Werner Thiede

Einblicke ins Jenseits?

Literatur-Rückblick zur Todesnähe-Forschung

Im Kontext der Spätmoderne hat sich eine regelrechte „Todesforschung“ etabliert. Das aus dem Griechischen stammende Fachwort dafür lautet „Thanatologie“ und wird – seit 1978 ein Lexikonbegriff – definiert als „interdisziplinäres Forschungsgebiet, das sich mit Fragen des Sterbens und des Todes befasst“, unter anderem mit „Sterbeerlebnissen“ und dem Glauben „an ein Leben nach dem Tod“. Solche Thanatologie erstreckt sich auf medizinische, psychologische, soziologische, religionswissenschaftliche und theologische Disziplinen. Ihre Befassung mit Sterbenden, vor allem mit deren häufig nachweisbaren Grenzerfahrungen, hat Furore gemacht, seit Medizinerinnen und Mediziner systematisch authentischen Berichten von Menschen nachgingen, die aus dem klinischen Tod oder aus unmittelbarer Todesnähe heraus „reanimiert“, also wiederbelebt werden konnten. Da solche Reanimationen dank des medizinischen Fortschritts immer häufiger gelingen, konnten in den letzten Jahrzehnten international viele Tausende solcher Erfahrungsberichte verglichen und ausgewertet werden. Erkenntnisse an diesem Punkt zu gewinnen, an dem jede innerweltliche Hoffnung enden muss, ließen sich zunehmend als eine Frucht derselben Wissenschaft betrachten, die bislang eher den Glauben an die reine Diesseitigkeit aller Dinge gefördert hatte.

Der 1991 verstorbene Altmeister der Parapsychologie in Deutschland, Hans Bender, sprach im Blick auf die begeisterte Rezeption der Sterbeforschung in vielen Ländern von einer regelrechten „thanatologischen Welle“. Zu Recht nahm er dabei die Bezüge zur neureligiösen und zur okkulten Welle wahr, mit denen sie einherging und deren gemeinsames Kennzeichen in einem wachsenden Streben nach Bewusstseinserweiterung bestand. Von daher erklärte er die Attraktivität der Thanatologie: Hinter diesem Bedürfnis nach Bewußtseinserweiterung stehe offenbar die Frage nach dem Sinn der individuellen Existenz, die notwendig das Menschheitsproblem ihrer physischen Begrenzung durch den Tod einschließe; es handle sich um Probleme, auf die die Religionen eine Antwort böten und die nun auch im Hinblick auf das wissenschaftliche Erkennen gestellt würden.

Das grundsätzliche Dilemma der Thanatologie war damit beim Namen genannt, und es steckt ja auch schon in ihrem Namen selbst: Als „Wissenschaft vom Tode“ geht es ihr um das, was sich wissenschaftlich über den Tod ausmachen und aussagen lässt. Der Tod hat aber verschiedene Aspekte, nämlich immanente, empirisch zugängliche, und transzendente, geheimnisvolle, die in den Bereich von Religion oder Metaphysik gehören. Thanatologie enthält insofern schon in ihrem Namen die Verlockung, empirische Wissenschafts- und geistige Weltanschauungsbereiche zu vermengen. Die zahlreich bekannt gewordenen Grenzerfahrungen in Todesnähe legen in der Tat vom Gehalt ihrer Aussagen her entsprechende Grenzüberschreitungen nahe. Man fragt sich, ob die zahlreichen subjektiven Behauptungen, jenseitige Erfahrungen gemacht zu haben, zur Grundlage einer empirischen Wissenschaft vom Tode in all seinen Aspekten, eben auch den transzendent-jenseitigen, gemacht werden können. Wenn in dieser Richtung überlegt werden darf, so liegt die mögliche Relevanz der Thanatologie für die Beantwortung umfassender, letztlich religiöser Sinn- und Hoffnungsfragen auf der Hand.

