernen und Konfessionslosen die Anschlussfähigkeit für kirchliche (und damit auch christlich geprägte religiöse) Kommunikation weiter absinken. Damit stellen gerade in der zweiten Generation Konfessionslose eben keine wirklichen größeren Potenziale für die christlichen Kirchen dar. Nicht dass man diese Aussagen falsch versteht, es geht weder um eine Dramatisierung im Sinne eines „Verschwindens der Kirche oder Religion“ noch um überraschende, explodierende Prozesse. Vielmehr sehen wir einen langfristigen Entwicklungsprozess, der sich quasi als „schleichende Säkularisierung“ fortsetzt. Auf die Gesamtheit der Menschen in Deutschland gesehen bedeutet dies einen sozialen Bedeutungsverlust, mit dem die evangelische Kirche auch in den nächsten Jahren wird umgehen müssen. Dies scheint zumindest die nüchterne und realistische Perspektive zu sein, die (nicht nur) aus den Ergebnissen der KMU V zu folgern ist.

Aufgrund der damit verbundenen Einbrüche in der religiösen Sozialisation bei gleichzeitig hoher Relevanz eben gerade der sozialen Vermittlung und Weitergabe von Religion ist es auch plausibel, dass Glaubensvorstellungen an Schärfe verlieren und unpräziser werden. Bislang sind nur begrenzt Aussagen zu finden, in denen individualisierte Formen der Religiosität – die für die christlichen Kirchen zudem nur selten anschlussfähig sind – als Alternative zu christlicher Religiosität und Spiritualität Raum greifen. Gleichwohl durchziehen Individualisierungsprozesse auch die deutsche Gesellschaft. Sie begleiten Prozesse der Säkularisierung, stellen Übergangsprozesse zu dieser dar, verdichten sich aber auch zu neuen Sozial- und Ausdrucksformen des Religiösen. Selbst wenn ihre Nachhaltigkeit und Tradierung fraglich ist, tragen sie doch zu einer Pluralisierung der religiösen Landschaft bei. Diesen Gruppen zur Seite steht eine nicht geringe Zahl an hochverbundenen und engagierten Kirchenmitgliedern, aber auch von Kirchenmitgliedern, die eine evangelische Identität besitzen, diese aber nicht in religiöse Praktiken umsetzen. Diese auch unterschiedlichen „evangelischen Christentümer“ sind zweifelsohne eine weitere Entwicklung neben der Säkularisierung, die derzeit die Moderne mit sich bringen dürfte.20

Gleichwohl bedeutet sozialer Bedeutungsverlust nicht gleich Bedeutungslosigkeit. So wie immer noch die Mehrheit der Deutschen Mitglied in einer der christlichen Großkirchen ist, ist die Zugehörigkeit nicht wenigen Mitgliedern wichtig. Die KMU V zeigt hier beachtliche Werte der Verbundenheit und noch mehr des Vertrauens. So finden auch viele Mitglieder, die sonst an religiöser Praxis nur sehr bedingt teilhaben, die evangelische Kirche als etwas, wo es lohnt, Mitglied zu sein. Inwieweit sie dies allerdings an ihre Kinder weitervermitteln können, ist fraglich. Das gelingt den hochverbundenen und häufig auch vielfältig engagierten Kirchenmitgliedern meist wesentlich besser. So sind es bei Weitem nicht allein konservative Dogmatiker, wie manch Kritiker zu meinen glaubt, welche religiös sind und dies an ihre Kinder weitergeben. Speziell auch die Deutschen Evangelischen Kirchentage zeigen die bindende Kraft des zivilgesellschaftlichen Engagements in kirchlichen Gruppen und Zusammenhängen. Die evangelische Kirche schafft Gelegenheitsstrukturen für zivilgesellschaftliches Engagement, welches gerne wahrgenommen wird für eine freiwillige – und oft sehr intensive – Beteiligung am öffentlichen Leben. Offen ist dabei allein die Bedeutung, die der christlichen Botschaft in der Formierung dieser Gruppen zukommt. Genau genommen kann man Letzterem sogar noch eine größere Relevanz zukommen lassen. So sind es gerade die sozialen Gruppen in der Kirche und in ihrem Umfeld, die strukturell zu den Konfessionslosen hin offen sind. Sucht man also Anschlussfähigkeiten und Potenziale dafür, nichtreligiöse oder religiös bislang „unmusikalische“ Menschen zu einem Kontakt oder zum Nachdenken über Religiöses anzuregen, dann wird man wahrscheinlich hier am ehesten fündig.

