Ludwig Große

Einspruch! Das Verhältnis von Kirche und Staatssicherheit im Spiegel gegensätzlicher Überlieferungen

Ludwig Große, Einspruch! Das Verhältnis von Kirche und Staatssicherheit im Spiegel gegensätzlicher Überlieferungen, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2009, 22010, 776 Seiten, 38,00 Euro.

Es ist ein in mehrfacher Hinsicht voluminöses Werk, das anzuzeigen ist. Es sind nicht die fast 800 Seiten – allein das detaillierte Inhaltsverzeichnis umfasst elf Seiten – und die über 1700 Anmerkungen, von denen zugegebenermaßen nicht alle unverzichtbar erscheinen, die eine solche Qualifizierung nahelegen. Es ist die Fragestellung, das Problem, wodurch der Horizont nahezu gesprengt wird: „Kirche und Staatssicherheit“.Auch wenn diese Thematik im Wesentlichen – in wichtigen Fragen (so z. B. Manfred Stolpe betreffend) jedoch bewusst nicht – auf „das MfS-Gefechtsfeld Evangelisch-lutherische Kirche in Thüringen“ (46) eingeschränkt ist und es nur um „einen winzigen Ausschnitt aus dem prallen, überbordenden Leben ihrer Gemeinden“ geht, so ist doch das Feld immens: „Die Tonnenproduktion des MfS“ (58) ist unübersehbar. „Niemand vermag alles in seine Urteilsbildung einzubeziehen. Denn niemand lebt so lange“ (47).Es geht dem Verfasser dabei nicht nur um Historie, um die freilich auch: Man wird z. B. mit größtem Interesse die Passagen über Bischof Mitzenheim (519ff) lesen. Vor allem geht es ihm um eine „Hermeneutik der Stasi-Akten“ (349ff), um „Deutungshoheit und Deutungsmuster für MfS-Akten“ (653ff). Um dieses Verstehen ist – vor dem Hintergrund der „Mehrsprachenwelt“, der „Lingua quarti imperii“ (142) – zu streiten v. a. im Blick auf Personen, die durch unkritische Rezeption der Sichtweise dieser Akten zu Unrecht be- oder auch entlastet werden: „Über Nacht galt seit 1990 einfach als ‚positiv‘ und ‚unbelastet‘, was in den Akten als ‚feindlich-negativ‘ und als ‚ideologisch’ oder ‚politisch-fremdgesteuert‘ bezeichnet wird. Und umgekehrt: Wer in den Stasiakten als ‚realistisch‘ oder ‚progressiv‘ oder gar als ‚IM‘ verzeichnet stand, galt als überführt“ (63). Zu einer differenzierteren Sicht zu führen, ist wesentliches Anliegen von Große. Sein Ziel ist freilich keineswegs apologetischer Natur, ihm geht es um eine zukunftsfähige, christliche Bewältigung einer belastenden Vergangenheit: „Wir wollen mit den ‚Tätern‘ von damals nicht umgehen, wie sie mit ihren Opfern umgegangen sind“ (63).Weil es dem Verfasser angesichts dieser Akten um die Menschen geht, blickt seine Arbeit auf das Konkrete: 96 „Fallbeispiele“ weist das Inhaltsverzeichnis aus. Unzählige bekannte und unbekannte Personen sind im Blick. Aber die Untersuchung verliert sich nicht in der Unübersichtlichkeit des Einzelnen, vielmehr macht sie diese verständlich im großen Horizont.Die Darstellung ist über weite Strecken narrativ – so bereits beim Einstieg mit den Konflikten um den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ (21ff) und so auch anekdotisch am Ende, wo es um einen „runden Geburtstag“ geht (685) – und weitgehend spannend zu lesen. Zugleich ist sie von den grundsätzlichen Fragen bestimmt.Die Geschichte wird erzählt, die Dokumente werden gedeutet vor dem Hintergrund von persönlichen Erfahrungen, von persönlichem Engagement, auch von persönlichem Erleiden: Der Verfasser stand seit 1958 unter aktenkundiger Kontrolle der Stasi. Aber an keiner Stelle tritt die eigene Geschichte wehleidig-klagend oder selbstrühmend in den Vordergrund.Eine „Streitschrift“ nennt Bischof Kähler das Buch in seinem Vorwort und erklärt: „Ohne ‚Zorn und Eifer‘ wird kaum jemand die Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit betrachten können“ (5). „Sine ira et studio?“, fragt Große selbst und antwortet: „So wenig bei Zeitzeugen wie bei später Geborenen das eigene Erleben und die eigenen Grundprägungen verleugnet werden können, sollten auch Zorn und Eifer in der historisch-kritischen Auseinandersetzung nicht hinter Scheinobjektivität versteckt werden“ (522). So ist das Buch nicht eine wissenschaftliche Arbeit im herkömmlichen Sinn, sondern ein reflektiertes und reflektierendes Zeitzeugnis, das allerdings beanspruchen darf, bei aller eigenen Standpunktbezogenheit, von der Wissenschaft ernst genommen zu werden und wissenschaftlich vertretene Thesen (z. B. die Gerhard Besiers zur Rolle der Kirchenleitungen im Gegenüber zum Staat der DDR) zu relativieren.


Gebhard Böhm, Stuttgart