• Die eigentliche „thanatologische Welle“ hob gegen Ende der sechziger Jahre in den USA an, um sich von dort aus auf alle Kontinente zu erstrecken. Sterbeforschung war aufs Engste mit dem Namen der inzwischen verstorbenen Nahtodesforscherin Elisabeth Kübler-Ross verbunden. Ihr erstes Buch „Interviews mit Sterbenden“ (1968) machte sie als Leitfigur der modernen Sterbeforschung weltbekannt. Mit zahlreichen Ehrendoktoraten zollte man ihr schließlich von akademischer Seite her international Hochachtung. Als sie im Herbst 1990 im ehemaligen Ost-Berlin einen Vortrag mit dem bezeichnenden Titel „Leben – Sterben – Übergang“ hielt, war die dortige Marienkirche mit 1300 Menschen überfüllt. Auf die Frage eines Zuhörers, ob sie an ein Leben nach dem Tod glaube, antwortete sie unter starkem Beifall: „Ich weiß, dass es ein Leben nach dem Tode gibt!“

• Während der ersten Jahre der thanatologischen Bewegung hatte der Medinziner Raymond Moody Material gesammelt und 50 Personen bezüglich ihrer Todesnähe-Erfahrungen interviewt. Den Anstoß dazu hatte seine Beobachtung gegeben, dass die Erfahrungsberichte über todesnahe Bewusstseinszustände ganz verschiedener und einander unbekannter Menschen frappante Ähnlichkeiten aufwiesen. Von daher kam er zu dem Plan, in einem Buch die gemeinsamen Elemente einschlägiger Erfahrungsberichte herauszustellen. Er fand etwa ein Dutzend solcher Elemente und verband sie in origineller, freilich nicht unbedenklicher Weise zu einer idealtypischen Todesnähe-Erfahrung, die in der Literatur und in den Massenmedien oft abgedruckt wurde. Stellvertretend für viele Einzelberichte sei sie hier leicht gekürzt zitiert: „Ein Mensch liegt im Sterben. Während seine körperliche Bedrängnis sich ihrem Höhepunkt nähert, hört er, wie der Arzt ihn für tot erklärt. Mit einemmal nimmt er ein unangenehmes Geräusch wahr, ein durchdringendes Läuten oder Brummen, und zugleich hat er das Gefühl, daß er sich sehr rasch durch einen langen, dunklen Tunnel bewegt. Danach befindet er sich plötzlich außerhalb seines Körpers, jedoch in derselben Umgebung wie zuvor ... Wie er entdeckt, besitzt er immer noch einen ‚Körper’, der sich jedoch sowohl seiner Beschaffenheit als auch seinen Fähigkeiten nach wesentlich von dem physischen Körper, den er zurückgelassen hat, unterscheidet. Bald kommt es zu neuen Ereignissen. Andere Wesen nähern sich dem Sterbenden, um ihn zu begrüßen und ihm zu helfen. Er erblickt die Geistwesen bereits verstorbener Verwandter und Freunde, und ein Liebe und Wärme ausstrahlendes Wesen, wie er es noch nie gesehen hat, ein Lichtwesen, erscheint vor ihm. Dieses Wesen richtet – ohne Worte zu gebrauchen – eine Frage an ihn, die ihn dazu bewegen soll, sein Leben als Ganzes zu bewerten. Es hilft ihm dabei, indem es das Panorama der wichtigsten Stationen seines Lebens in einer blitzschnellen Rückschau an ihm vorüberziehen läßt. Einmal scheint es dem Sterbenden, als ob er sich einer Art Schranke oder Grenze näherte, die offenbar die Scheidelinie zwischen dem irdischen und dem folgenden Leben darstellt. Doch ihm wird klar, daß er zur Erde zurückkehren muß ... Trotz seines inneren Widerstandes – und ohne zu wissen, wie – vereinigt er sich dennoch wieder mit seinem physischen Körper und lebt weiter.“

Zu jedem der hier miteinander verbundenen Visions- und Auditions-Elemente lieferte Moodys Buch Einzelbeispiele aus den Interviews. Schnell wurde das Werk gleichsam selbst zum „Totenbuch“ für eine säkulare Welt. Es entwickelte sich nicht nur in den USA zum Bestseller, wo es mehr als drei Millionen Mal verkauft wurde, sondern wurde auch in 26 Sprachen übersetzt. Als Moodys „Leben nach dem Tod“ im Sommer 1977 auf den bundesdeutschen Markt kam, wurde das Buch hierzulande ebenso zum Best- und Longseller. Bereits während der ersten acht Wochen wurden 80 000 Exemplare verkauft, nach zwei Jahren waren es 250 000.