Orte der Begegnung und die persönliche Aufgeschlossenheit für die Nöte der Menschen in der Gegenwart ist es dann auch, was die Mitglieder in ihrer Kirche suchen. Dies suchen auch gelegentlich Noch-nicht-Mitglieder. Es findet sich aber eher im face-to-face-Kontakt (mit dem Pfarrer oder der Pfarrerin oder auch dem Mitglied eines sozialen Netzwerkes im Umfeld der Kirche) als in individualisierten Ritualpraxen. Gleichwohl sehen die Kirchenmitglieder auch diese als konstitutiv für ihre Kirche an, selbst wenn sie die Angebote nicht selbst nutzen. In dieser Hinsicht zeichnet die KMU V ein nicht neues, aber wohl realistisches Bild einer Entwicklung, die vielfältige Ausprägungen, Mixturen und eine große Vielfalt besitzt. Ein Leben ohne Religion ist allerdings eine Option, die dabei ebenfalls immer häufiger auftaucht.

Nachtrag: Reaktionen als Hinweis auf eine theologisch notwendige Debatte

Nun könnte man mit dieser Zusammenfassung den Beitrag gut schließen. Gleichwohl gibt es ein interessantes Ergebnis jenseits der Daten, das ich dem Leser nicht vorenthalten möchte. Dies sind die Reaktionen auf die ersten Ergebnisse der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. So erfolgte neben einer breiten positiven Rezeption, welche insbesondere die (auch seitens der durchführenden Personen beabsichtigte) Realitätsnähe und Nüchternheit der vorgestellten Ergebnisse heraushob, eine teilweise vehemente Ablehnung. Sie konzentrierte sich vor allem auf die Interpretation zweier Resultate (und auch die Resultate selbst): die säkularisierungstheoretische Interpretation der Ergebnisse und die Verweise auf die Kopplung zwischen subjektiver Religiosität und kirchlichem Engagement. Die Kritik wurde dabei weniger mit Bezug zum bislang präsentierten Datenmaterial herausgearbeitet als vielmehr in einer, eher personalisierten, Form des Vorwurfs einer säkularisierungstheoretischen Färbung des Untersuchungsteams begründet, welches die nun bekannten Ergebnisse bereits durch die Gestaltung der Fragen und die Erhebung quasi intendiert habe.21 Zwar werden keine alternativen Deutungen der Ergebnisse angeboten, wird die Konsistenz des Gros der verwendeten Fragen und auch Resultate zu den vorangegangenen Untersuchungen weitgehend ignoriert und werden Ergebnisse alternativer Studien sowie Kirchenstatistiken erst gar nicht in die kritischen Betrachtungen einbezogen, weswegen man sie hinsichtlich einer statistisch-empirischen Debatte über die inhaltliche Deutung auch ignorieren könnte. Nichtsdestoweniger ist diese Reaktion hochinteressant.22 Da die durchgehend rudimentär und selektiv, wenn überhaupt, herangezogenen Interpretationen vereinzelter Ergebnisse kaum hinreichen, um an den vorgenommenen Gesamtdeutungen wirklich Zweifel aufkommen zu lassen, scheint hier ein anderes – vermutlich auch in einer theologischen Tradition begründetes – Motiv Raum zu greifen: eine grundsätzliche Ablehnung der Deutung gegenwärtiger Entwicklungen als Säkularisierung sowie eine positive Betonung individualisierter Religiosität (gerne auch verbunden mit Kirchendistanz).

Gerade der Eindruck über die KMU V, dass die in früheren Studien vielleicht stärker betonte individualisierungstheoretische Deutung mit ihrer beruhigenden Aussage eines Verbleibs der Religiosität auch – und gerade – außerhalb der Kirche durch die Ergebnisse infrage gestellt wird, löst wohl Unbehagen aus. Bei den Kritikern scheint eine gewisse Blockade zu bestehen, den nun doch vielfach dokumentierten, derzeitig noch stattfindenden Abbruchsprozess des Religiösen als einen solchen zu akzeptieren, ja ebensolche Abbruchsprozesse überhaupt als Verluste wahrzunehmen. Vielmehr wird mit großer Überzeugung an einer Transformation des Religiösen festgehalten, auch wenn man oft nicht weiß, wohin sie sich transformiert hat. Nun ist kaum zu bestreiten, dass in der Moderne wirklich eine Transformation des Religiösen stattgefunden hat, allerdings hat sie sich nur für einige Menschen in neuen Ausdrucksformen von Religiosität etabliert, bei anderen Menschen verblasst Religiosität eben – und wandelt sich zu Indifferenz oder auch gar Religionslosigkeit (drückt man es eindeutiger aus).

