Helmut Obst

Ein anderer Gott?

Zum Gottesbild christlicher Sondergemeinschaften. Mormonen - Christian Science - Zeugen Jehovas

Theologie ist, wie der Name sagt, im Kern immer Lehre von Gott. Aus dem Gottesbild entwickeln sich die grundlegenden dogmatischen und ethischen Prinzipien jeder Religion. Das gilt selbst dort, wo es keinen Gott gibt, wie im Buddhismus! Christliche Gotteslehre basiert auf der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus auf der Grundlage alttestamentlicher Gottesoffenbarung. Im Mittelpunkt des christlichen Gottesbildes steht die Lehre von der Dreieinigkeit, der Trinität, Gottes. Zu ihr bekennen sich alle im Ökumenischen Rat der Kirchen zusammengeschlossenen Kirchen und Gemeinschaften.

Die Trinitätslehre als Zentrum der christlichen Lehre von Gott hat sich erst allmählich in einem spannungsreichen theologischen Ringen, das seinen Niederschlag vor allem in den altkirchlichen christologischen und trinitarischen Streitigkeiten fand, herausgebildet. Auch nach dem Abschluss dieser Auseinandersetzung gab es in den Kirchen, welche die altkirchlichen Lehrentscheidungen zur Trinitätslehre und Christologie übernommen haben, immer wieder Kräfte, die an der Trinitätslehre Anstoß nahmen und neue Wege jenseits von Interpretation und Neuakzentuierung gehen wollten. Noch mehr war dies an den Rändern der Kirche der Fall. Die Antitrinitarier der Reformationszeit signalisierten einschließlich ihrer vielfältigen Nachwirkungen den neuzeitlichen Wiederbeginn des theologischen Kampfes um die Trinität und damit um die christliche Gotteslehre. Vor allem außerhalb der Kirchen, in religiösen Reform- und Protestbewegungen, die sich nicht nur als christlich verstehen, sondern mit dem Anspruch auftreten, das wahre Christentum in zeitentsprechender Fortentwicklung zu repräsentieren und damit die wahre Kirche Jesu Christi in unserer Zeit zu sein, entwickelten sich trinitarische und christologische Häresien, die Anliegen der altkirchlichen Häresien aufnahmen.

Die Zahl dieser Gruppierungen nahm vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch zu. Nicht wenige von ihnen kamen aus den USA. Meist unbemerkt von den großen und etablierten Kirchen, ganz gleich ob Konfessionskirche oder Freikirche, erfolgten völlige Neuinterpretationen oder Korrekturen der christlichen Gottes- und Trinitätslehre.

Massive Umdeutungen des traditionellen Gottesbildes finden wir mit Ausnahme der apostolisch-neuapostolischen Gemeinschaften2 in den meisten der großen religiösen Sondergemeinschaften, die im 19. Jahrhundert entstanden, sich exklusiv als wiederhergestellte Kirche Jesu Christi verstehen und heute weltweit verbreitet sind. Die Trinitätslehre wurde zum Ausgangspunkt zentraler Sonderlehren. Das soll an drei bis heute sehr aktiven und bekannten Gemeinschaften nordamerikanischen Ursprungs modellhaft verdeutlicht werden: der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Christian Science und den Zeugen Jehovas.

Die „Trinitätslehre“ der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage

Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage” (Mormonen) wurde am 6. April 1830 in Fayette (USA) gegründet. Ihr Gründer, Prophet und Präsident war der Farmersohn Joseph Smith (1805-1844). Lehrgrundlagen dieser heute mehr als 11 Millionen Mitglieder zählenden Religionsgemeinschaft sind die Bibel, das Buch Mormon sowie die in „Lehre und Bündnisse” und der „Köstlichen Perle” zusammengefassten Offenbarungen.

Entsprechend dem mormonischen Entwicklungsprinzip befindet sich auch die Lehre dieser Religionsgemeinschaft in einem ständigen Entwicklungsprozess, dessen Grundlagen jedoch durch die bereits vorliegenden Offenbarungen gegeben sind. Es lassen sich deshalb durchaus verbindliche Lehraussagen feststellen. Dazu gehört die Rede vom „Vater, Sohn und Heiligen Geist” in Lehre und Verkündigung.