Von diesem Sensationserfolg überrascht, schrieb Moody 1977 einen Folgeband mit dem Titel „Reflections on Life after Life“ (deutsch 1978: „Nachgedanken über das Leben nach dem Tod“). Über ein Jahrzehnt später erarbeitete er noch einen dritten Band zum Thema unter dem Titel „Das Licht von drüben“ (1989). Obwohl er hier die mittlerweile enorm verbreiterte Thanatologie in ihren wichtigsten Resultaten andiskutierte, blieb er bei seiner grundsätzlichen Überzeugung: „Todesnähe-Erlebnisse faszinieren uns, weil sie den greifbarsten Beweis für eine spirituelle Existenz erbringen, den es überhaupt gibt. Sie sind buchstäblich das Licht am Ende des Tunnels.“ Doch der Hoffnung auf schlüssige wissenschaftliche Beweise für ein Leben nach dem Tod erteilte er am Ende eine klare Absage. Für ihn blieb es nach allen Analysen ein Urteil des Herzens, dass Rückkehrer aus Todesnähe „mit einer ganz anderen Wirklichkeit in Berührung gekommen sind“. Inzwischen hat Moody seine akademischen Ämter aufgegeben. Sein Buch „Blick hinter den Spiegel“ (1994) zeugte von seinem Abstieg in mehr oder weniger spiritistische Gefilde.

• Seit Beginn der achtziger Jahre gibt es die „International Association for Near-Death Studies“ (IANDS). Erster Präsident dieser Gesellschaft wurde Kenneth Ring, ein an der Universität von Connecticut tätiger Psychologieprofessor. Er hatte 1980 mit seinem Buch „Life at Death“ nach seiner eigenen Einschätzung die erste wirklich wissenschaftlich fundierte Untersuchung von Todesnähe-Erfahrungen veröffentlicht. Sein zweites Buch erschien 1984, deutsch 1985 unter dem Titel „Den Tod erfahren – das Leben gewinnen. Erkenntnisse und Erfahrungen von Menschen, die an der Schwelle zum Tod gestanden und überlebt haben“. Wie der Untertitel besagt, reflektiert Ring hier die Frage der Interpretation von Todesnähe-Erfahrungen, wobei er zum Teil gewagte Spekulationen entfaltet. Merkwürdig undifferenziert wertet er die Grenzerlebnisse in Todesnähe als Erfahrungsgut von der Innenseite des Todes. Nun könne man begreifen, was „Tod“ wirklich heiße, und den Prozess des Sterbens in einer „ganzheitlichen Weise“ sehen. Rings offenkundig esoterische Sichtweise ist auch in einem langen Interview nachzulesen, das in dem Buch der „Erfahrungen an der Schwelle des Todes“ (1995) der Schweizerin Evelyn Elsaesser Valarino zu finden ist.

• Der amerikanische Arzt Michael Sabom hat sich in „Erinnerungen an den Tod“ (21986) besonders mit dem Phänomen befasst, dass Menschen auf dem Operationstisch mitunter genaue Beschreibungen der Vorgänge während ihrer Narkose geben können – aus einem Blickwinkel, als ob sie über dem behandelnden Ärzteteam schweben würden. Mittlerweile ist Sabom ein frommer Christ und befreundet mit dem Kardiologen Maurice Rawlings, dessen Buch „Behind Death’s Door“ bereits 1978 Aufsehen erregt hatte. Rawlings’ Überzeugung ist auf Deutsch nachzulesen in dem Buch „Zur Hölle und zurück“ (1996). Einer seiner Patienten hatte während Wiederbelebungsversuchen unmittelbar von regelrechten Höllenvisionen gesprochen, konnte sich aber Tage später nur noch an ein wunderschönes Transzendenz-Erlebnis in Analogie zu den bekannten Sterbeerfahrungen erinnern. Diese Beobachtungen wurden für Rawlings zum Schlüsselerlebnis. Er vertritt die These, dass bei etwa der Hälfte aller Todesnähe-Erfahrungen auch negative, höllenartige Visionen im Spiel seien, die aber vom Patienten im Gegensatz zu den häufig ebenso erlebten positiven Visionen verdrängt würden. Er kritisiert die nur „schönen“ Berichte bei Kübler-Ross und Moody methodisch und inhaltlich. Vor allem aber sieht er sein Material und seine These in Einklang mit jenen Bibelstellen, die von einem doppelten Ausgang am Jüngsten Tag sprechen. Im Übrigen weist er darauf hin, dass dem Apostel Paulus zufolge Satan als Engel des Lichts erscheinen könne; doch gern berichtet er auch von Jesus-Visionen in Todesnähe.