Zudem muss man sich bei einer individualisierungstheoretischen Sichtweise auch gewahr sein, dass Religiosität mehr umfasst, als man dann vielleicht wieder zu akzeptieren bereit ist. Ist Bodybuilding oder Fußball auch aus theologischer Sichtweise nun wirklich Religion? Wenn ja, dann bestehen sicherlich größere Transformationsprozesse zu alternativen Formen der Religiosität – aber eben auch immer noch nicht für alle Mitglieder westeuropäischer Gesellschaften. Vielleicht handelt es sich ja dann doch eher um religioide Phänomene, die sich dann der kulturellen Deutung als religiös entziehen.23 Damit sind sie aber, und dies muss man eben auch diskutieren, nicht mehr für ein Verständnis wie das des Christentums einzufangen. Religionssoziologisch ist dies nun ohne Weiteres möglich, übrigens sogar mit den Daten der KMU V, die – entgegen der impliziten Unterstellung einer Einseitigkeit – übrigens sehr viele Fragen zu Formen individualisierter Religiosität beinhalten.

Was allerdings in der Kritik offenbar wird, ist das dann doch diffus durchschimmernde (unempirische) Festhalten an einer anthropologisch verankerten, christlichen Religiosität, also auch wieder dem kulturellen Verständnis folgend, welches man der Säkularisierungstheorie vorwirft, bei gleichzeitiger Breitenkritik an der Kirche in ihrer gegenwärtigen Form. Denn dies scheint ein impliziter Hintergrund des geäußerten Unbehagens zu sein; man möchte gerne eine andere Kirche, sieht aber zugleich, dass die Ergebnisse der Studie entsprechende Forderungen gerade nicht unterstützen. Dem setzt man im Vertrauen auf die sprießenden Potenziale religiöser Nachfrage und Spiritualität eben eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen den Angeboten der Kirche heute und dieser unveränderten, wenn nicht sogar gestiegenen Nachfrage entgegen. Einmal davon abgesehen, dass man bei dem Bezug auf die gerne behauptete Rückkehr des Religiösen vorsichtig sein sollte, scheint eine Verkürzung der Probleme auf die heutige Sozialform des Religiösen zwar an einigen Stellen sicherlich nicht falsch, doch auch etwas einfach und mit dem Problem verbunden, übergreifende Nachfragedefizite des Religiösen zu ignorieren.24 Ist aus Sicht der Kritiker also vielleicht doch die Kirche der „verderbte Partner der Religion“? Das muss man zumindest hinterfragen.

Die Vehemenz der Ablehnung der Ergebnisse der KMU V ist vermutlich auch dem (falschen) Eindruck geschuldet, dass eine Identifikation von Säkularisierungsprozessen in Verbindung mit der Betonung einer die Kirchenmitgliedschaft stabilisierenden Kraft von kirchlichem Engagement und Beteiligung per se auf die Immunisierung gegen Kritik an ihren Strukturen und auf den Erhalt des Bestehenden ausgerichtet ist. Das ist aber mitnichten der Fall. Dies wird am deutlichsten in der Herausstellung der besonderen Stärke zivilgesellschaftlicher Organisiertheit im Umfeld der Kirchen und in den sozialen Forderungen ihrer Mitglieder. So müssen Kirchen in der Moderne auf die neuen und auch vielfältigen Herausforderungen angemessen reagieren. Aber eben bei aller Pluralisierung und Vielfalt auch auf übergreifende Säkularisierungsprozesse, sonst sind Überforderungen der Mitarbeiter und falsche Schwerpunktsetzungen vorprogrammiert. Hier liefern die Ergebnisse der KMU V ja nicht wenige Anhaltspunkte, wo und wie dies möglich sein könnte (Bedeutungsgewinn sozialer Netzwerke, zivilgesellschaftliche Ausrichtung, Rolle der Pfarrer und Pfarrerinnen, Ort für Persönliches).

All dies kann man, ja muss man diskutieren, allerdings eben vor nüchtern interpretierten empirischen Belegen. Vorwürfe einer impliziten („perfiden“) Vorbestimmung der Ergebnisse helfen da wohl wenig weiter, deuten sie doch eher auf eben die fehlende Reflexion über die Ergebnisse und die eigenen Annahmen hin. So wie einerseits selbst Säkularisierungstheoretiker nicht in der Lage sind, Umfragen in ihrer Gänze nur in eine Richtung zu manipulieren, so sprechen andererseits sowohl die Austrittszahlen als auch ein Gros anderer Studien für vergleichbare Entwicklungen, wie sie die KMU V präsentiert. Bei genauer Sicht findet man ähnliche Entwicklungen bereits in den früheren KMUs wieder, weswegen man wohl mit Fug und Recht bislang – es muss ja alles nicht auf ewig sein – von einer „Stabilität im Abbruch“ mit Blick auf die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche sprechen kann.