Wer einer Taufe in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage beiwohnt, wird eine trinitarische Taufformel hören: „Beauftragt von Jesus Christus, taufe ich dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.”3 Die mormonische Taufe wurde, weil formal „rite” vollzogen, von den großen christlichen Kirchen über 150 Jahre lang als gültig anerkannt. Einige Kirchen tun dies heute noch. Der Rat der EKD empfahl den Gliedkirchen am 17./18. Juli 1992, „die Taufe der Mormonen nicht als christliche Taufe anzuerkennen”.4 Die römisch-katholische Kirche weigerte sich zu diesem Zeitpunkt noch, diesem Schritt zu folgen. Die Glaubenskongregation sah „keine hinreichenden Gründe, die es erlaubten, die gegenwärtige Praxis des Nichtbestreitens der Gültigkeit der Mormonentaufe zu ändern”.5 Doch am 5. Juni 2001 korrigierte die Glaubenskongregation ihren Standpunkt und erklärte die mormonische Taufe für ungültig.

Theologischer Ausgangspunkt für die Entscheidungen der evangelischen wie der römisch-katholischen Kirche war die mormonische „Trinitätslehre”. „Unter der Dreifaltigkeit, auf die dem äußeren Wortlaut nach getauft wird, verstehen Mormonen etwas so völlig vom christlichen Glauben Verschiedenes, daß ihre Lehre nicht einmal unter den Begriff der Häresie fällt und die Bestimmungen über die in nichtkatholischen Kirchen gespendete Taufe (CIC can. 869 § 2) nicht zur Anwendung kommen.”6

Was sind die Grundaussagen der mormonischen „Trinitätslehre”, die mit dem Anspruch auftritt, auf der Grundlage der Offenbarungen durch Joseph Smith die „ursprüngliche Gotteserkenntnis” wiederherzustellen? Bevor wir diese Frage beantworten, ist zu klären, wie es nach mormonischem Verständnis zur Wiederherstellung der ursprünglichen Gotteserkenntnis und damit zur Korrektur der aus dieser Sicht unrichtigen Trinitätslehre der großen christlichen Kirchen kam. Joseph Smith empfing die entscheidenden Erkenntnisse zur Erneuerung der „ursprünglichen Gotteserkenntnis” nicht durch Bibelstudium, sondern durch unmittelbare Offenbarung. Am Anfang seines Weges als Prophet und Gründer der wahren christlichen Kirche der Endzeit steht die Selbstoffenbarung Gottes, durch die Smith das wahre Wesen der Gottheit erkannt haben will. Im Frühjahr 1820 hatte der damals 14-Jährige seine erste Vision. Er berichtete: „Als das Licht auf mir ruhte, sah ich zwei Gestalten von unbeschreiblicher Helle und Herrlichkeit über mir in der Luft stehen. Eine von ihnen redete mich an, nannte mich beim Namen und sagte, dabei auf die andere deutend: Dies ist mein geliebter Sohn. Ihn höre!”7 Gott der Vater und Jesus Christus hatten sich ihm, davon war Smith überzeugt, in Person offenbart. Diese Überzeugung ist der Ausgangspunkt für die mormonische „Trinitätslehre”: „Joseph Smith’ Vision ließ deutlich erkennen, daß Gott Vater und Gott Sohn getrennte Personen sind und einen ebenso fühlbaren Körper wie der Mensch haben. Außerdem wurde ihm offenbart, daß der Heilige Geist eine aus Geist bestehende und von Gott Vater und seinem Sohn getrennte Person ist.”8

Mit diesen Feststellungen sind wir bei den Grundaussagen der tritheistischen mormonischen „Trinitätslehre”. In einem „Leitfaden” für neue Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wird versucht, das mormonische Gottesbild so zu erklären: „Der himmlische Vater, Jesus Christus und der Heilige Geist bilden gemeinsam die Gottheit. Sie sind eins in all ihren Absichten. Jeder von ihnen hat im Erlösungsplan eine wichtige Aufgabe. Der himmlische Vater ist unser Vater und Herrscher. Jesus Christus ist unser Erretter. Der Heilige Geist ist der Offenbarer und gibt Zeugnis von der Wahrheit.”9 Die drei voneinander getrennten Personen der Gottheit bilden eine Art himmlischen Rat, dem übrigens die Leitung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage entspricht, an deren Spitze ebenfalls ein Dreierkollegium (Präsident und zwei Ratgeber) steht.