• Der Arzt Melvin Morse hat sich vor allem mit den Todesnähe-Erlebnissen von Kindern befasst und vertritt in seinem Buch „Zum Licht“ (41993) die Auffassung, der spirituelle Wert solcher Erfahrungen werde durch medizinische Erklärungsansätze in keiner Weise beeinträchtigt. Er glaubt also nicht, dass dieser neue, anatomische Blickwinkel „Gottes Botschaft in irgendeiner Weise beeinflußt“. Wie aber bestimmt sich der von Morse aufgerufene „spirituelle Wert“ von Todesnähe-Erfahrungen näherhin? Spricht sich in ihnen allen wirklich eine klare „Botschaft Gottes“ aus? Darüber, dass dies nicht der Fall ist, kann auch David Lorimers Buch „Die Ethik der Nah-Todeserfahrungen“ (1993) nicht hinwegtäuschen.

• Auf dem Gebiet der Religionswissenschaft hat die amerikanische Religionswissenschaftlerin Carol Zaleski das Buch „Nah-Todeserlebnisse und Jenseitsvisionen“ (1993) vorgelegt. Zwar sind ihre Kenntnisse des historischen und aktuellen Materials ebenso beeindruckend wie das Niveau ihrer vergleichenden Interpretation. Umso mehr enttäuscht aber der Umstand, dass auch sie dem neueren Trend der Wahrnehmung eines nur „schönen“ Sterbens insofern erliegt, als sie wiederholt behauptet, die modernen Todesnähe-Visionen würden sich im Unterschied zu den mittelalterlichen „nur dem tröstenden Aspekt des ‚guten’ Todes zuwenden“. Das ist jedoch eine grobe Pauschalisierung, die einer differenzierten Analyse der heute vorliegenden Materialsammlungen keineswegs gerecht wird.

• Religionswissenschaftlich argumentiert in Deutschland auch der Gymnasiallehrer Stefan Högl in seinem Buch „Leben nach dem Tod? Menschen berichten von ihren Nahtoderfahrungen“ (1998). Über 20 Jahre vorher war hierzulande Moodys Buch erschienen, und noch zuvor das Buch des evangelischen Theologen Johann Christoph Hampe „Sterben ist doch ganz anders. Erfahrungen mit dem eigenen Tod“ (1975). Dieses Buch erlebte zahlreiche Auflagen und wurde auch für amerikanische Leser übersetzt.

• Einige Jahre später publizierte Willem Cornelis van Dam mit seinem evangelikal geprägten Buch „Tote sterben nicht“ (71988) eine kleine Fachstudie, die zu der Ansicht kommt: „Zu unserer Überraschung stimmen aber die untersuchten Erfahrungen immer wieder mit der biblischen Botschaft überein.“ Die biblische Botschaft kenne freilich noch eine viel größere Perspektive auf eine noch reichere Zukunft hin, als sie sich in diesen Erfahrungen ankündige. Freilich nimmt van Dam keine wirklich gründlich zu nennende Untersuchung vor und ignoriert wichtige medizinische Erklärungsmöglichkeiten der betreffenden Grenzerfahrungen.