Bedenklich an dieser Kritik ist, neben manch unnötiger (und auch etwas hilfloser) personenbezogener Zuweisung, die eher ideologische und empirisch eher uninteressierte Diskussionskultur wie aber auch die daraus entstehenden Konsequenzen des Verharrens in einer als richtig gesehenen Deutung der Ausgangssituation, die faktisch nur falsche Schlussfolgerungen und Verhaltensweisen in der Zukunft nach sich ziehen kann. Will man etwas als Strategie der Selbstimmunisierung bezeichnen, so ist es eher dieses Vorgehen. Bemerkenswert ist dabei auch das Verständnis von religiöser Individualisierung, wird doch diese implizit scheinbar immer auch als christlich konnotiert. Genau dies ist aber weder die Interpretation der Privatisierungstheorie Thomas Luckmanns noch neuerer Ansätze der Individualisierungsthese.25 Individualisierte Religiosität ist etwas sehr Persönliches, Fluides – und in der Moderne weitgehend jenseits der christlichen Traditionen Stehendes. So erscheint es schwer zu ergründen, wie christliche Religiosität ohne eine soziale Verankerung und ihre Weitervermittlung bestehen soll. In solchen Fällen fehlt nach mehreren Generationen schlicht und ergreifend die Anschlussfähigkeit an die damit verbundenen Traditionen. Religion setzt sich aber eben aus einem Zusammenspiel von kulturellen Traditionen und individueller Nachfrage zusammen. Letztere wird dabei scheinbar von manchen Betrachtern gerne als eine Konstante angenommen. Menschen, die in Ostdeutschland, Estland oder der Tschechischen Republik leben, würden dies für eine hochgradig naive, wenn nicht ideologische Deutung halten. Damit wird aber auch die soziale Leistungskraft der Kirche als Gemeinschaftsform für quasi obsolet erklärt. Gerade diese soziale Bedeutung von Kirche für Religion scheint aber – in den Augen ihrer Mitglieder – etwas Wichtiges zu sein. Auch dies ist ein Ergebnis, das von den Kritikern scheinbar nicht wirklich akzeptiert – oder als nebensächlich angesehen – wird. Möglicherweise zweifelt man auch an der religiösen Selbsteinschätzung der Individuen. Schließlich fehlen ihnen ja hierfür die theologischen Kenntnisse.

Allen Einschränkungen zum Trotz hat die KMU V auf diese Weise, neben der an sie gestellten Aufgabe eines Überblicks über die Einstellungen, Hoffnungen und Erwartungen ihrer Mitglieder, zumindest eines angeregt: eine Neuaufnahme der Diskussion, welcher religiösen Entwicklung sich die evangelische Kirche stellen muss und welche Theologien dieser Entwicklung mehr oder weniger realitätsangemessen begegnen können. Ob die Annahme eines Überlebens von Religiosität, quasi als freigesetzte Spiritualität, da ausreichend ist, muss zumindest hinterfragt werden, könnte es doch Kirchenvertreter wie auch Theologen in einer Sicherheit hinsichtlich (nicht bestehender) zukünftiger Potenziale wiegen. Eine Annahme, die nicht nur ausgesprochen gefährlich sein könnte, sondern erst recht nur begrenzte Aktivitäten der strukturellen Veränderung – die ja scheinbar auch gewünscht ist – nach sich ziehen dürfte. Oder gar noch anders: Möglicherweise kommt so auch eine „ideologische“ Distanz zu Feststellungen einer durch Sozialität getragenen Kirche ans Licht, die bedeutsamer für Menschen ist, als man denkt, dabei aber weniger spirituell geprägt, als man meint. So folgt man lieber – und bis zu einem bestimmten Punkt vielleicht auch zu Recht – mit Blick auf Thesen der Individualisierung der Hoffnung einer fluiden privaten Religiosität (mit einem vielleicht christlichen Potenzial). Individualisierung ist aber nach Ulrich Beck eine gesellschaftliche Entwicklung und damit gesellschaftlich und sozial eingebunden.26 Nicht losgelöste Egoisten, sondern unter bestimmten Werten und sozialen Rahmenbedingungen Entscheidungen treffende Akteure handeln dann unter unbewusstem oder auch bewusstem Rückgriff auf soziale und historische Kontexte. Dass diese Kontexte in Deutschland bislang immer noch durch Prozesse der Modernisierung mit Individualisierung, Ausbau der Zivilgesellschaft, höhere Mobilität und auch Säkularisierung gekennzeichnet sind, zeigt aber auch die KMU V in all den Facetten ihrer empirischen Befunde recht deutlich.