Gegen die herkömmliche christliche Lehre von der Einheit der drei göttlichen Personen wird nachdrücklich polemisiert. Die Christenheit habe spätestens seit dem Konzil von Nicäa 325 n. Chr. ein falsches Gottesbild aufgebaut, Gott zum Götzen gemacht.10 Bibelstellen, wie Joh 4,24 „Gott ist Geist”, werden umgedeutet oder anders übersetzt.11

Das Verhältnis der drei göttlichen Personen zueinander ergibt sich für mormonische „Theologie” aus dem Verständnis ihres Wesens und hat dort seine Ursache. Ausgangspunkt ist die mormonische Lehre von Gott dem Vater, der im Alten Testament „Elohim” genannt wird. Er ist nicht von Ewigkeit her Gott, sondern der Entwicklung unterworfen, jedoch die höchstentwickelte aller Persönlichkeiten, der Erste unter im Prinzip Gleichen. In ihm haben wir weder den Schöpfer der Materie noch aller Persönlichkeiten zu sehen.

Joseph Smith lehrte: „Gott selbst war einst wie wir jetzt sind. Er ist ein erhöhter Mensch und sitzt auf seinem Thron in jenen Himmeln!”12 Das bedeute jedoch nicht, so mormonische Autoren unter Berufung auf Smith, dass Gott nicht „allmächtig, allgegenwärtig und allwissend – ohne Anfang der Tage oder Ende des Seins” wäre.13 Unverkennbar gibt es Spannungen im mormonischen Bild von Gott dem Vater; unverkennbar und eindeutig ist jedoch das die mormonische Heilslehre prägende und durchdringende Fortschrittsprinzip in der Gotteslehre angelegt und hat von hier seinen Ausgangspunkt. Gott entwickelt sich weiter. „Sein Fortschritt vollzieht sich dergestalt, daß er Welten erschafft und bevölkert, daß er baut und vergrößert, und nicht in der Weise, daß er nach Wahrheit forschen muß, weil er sie nicht in ihrer Vollständigkeit kennt.”14

Jesus Christus ist in dieser Sicht im buchstäblichen Sinn ein Sohn Gottes des Vaters, von ihm mit einer himmlischen Mutter gezeugt. Von Jesus Christus, den nach mormonischem Verständnis das Alte Testament „Jehova” nennt, wird gesagt: „Der erste Geist, der unseren himmlischen Eltern geboren wurde, war Jesus Christus.”15 Der Erstgeborene Gottes war es dann auch, der die Mission übernahm, Schöpfungsmittler und Erlöser für die Erde zu werden. So wurde er für die Menschen zum Schöpfer und zum Vater und bleibt doch der Sohn Gottes des Vaters.16 Der Heilige Geist, die dritte Person im Rat der Gottheit, hat, so wird betont, anders als der Vater und der Sohn „einen Körper aus Geist, der in seiner Form dem eines Menschen gleicht [...]. Er kann sich zu einer Zeit nur an einem Ort aufhalten, sein Einfluß kann jedoch überall gleichzeitig wirken.”17 Der Heilige Geist ist der Bote Gottes des Vaters.

Das Verhältnis der drei Personen der Gottheit wird eindeutig subordinatianisch definiert. „Jesus Christus ist größer als der Heilige Geist; dieser ist ihm untertan, und Gott Vater ist größer als Jesus Christus.”18

Die hier genannten Grundzüge des mormonischen Gottesbildes, die im Detail noch zu entfalten wären, zeigen, welch fundamentale Unterschiede zur christlichen Trinitätslehre bestehen. Es wäre interessant zu untersuchen, welche Elemente altkirchlicher trinitarischer und christologischer Häresien sich im Einzelnen in der mormonischen Gotteslehre finden lassen.