• Der Architekt Stefan von Jankovich hat sein eigenes Todesnähe-Erlebnis 1984 in einem theosophischen Verlag unter dem Titel „Ich war klinisch tot. Der Tod: mein schönstes Erlebnis“ publiziert, nachdem er es mit missionarischem Eifer in zahlreichen Zeitschriften und Illustrierten hatte darstellen lassen. Heute zählt er längst zu den führenden Popular-Esoterikern in Deutschland. In seinem 1993 erschienenen Buch „Reinkarnation als Realität“ behauptet er, während seiner Lebensrückschau im Todesnähe-Erlebnis auch gleich mehrere frühere Leben visionär durchlaufen zu haben. Hingegen fand man in seinem ersten Buch, das dieses Todesnähe-Erlebnis detailliert schildert, keine Silbe davon!

• Seit den neunziger Jahren machte in Deutschland besonders der Arzt und Psychiater Michael Schröter-Kunhardt von sich reden. Er vertritt die These, dass die Sterbeerlebnisse die Grundlage der menschlichen Religionen bilden. Religiöses Erleben beruhe auf einer biologisch angelegten Matrix, die noch viel tiefer im Unbewussten liege, als die Zugänge der Psychoanalyse reichen. Diese innere Religiosität sei viel heilsamer als jede Psychoanalyse, und Religionskritik sei daher Verkürzung der Wirklichkeit. Diese interessanten Thesen ignorieren freilich den religionswissenschaftlichen Umstand, dass die Religionen der Menschheit nach Ursprung und Gestalt äußerst vielfältig sind und sich daher unmöglich auf eine biologisch festzumachende Matrix reduzieren lassen. Der heute forcierte Dialog der Religionen stünde nicht vor so vielen Schwierigkeiten, wenn es sich mit der Quelle der Religionen so einfach verhielte, wie dies der Psychiater Schröter-Kunhardt meint.

• Erst 1999 erschien auf dem deutschen Büchermarkt ein wirklich wissenschaftliches Buch zur Nahtodesforschung, und zwar unter dem Titel „Todesnähe. Interdisziplinäre Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen“, herausgegeben von den Soziologen Hubert Knoblauch und Hans-Georg Soeffner. Ein von ihnen geleitetes Forscherteam der Universität Konstanz hat sich aufgrund sozialwissenschaftlicher Materialerhebungen und Reflexionen gegen die verbreiteten Versuche gestemmt, Todesnähe-Erfahrungen universalisierend zu deuten. Die gleiche Tendenz hat das von Hubert Knoblauch parallel dazu verfasste Buch „Berichte aus dem Jenseits. Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung“ (1999). Ausdrücklich kritisiert der Soziologe die – wie er sie nennt – „theologische“ Thanatologie jener Todesnähe-Forscher, die aus dem erhobenen Material einen mehr oder weniger generell zutreffenden, quasi-dogmatisch fixierten „Mythos“ schustern zu können meinen. Demgegenüber bringt er das „Prae“ soziologischer Forschung in die thanatologische Diskussion ein, indem er die kontextuelle Bedingtheit von Nahtod-Erlebnissen herausarbeitet, um sie als „erlebte Symbolwelten“ zu deuten. Beide Bücher beziehen sich auf eine erste bundesdeutsche repräsentative Erhebung, die deutliche Unterschiede im Erleben und Deuten vor allem zwischen West- und Ostdeutschen belegt. Das gilt etwa hinsichtlich der „himmlischen Welt“, die deutlich mehr von „Wessis“ genossen wurde, und schrecklichen Visionen, unter denen eher die „Ossis“ zu leiden hatten, aber auch hinsichtlich von Gotteserfahrungen, die bei „Wessis“ häufiger und in eher christlicher Weise gemacht wurden. Im Ergebnis steht fest: „Die Divergenzen der inhaltlichen Ausgestaltung sowie der Deutung der Todesnähe-Erfahrung verweisen auf kulturelle Einflüsse, die nicht nur die Interpretation der Erfahrung, sondern auch die Erfahrungsinhalte selbst berühren.“