Gert Pickel, Leipzig


Anmerkungen

  1. Im Folgenden wird für die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vorwiegend die Abkürzung KMU V verwendet.
  2. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2013.
  3. Typisch für die Ausrichtung auf die eher distanzierten Kirchenmitglieder ist sicherlich der Titel der dritten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung „Fremde Heimat Kirche“.
  4. Siehe auch Eberhard Hauschildt, Die Kirche ist das Pfarramt – (Nicht nur) theologische Herausforderungen für das Pfarrbild, in: epd-Dokumentation 36/2014, 20.
  5. Gerd Wegener, Wie reproduziert sich Kirchenmitgliedschaft? Zu einigen Ergebnissen der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, in: epd-Dokumentation 36/2014, 4.
  6. Vgl. Gert Pickel, Die Situation der Religion in Deutschland – Rückkehr des Religiösen oder voranschreitende Säkularisierung?, in: Gert Pickel/Oliver Hidalgo (Hg.), Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen?, Wiesbaden 2013, 85-87.
  7. Siehe Fußnote 2.
  8. Siehe die Daten der Allbus- oder der ISSP-Studienreihen. Zusammenfassend: Gert Pickel, Die Situation der Religion in Deutschland (s. Fußnote 6).
  9. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die EKD-Veröffentlichung „Engagement und Indifferenz“ (s. Fußnote 2).
  10. Hierzu Daniel Lois, Wenn das Leben religiös macht. Altersabhängige Veränderungen der kirchlichen Religiosität im Lebensverlauf, Wiesbaden 2013.
  11. Vgl. Gerd Wegener, Wie reproduziert sich Kirchenmitgliedschaft? (s. Fußnote 5), 6.
  12. Die Ergebnisse decken sich mit Gesamtbevölkerungsresultaten aus dem Bertelsmann Religionsmonitor 2013. Siehe hierzu Detlef Pollack/Olaf Müller, Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh 2013, 15.
  13. Vgl. Gerd Wegener, Wie reproduziert sich Kirchenmitgliedschaft? (s. Fußnote 5), 7.
  14. Dabei ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Säkularisierungsprozesse immer an das Umfeld und die gesellschaftlichen Kontextentwicklungen gebunden sind. Säkularisierung ist zwar ein universaler Prozess, aber in Abhängigkeit von der für sie notwendigen Modernisierungsentwicklungen (Wohlstandsgewinne für alle Bevölkerungsgruppen, Urbanisierungsprozesse, zunehmende Mobilität, Rationalisierungsschübe) und auch eingebettet in Individualisierung und Reaktionen auf religiöse Angebote.
  15. Vgl. Thies Gundlach, Erste Folgerung aus der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, in: epd-Dokumentation 36/2014, 25.
  16. Vgl. Olivier Roy, Heilige Einfalt, München 2010.
  17. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. 1997 [1901].
  18. Vgl. Robert Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000.
  19. Vgl. Gerd Wegener, Wie reproduziert sich Kirchenmitgliedschaft? (s. Fußnote 5), 9.
  20. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014, 14-21.
  21. Exemplarisch sind in dieser Hinsicht die Ausführungen von Georg Raatz, Zwischen Entdifferenzierung und Selbstimmunisierung. Eine kritische Analyse der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, in: Deutsches Pfarrerblatt 10/2014, 552-557.
  22. Hinzufügen könnte man noch, dass das Gros der verwendeten Fragen bereits in früheren KMUs Verwendung fand und fortgeschrieben wurde. Somit müssten diese gezielten Eingriffe wohl weit früher zu suchen sein als bei der KMU V.
  23. Interessanterweise wird dieser Begriff dann selbst seitens der Kritiker verwendet, ohne allerdings daraus die Konsequenz abzuleiten, dass es dann vielleicht nicht Religiosität sei. Vgl. Georg Raatz, Zwischen Entdifferenzierung und Selbstimmunisierung (s. Fußnote 21), 557.
  24. Dies führt gut aus: Volkhard Krech, Wo bleibt die Religion?, Bielefeld 2011, 241.
  25. Vgl. Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991; Hubert Knoblauch, Populäre Religion, Frankfurt a. M. 2009, 202-205.
  26. Vgl. Ulrich Beck, Der eigene Gott, Berlin 2008.