Gott als „dreieiniges Prinzip“ bei Christian Science

In einen anderen Kontext einzuordnen und durch völlig andere religiöse Anliegen und Ziele innerhalb der nordamerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts geprägt, ist die Christliche Wissenschaft – Christian Science. Sie wurde von der Amerikanerin Mary Baker Eddy (1821-1910) mit dem Ziel gegründet, „das ursprüngliche Christentum und sein verlorengegangenes Element des Heilens wieder einzuführen”.19 1895 entstand in Boston (USA) „Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter”, der sich bis heute etwa 2200 „Zweigkirchen” in ca. 70 Ländern angeschlossen haben. Christliche Wissenschaft will an Wort und Werk Jesu Christi erinnern. Im Unterschied zu den traditionellen christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften soll dies jedoch nicht im Rahmen eines „Glaubenssystems” erreicht werden, sondern durch eine „Wissenschaft”, die „exakt, lehrbar und erlernbar, anwendbar und beweisbar, unpersönlich, zeitlos, bedingungslos und universal” ist.20

Grundlage dafür ist, so wird betont, „das inspirierte Wort der Bibel”21, das allerdings der Auslegung bedarf. Dieser Aufgabe unterzog sich Mary Baker Eddy in ihrem für alle christlichen Wissenschaftler maßgebenden Hauptwerk „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”.

Welche Rolle spielt nun die Trinitätslehre im System der „Christlichen Wissenschaft”, die den Anspruch der Christlichkeit ja bereits im Namen erhebt?

Es ist das Gottesbild, von dem der von Mary Baker Eddy gezeigte Heilsweg seine Begründung und innere Logik erhält. Gott wird verstanden als das zentrale Prinzip der „Wissenschaft aller Wissenschaften”. Er „ist GEMÜT, GEIST, SEELE, PRINZIP, LEBEN, WAHRHEIT, LIEBE, die unkörperlich, göttlich, allerhaben, unendlich sind”.22 Diese Ausdrücke „beziehen sich auf einen absoluten GOTT. Sie sollen auch die Natur, das Wesen und die Gesamtheit der Gottheit ausdrücken. Die Attribute GOTTES sind Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Weisheit, Güte usw.”23

Mary Baker Eddy spricht von Eigenschaften eines „dreieinigen PRINZIPS – LEBEN, WAHRHEIT und LIEBE –, das GOTT genannt wird“.24 Vertreter der Christlichen Wissenschaft können von ihrem Selbstverständnis her feststellen: „Die Trinität ist essentiell für Christian Science.”25 In der „Darlegung der wichtigen Punkte oder der religiösen Glaubenssätze von Christian Science” findet sich in Punkt 2 in formaler Anlehnung an klassische christliche trinitarische Konfessionen das Bekenntnis zu Gott, zu seinem Sohn und dem Heiligen Geist. Es heißt dort: „Wir bekennen und verehren einen allerhabenen und unendlichen GOTT. Wir bekennen uns zu Seinem Sohn, einem Christus; zum Heiligen Geist oder göttlichen Tröster.”26 Inhaltlich steht hinter dieser trinitarischen Formel jedoch eine Lehre von Gott, die eine fundamentale Korrektur der herkömmlichen christlichen Gottes- und Trinitätslehre sein will.27 Mary Baker Eddy, die keinerlei theologische Vorkenntnisse besaß, fasste die kirchliche Trinitätslehre offenbar im Sinne eines Tritheismus auf, wie wir ihn auch bei den Mormonen finden. Sie stellt fest: „Die Theorie von drei Personen in einem GOTT (das heißt von einer persönlichen Dreiheit oder Dreieinigkeit) weist eher auf Vielgötterei hin als auf den einen immer-gegenwärtigen Ich bin.”28