• Gleichzeitig erschien 1999 in Deutschland ein Buch aus der Feder des Mathematik-Professors und Physikers Günter Ewald mit dem Titel: „‚Ich war tot’. Ein Naturwissenschaftler untersucht Nahtod-Erfahrungen“ (vgl. MD 1/2000, 23f). Ewald übernimmt hier Grundannahmen Schröter-Kunhardts, indem er die „biologische Komponente“ bei der Entstehung von Religion überhaupt betont und die gewagte These verficht, dass dabei immer Todesnähe-Erfahrungen im Spiel gewesen seien. Hierdurch ergeben sich notgedrungen religionswissenschaftliche Oberflächlichkeiten – und namentlich im Zuge seiner Ausführungen zum Christentum theologisch problematische Ansichten. Zwar mag es statthaft sein, etwa die Vision des Stephanus während seiner Steinigung unter die geschichtlich bezeugten Todesnähe-Erfahrungen zu rechnen. Exegetisch und religionswissenschaftlich gewaltsam mutet aber das Vorgehen an, die Verklärung Jesu oder gar das Gesehen-Werden des Auferstandenen als „Nahtod-Visionen der Jünger“ zu deuten: Dieser willkürliche Interpretationsversuch ist thanatologisch gesehen schon im Ansatz verfehlt, weil die Jünger sich damals weder psychologisch noch körperlich in „Todesnähe“ befunden haben. Analoges gilt für das Damaskus-Erlebnis des Paulus, das Ewald ebenfalls als Beleg für seine These heranziehen zu können meint.

Inzwischen hat Ewald ein Taschenbuch publiziert, das den Titel trägt: „Nahtoderfahrungen. Hinweise auf ein Leben nach dem Tod?“ (2006, vgl. MD 1/2007, 38f). Es stellt die gekürzte und aktualisierte Überarbeitung seines Buches „An der Schwelle zum Jenseits“ (2001) dar. In der jetzigen Form ist es seine reifste Veröffentlichung zum Thema, begleitet von seinem Buch „Gehirn, Seele und Computer“ (2006). Der Mathematiker verwahrt sich gegen die Position, Todesnähe-Erfahrungen seien rein naturwissenschaftlich erklärbar. Ebenso wehrt er sich gegen deren esoterische Vereinnahmung. Insbesondere macht er deutlich, dass Verknüpfungen solch spontaner Erfahrungen mit der Perspektive der Seelenwanderung, wie sie etwa Kenneth Ring versucht hatte, abwegig sind. Nicht nur, dass das Thema „Reinkarnation“ in Todesnähe-Visionen kaum vorkommt – die Visionen selbst sind es, die es gewissermaßen ausschließen, indem immer wieder Verwandte und Freunde geschildert werden, die die „Seele“ begrüßen und sich eben im „Jenseits“ befinden, statt längst wieder in einen neuen Leib auf der alten Erde geschlüpft zu sein. Ewald betrachtet die Reinkarnationslehre als eine Anschauung, die weder durch Erfahrungen stichhaltig begründet wird noch mit einem Menschenbild übereinstimmt, das von der Einheit des im irdischen Leben gewachsenen Ich ausgeht. Insgesamt dokumentiert er 30 selbst gesammelte Nahtod-Erfahrungen. Einleitend kritisiert er die Theologie, die sich mit den entsprechenden Forschungen immer noch viel zu wenig befasst habe, und fragt: „Haben Theologen vielleicht voreilig die unsterbliche Seele abgeschafft und müssen sich nun von denen korrigieren lassen, denen sie damit besonders entgegenkommen wollten?“ Er tritt für die Überzeugung ein, dass es sich bei diesen Erfahrungen zwar nicht um Beweise, wohl aber um Hinweise auf ein Leben nach dem Tod handelt; ferner, dass diese Überzeugung sich „mit dem heutigen Stand medizinischer und physikalischer Forschung verträgt“, und schließlich, dass sie in keinerlei Widerspruch zum christlichen Glauben steht. Vielleicht hätte in diesem Zusammenhang noch deutlicher gesagt werden sollen, dass der indirekte oder direkte Anspruch vieler solcher Visionen hinterfragt werden muss, einen unmittelbaren, „offenbarenden“ Blick ins Jenseits zu liefern.

