Pim van Lommel

Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung

Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Patmos-Verlag, Düsseldorf 2009, 456 Seiten, 24,00 Euro


Wissenschaftliche Untersuchungen von Erlebnissen in Todesnähe garantieren seit den Studien von Moody und Kübler-Ross eine hohe Aufmerksamkeit. Gibt es „Einblicke ins Jenseits“, auch wenn alle Hirnfunktionen ausgesetzt haben? Die Literatur darüber ist in den letzten Jahren angewachsen (vgl. zum Überblick MD 11/2009, 410-416) und wird durch vorliegende Untersuchung ergänzt. Die meisten der bisherigen Studien zur Nahtoderfahrung sind retrospektiv angelegt: Die Patienten wurden etwa nach einem Unfall, der zum Teil schon lange zurück lag, über ihre Erfahrungen befragt. Der niederländische Kardiologe van Lommel ging nun prospektiv vor, indem er systematisch alle Patienten, die in den beteiligten Krankenhäusern einen Herzstillstand überlebt hatten, nach ihren Erlebnissen befragte.

2001 wurde diese Studie in einem renommierten Fachmagazin veröffentlicht, das vorliegende Buch ist nun die populärwissenschaftliche Fassung der Untersuchung, angereichert durch weiterführende Gedanken. Insgesamt wurden in der Studie 344 Patienten untersucht, die alle zeitweilig klinisch tot gewesen waren. Während sich 82 Prozent an nichts aus der Phase ihrer Bewusstlosigkeit erinnern konnten, berichteten 62 Patienten (18 Prozent) von einer Nahtoderfahrung. Die meisten verbanden damit positive Gefühle. Sie wussten, dass ihr Körper nicht mehr lebte. Manche hatten eine außerkörperliche Erfahrung (24 Prozent), bewegten sich durch einen Tunnel (31 Prozent) oder begegneten verstorbenen Freunden und Angehörigen (32 Prozent). Die Patienten wurden nach zwei und nach acht Jahren erneut befragt. Dabei zeigten sich langfristige Wirkungen solcher Erlebnisse. Im Vergleich zu denjenigen, die keine Nahtoderfahrung gemacht hatten, hatten diejenigen Reanimierten mit einer solchen Erfahrung weniger Angst vor dem Tod, konnten ihre Gefühle besser zeigen, waren stärker in ihrer Familie integriert und verhielten sich liebevoller und empathischer.

Das Buch referiert die Studie ausführlich und ergänzt sie um Erfahrungsberichte Einzelner. Weitere Kapitel behandeln die Funktionen des Gehirns, Quantenphysik und Bewusstsein sowie mystische Erfahrungen in den Weltreligionen. Das gesamte Buch ist flüssig und allgemein verständlich geschrieben und behandelt ein spannendes Thema, das jeden angeht. Problematisch sind die Folgerungen, die Lommel aus seinen Untersuchungen ableitet: „Das Bewusstsein lässt sich nicht auf das Gehirn reduzieren, denn es ist nicht-lokal, und unser Gehirn hat für Bewusstseinserfahrungen nur eine ermöglichende, keine produktive Funktion“ (339). Das Konzept eines nicht-lokalen, damit endlosen und ewigen Bewusstseins sieht van Lommel deutlich gestützt durch die neueren Erkenntnisse aus der Quantenphysik. Ebenso weist er auf Parallelen zu den mystischen Traditionen der Weltreligionen hin, die einen vom Materiellen unabhängigen Charakter des Geistigen schon immer betont hätten.

Van Lommels Studie wirft einige interessante Fragen auf, die von ihm vorgenommenen Folgerungen sind jedoch nicht zwingend. Außerdem lässt er manche spannenden Fragen aus wie etwa die, warum 82 Prozent der Untersuchten sich an nichts erinnern konnten. Der Forscher verfolgt eine andere Frage: „Wie kann jemand ein sehr klares Bewusstseinserleben außerhalb des Körpers haben, während er klinisch tot ist und das Gehirn zeitweilig nicht funktioniert“ (169)? Der Autor findet mit seinem Konzept eines nicht-lokalen, endlosen und ewigen Bewusstseins eine für ihn schlüssige Antwort, die jedoch keine medizinische, sondern eine weltanschauliche Aussage ist. Im Rückgriff auf fragwürdige quantenphysikalische Argumente glaubt der Autor erklären zu können, wie das nicht-lokale Bewusstsein auf die Gehirnprozesse Einfluss nimmt. Aus den Weltreligionen zitiert der Autor einige Passagen, die für ihn den Glauben an die Reinkarnation stützen. In einer Nahtoderfahrung werde individuell wiederentdeckt, was an Weisheit schon jahrhundertelang in vielen Kulturen und Religionen bekannt sei. Weil die Ausschnitte sehr willkürlich ausgewählt und stark interpretierend zusammengestellt wurden, ist ihre Überzeugungskraft gering.

Auch van Lommel gelingt es nicht, das Geheimnis des Bewusstseins mit der biochemischen Funktionalität des Gehirns in Übereinstimmung zu bringen. So interessant die Forschungsergebnisse und so anregend die Fragen sind, die sich daraus ergeben: Mehr als weltanschauliche Deutungen wie „Erinnerungen an ein früheres Leben sind möglich“ (377) kann auch dieser Mediziner nicht beisteuern.


Michael Utsch