Ihre Trinitätslehre ist eine Prinzipienlehre: „LEBEN, WAHRHEIT und LIEBE bilden die dreieinige Person, die GOTT genannt wird – das heißt, das dreifach göttliche PRINZIP, LIEBE. Sie stellen eine Dreiheit in der Einheit dar, drei in einem – gleich im Wesen, doch vielgestaltig in der Aufgabe: GOTT, Vater-Mutter; Christus, die geistige Idee der Sohnschaft; die göttliche Wissenschaft oder der Heilige Tröster. Diese drei drücken in der göttlichen Wissenschaft die dreifache wesentliche Natur des Unendlichen aus.”29 Gott ist ein dreieiniges Prinzip aus Leben, Wahrheit und Liebe.30 Das ist der Kern der „Trinitätslehre” der Christlichen Wissenschaft. Von diesem Gottesbild aus erschließt sich das gesamte Lehrsystem der Christlichen Wissenschaft. Zu den Konsequenzen einer so verstandenen Trinitätslehre gehören eine Christologie und Soteriologie, die sich von den entsprechenden Lehren der traditionellen christlichen Kirchen fundamental unterscheiden und die Frage nach der „Christlichkeit” der Christlichen Wissenschaft stellen. Mary Baker Eddy unterscheidet zwischen Jesus und Christus: „Jesus ist der menschliche Mensch und Christus ist die göttliche Idee; daher die Dualität von Jesus dem Christus.”31 Die für die Botschaft des Neuen Testamentes zentrale Lehre vom stellvertretenden Leiden und Sterben Jesu Christi hat im System der Christlichen Wissenschaft keinen Platz. Erlösung besteht darin, dass Jesus den Menschen den Weg zum Heil durch Überwindung des Irrtums von der Realität der Materie und des Bösen gezeigt hat.32 Jesus litt und starb, um die Macht der Wahrheit zu zeigen, nicht aber stellvertretend für die Sünden der Menschheit. Die Erlösungslehre von Christian Science ist trotz des christlichen Vokabulars eine andere als die des Neuen Testaments. Der entscheidende Ausgangspunkt dafür ist die Lehre Mary Baker Eddys von der „dreifache[n] wesentliche[n] Natur des Unendlichen”33, das heißt die Lehre von Gott.

Die Ablehnung der Trinitätslehre bei den Zeugen Jehovas

Die bekannteste unter den neuzeitlichen religiösen Protestbewegungen mit heute ca. 6 Millionen „Verkündern” in über 200 Ländern ist die „Neue-Welt-Gesellschaft” der Zeugen Jehovas. Ihr Gründer, der Kaufmann Charles Taze Russell (1852-1916), geriet durch die calvinistische Lehre von der doppelten Prädestination und das dahinter stehende Gottesbild in Zweifel an der Wahrheit der biblischen Botschaft und der Gültigkeit kirchlicher Glaubensbekenntnisse. Die von ihm und seinen Nachfolgern entwickelten Lehren sind in ihrer Kritik an den bestehenden Kirchen und ihren Lehraussagen von größter Radikalität. Den christlichen Dogmen wird ein eigenes, in sich geschlossenes Lehrsystem gegenübergestellt, das den Anspruch erhebt, allein und ausschließlich auf biblischer Grundlage zu beruhen. Von diesem Anspruch her wird auch die Trinitätslehre der christlichen Kirchen als unbiblisch abgelehnt und scharf kritisiert. Die Kritik ist eingebettet in eine negative Sicht der Kirchengeschichte, die, abgesehen von einzelnen Zeugen der Wahrheit, Verfallsgeschichte ist.

„Bald nach dem Tod der Apostel übernahmen abtrünnige Lehrer aus der Gemeinde die Leitung. Sie verdrehten bestimmte Lehren [...].”34 Viele Christen wandten sich unter ihrem Einfluss „unwahren Geschichten“ zu.35 Zu diesen unwahren Geschichten gehört auch die Lehre von der göttlichen Trinität, die als „das Zentraldogma der Kirchen” bezeichnet wird.36 Der Kampf gegen die Trinitätslehre, der Nachweis, dass es sich bei der Trinitätslehre um eine Irrlehre handelt, spielt deshalb in der Literatur und der Verkündigung der Zeugen Jehovas eine wichtige Rolle.37