• Einen Sammelband zur Nahtodesforschung haben hierzulande die Klinikseelsorger Andreas Bieneck, Hans-Bernd Hagedorn und Walter Koll herausgegeben. Er heißt: „‚Ich habe ins Jenseits geblickt’. Nahtoderfahrungen Betroffener und Wege, sie zu verstehen“ (2006). Ein wissenschaftliches Buch im engeren Sinn des Wortes ist bei den hier zusammengestellten Beiträgen zwar nicht herausgekommen, aber doch ein interessanter Band, dessen Reiz gerade darin besteht, ganz unterschiedliche Deutungsperspektiven darzubieten.

Die vier Hauptbeiträge reihen sich um rund 50 eigens gesammelte Erfahrungen in unmittelbarer Todesnähe. Der erste stammt von dem erwähnten Architekten Stefan von Jankovich – und enttäuscht insofern am meisten, als es sich um ein schon öfter abgedrucktes Vortragsmanuskript aus dem Jahre 1978 handelt. Als ob die Forschung inzwischen nicht weitergegangen wäre – und als ob nicht von Jankovich selbst seine eigene Todesnähe-Erfahrung inzwischen, wie bereits angemerkt, mit anderen Inhalten darbieten würde, als er es 1978 noch getan hatte!

Den zweiten Hauptbeitrag des Buches hat der katholische Theologe und Psychologe Christian Hoppe verfasst. Er vertritt eine äußerst kritische, rein naturwissenschaftlich argumentierende Position, um am Ende doch deutlich zu machen, dass er damit einer bestimmten spirituellen Deutung frönt: Religiöse Deutungen der Todesnähe-Erfahrungen lehnt er ab, weil er betont wissen will, dass „jeder Mensch in jedem Moment seines Hierseins ohne Voraussetzungen in Gott ist – nicht nur in außeralltäglichen Erlebnissen oder gar erst im Tod“.

Der dritte Aufsatz stammt von Stefan Högl: Er deutet Todesnähe-Erfahrungen als „tatsächliches Verbindungsstück zu transzendenten Wirklichkeiten“ – und damit als eine „Grundlage, die dann alle religiösen Anschauungen für sich beanspruchen“ könnten. In letzter Konsequenz bedeute dies aber auch einen Verzicht auf einen absoluten Wahrheitsanspruch. Mit dieser Aussage widersetzt sich der Autor den impliziten oder expliziten Ansprüchen vieler solcher Visionen.

Der theologisch qualifizierteste Beitrag des Bandes ist der aus der Feder des Bonner Pfarrers und Theologieprofessors Ulrich Eibach: Er macht in profunder Kenntnis des Forschungsmaterials und der theologischen Diskussion deutlich, dass Todesnähe-Erfahrungen den christlichen Glauben stärken oder wecken, ihn aber letztlich nicht begründen können.

• Inzwischen liegen von dem Heidelberger Physikprofessor Markolf H. Niemz drei einschlägige Bücher vor. Das erste heißt: „Lucy mit c. Mit Lichtgeschwindigkeit ins Jenseits. Leben nach dem Tod: Neue wissenschaftliche Indizien“ (32006), das zweite „Lucy im Licht. Dem Jenseits auf der Spur“ (München 2007), das dritte „Lucys Vermächtnis. Der Schlüssel zur Ewigkeit“ (22009). Die ersten beiden wurden bereits an dieser Stelle kritisch rezensiert (MD 4/2007, 158f, und 5/2008, 196f). Der wissenschaftlichen Diskussion helfen sie nicht wirklich weiter. Niemz legt, wie bereits Ewald, Theologie und Kirche nahe, Todesnähe-Erfahrungen und Religiosität mehr zusammenzubringen.

Tatsächlich stellt die jahrzehntelange Nahtodesforschung vor allem dort, wo sie mehr oder weniger ernsthaft betrieben, aber auch da, wo sie eher „leicht-sinnig“ in Gebrauch genommen wird, eine noch kaum erkannte, geschweige denn eine angenommene Herausforderung für Theologie und Kirche dar. Was etwa auf katholischer Seite Hans Küng („Ewiges Leben?“, 1982) oder auf evangelischer Seite Hans Schwarz („Wir werden weiterleben“, 1984), Jürgen Moltmann („Das Kommen Gottes“, 1995) und ich selbst („Die mit dem Tod spielen“, 1994) zum Thema geäußert haben, waren bestenfalls Einleitungen.


Werner Thiede, Regensburg