Zunächst wird unter Rückgriff auf Äußerungen namhafter Theologen und kirchlicher Amtsträger über das Geheimnis der Trinitätslehre hervorgehoben, dass es sich bei ihr sogar nach dem Zeugnis ihrer Vertreter um eine „verwirrende” Lehre handele, zu der bestenfalls Theologen, aber keine „einfachen Leute” einen Zugang finden. Entscheidend sei jedoch, das wird in den Mittelpunkt der Polemik gestellt, dass der christlichen Trinitätslehre jede biblische Grundlage fehle. Ausführlich setzt man sich mit den Bibeltexten auseinander, die seitens der Theologen für die Begründung der Trinitätslehre herangezogen werden.38 „Wäre die Lehre von der Dreieinigkeit wahr, so müßte sie klar und konsequent in der Bibel dargelegt sein.”39 Und das eben sei sie nicht, wie man minutiös nachzuweisen versucht. Auch der frühchristlichen Theologie sei sie fremd gewesen. „Die Bibel und die Geschichte bezeugen somit, daß die Dreieinigkeit in biblischen Zeiten und während mehrerer Jahrhunderte danach unbekannt war.”40

Unter dem maßgebenden Einfluss römischer Kaiser, heidnischer Triaden-Vorstellungen, des Platonismus und anderer widergöttlicher Einflüsse entwickelte sich, so wird betont, die Trinitätslehre erst seit dem 4. Jahrhundert und setzte sich schließlich in der Kirche durch. Diese These versucht man durch Zitate aus Werken von Theologen, Religionswissenschaftlern und Historikern zu belegen.41 Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, dass nach Meinung der Zeugen Jehovas die Bibel selbst, vor allem das Neue Testament, der kirchlichen Trinitätslehre widerspricht. Sie sagt, so wird unterstrichen: „Gott ist einer, nicht drei”, „in Gott sind nicht mehrere Personen”.42

Nur Jehova ist Gott, Jesus sein Geschöpf, der „einziggezeugte Sohn“ Gottes43; er steht deshalb „in bezug auf Alter, Macht und Wissen an zweiter Stelle”.44 Jesus hat einen Anfang und Jehova ist auch sein Gott. Als „der älteste in der Familie der Söhne Jehovas”45 gilt Jesus von Natur her als ein Engel, der Erzengel Michael und Jesus sind identisch. Nicht zufällig zählt schon für Russell Arius, der große Bestreiter der Gottheit Jesu, zu den Sendboten der wahren Kirche während des Evangeliumszeitalters!

Der „Heilige Geist ist Gottes wirksame Kraft, keine Person”.46 Der Nachfolger Russells in der Leitung der Wachtturmgesellschaft, Joseph Franklin Rutherford (1869-1942), kann den Heiligen Geist als die „unsichtbare Kraft oder den Einfluss Jehovas” bezeichnen.47

Das Verständnis Gottes des Vaters, d. h. Jehovas, des Sohnes Jesus Christus und des Heiligen Geistes ist also im Lehrsystem der Zeugen Jehovas ein fundamental anderes als in den christlichen Kirchen. Selbstverständlich wird bei der Taufe der Zeugen Jehovas keine trinitarische Formel verwendet. Die Ablehnung der Trinitätslehre ist in der Sicht der Wachtturmgesellschaft Kennzeichen wahren Christentums.

Von den Zeugen Jehovas wurde ein umfangreiches Auslegungs- und Argumentationssystem entwickelt, um nachzuweisen, dass die Bibel ihren Standpunkt bestätigt, ja ihre Lehre der Lehre Jesu entspricht. Die christliche Trinitätslehre wird von den Zeugen Jehovas gern genutzt, um in ein missionarisches Gespräch mit Gliedern der Kirchen einzusteigen. Es gibt verschiedene Anleitungen, wie dabei verfahren werden sollte. Ein Beispiel dafür: Auf die Frage „Glauben Sie an einen dreieinigen Gott?” könnte man sagen: „‚Nein. Wissen Sie, es gibt Bibeltexte, die ich mit diesem Glauben einfach nicht vereinbaren kann, zum Beispiel ... [Mat. 24:36]. Vielleicht können Sie mir das erklären.’ Dann könnte man hinzufügen: (1) ‚Wenn Sohn und Vater einander gleich sind, wie kommt es dann, daß der Vater gewisse Dinge weiß, die der Sohn nicht weiß?‘ Wenn geantwortet wird, dies sei lediglich auf Jesu menschliche Natur zurückzuführen, könnte man fragen: (2) ‚Warum weiß es aber auch der heilige Geist nicht?‘ (Wenn die Person wirklich aufrichtig an der Wahrheit interessiert ist, zeige man ihr, was die Bibel über Gott sagt [Ps. 83:18; Joh. 4:23, 24].)”48

Bibelstellen, welche von Vertretern der Trinitätslehre und damit der Göttlichkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist im Sinne der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse als Belege und Hinweise auf die Richtigkeit ihrer Auffassung herangezogen werden, versucht man, meist auf der Grundlage der eigenen Neue-Welt-Bibelübersetzung, anders zu interpretieren. Aus der großen Zahl möglicher Beispiele dafür seien nur drei genannt:

Der Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1-2) wird unter Verweis auf zahlreiche Exegeten folgendermaßen übersetzt: „Im Anfang war das WORT, und das WORT war bei GOTT, und das WORT war ein (!) Gott. Dieser war im Anfang bei GOTT.”49

Das Jesuswort nach Joh 10,30 „Ich und der Vater sind eins” beinhalte keineswegs eine Aussage über die Gleichheit Jesu mit Gott (Jehova) und damit die Göttlichkeit Jesu. Denn „in Johannes 17:21 ( [Einheitsübersetzung]) betete Jesus mit Bezug auf seine Nachfolger: ‚Alle sollen eins sein‚ und fügte noch hinzu: ‚Denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind.‘ In allen Fällen gebrauchte er dasselbe griechische Wort (hen) für ‚eins‘. Jesu Jünger werden offensichtlich kein Teil der Dreieinigkeit. Sie bilden aber mit dem Vater und dem Sohn eine Einheit, was ihr Ziel betrifft, dieselbe Art von Einheit, durch die Gott und Christus miteinander vereint sind.”50

Eine trinitarisch scheinende Segensformel wie 2. Kor 13,14 besage „weder, daß Vater, Sohn und Heiliger Geist gleichrangig oder gleich ewig seien, noch daß sie alle Gott seien”.51

Ein sehr bemerkenswertes Argument unter denen, die geltend gemacht werden, zu beweisen, dass der Heilige Geist keine Person ist, sei noch erwähnt. „Die Heilige Schrift offenbart uns den persönlichen Namen des Vaters – Jehova. Wir erfahren daraus, daß Jesus Christus der Sohn ist. Aber nirgends wird darin der heilige Geist mit einem persönlichen Namen erwähnt.”52 Im Mittelpunkt der exegetischen Polemik gegen die Kirchen steht jedoch nachzuweisen, dass Jehova Gott sei. Zentraler Bestandteil der Lehre der Zeugen Jehovas ist eine neuzeitliche, aber keineswegs neue Variante des Antitrinitarismus und Arianismus.

Christlicher Glaube ist Glaube an den dreieinigen Gott

„Es geschieht nichts Neues unter der Sonne“, diese uralte Einsicht des Predigers Salomo (Pred 1,9) gilt auch für die neuzeitlichen trinitarischen und christologischen Häresien, wie sie am Beispiel dreier Religionsgemeinschaften der Gegenwart vorgestellt wurden. Zentrale Elemente eines von der Alten Kirche bereits abgelehnten Gottesbildes und Christusverständnisses leben in ihnen im neuzeitlichen Gewand wieder auf. Ihre Faszination für Millionen Menschen in der ganzen Welt muss die christlichen Kirchen, muss die trinitarisch orientierte Ökumene nachdenklich und – was noch wichtiger ist – trinitarisch und christologisch sprachfähig machen. Die Gottesfrage und damit das Gottesbild stehen im Zentrum jeder religiösen Debatte. Sie stehen ebenso im Kern jeder persönlichen Glaubensentscheidung, bedürfen aber der Reflexion und der überzeugenden Interpretation nach innen und außen, denn christlicher Glaube ist stets Glaube an den dreieinigen Gott.


Helmut Obst, Halle/Saale


Anmerkungen

1 Diesem Beitrag liegt weitgehend ein Aufsatz zu Grunde: „Trinität? – Zur Gotteslehre christlicher Sondergemeinschaften (Mormonen, Christian Science, Zeugen Jehovas), in: Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre, Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, hg. v. Ingolf U. Dalferth / Johannes Fischer / Hans-Peter Großhans, Tübingen 2004, 405–416.

2 Innerhalb der neuapostolischen Gruppen bildet die kleine, nur in Deutschland vertretene „Gemeinschaft des göttlichen Sozialismus – Apostelamt Juda” eine Ausnahme.

3 Lehre und Bündnisse der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Offenbarungen, die der Prophet Joseph Smith empfangen hat, nebst einigen Beifügungen seiner Nachfolger in der Präsidentschaft der Kirche, hg. von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Frankfurt/M. 1981, 33 (Abschnitt 20:73).

4 Nichtanerkennung der Taufe der Mormonen, in: Amtsblatt der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Heft 7/8, 5.9.1992, 62-66.

5 Ebd., 62.

6 Walter Schöpsdau, Taufe der Mormonen ungültig, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 5/2001, 93.

7 Auszüge aus der Lebensgeschichte des Propheten Joseph Smith, in: Die köstliche Perle. Eine Auswahl aus den Offenbarungen, Übersetzungen und Schriften von Joseph Smith, dem ersten Propheten, Seher und Offenbarer der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, hg. von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Frankfurt/M. 1981, 46-57, 48.

8 Joseph Fielding Smith, Lehren der Erlösung. Aus Reden und Schriften Joseph Fielding Smith‘, hg. von Bruce R. McConkie, Bd I, Frankfurt/M. 1977, 12.

9 Grundbegriffe des Evangeliums, hg. von The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints, Salt Lake City/Utah, Frankfurt/M. 1982, 30.

10 Vgl. den Abschnitt „Die seltsamen Götter der Christenheit”, in: LeGrand Richards, Ein wunderbares Werk, ja ein Wunder, hg. von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Frankfurt/M. 1982, 10f.

11 Vgl. den Abschnitt „Mißverstandene Schriftstellen über das Wesen Gottes”, ebd., 17f.

12 J. F. Smith (Hg.), Lehren des Propheten Joseph Smith, Frankfurt/M 21963, 291.

13 J. F. Smith, Lehren der Erlösung, a.a.O., 16. J. F. Smith polemisiert gegen mormonische Autoren, die lehren, Gott wäre nicht allmächtig und allwissend (vgl. ebd., 15ff).

14 Ebd., 19.

15 Grundbegriffe des Evangeliums, a.a.O., 9.

16 Vgl. J. F. Smith, Lehren der Erlösung, a.a.O., 37f.

17 Grundbegriffe des Evangeliums, a.a.O., 29f.

18 J. F. Smith, Lehren der Erlösung, a.a.O., 27.

19 Faltblatt „Christian Science”, hg. vom Christian Science Komitee für Veröffentlichungen, Berlin 1994.

20 Leitfaden für das Studium der Christlichen Wissenschaft, Nr. 1, Einführung, o. O., o. J., 6.

21 Mary Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, hg. von The First Church of Christ, Scientist, Boston/Massachusetts 1997, Deutsch-Druck 1998, 497.

22 Ebd., 465.

23 Ebd.

24 Ebd., 469.

25 Christian Science Komitee für Veröffentlichungen, Deutschland, Brief vom 7.10.2003.

26 M. B. Eddy, Wissenschaft und Gesundheit, a.a.O., 497.

27 Da die Christliche Wissenschaft keine Taufe durchführt, stellt sich die Frage nach der Taufformel nicht.

28 M. B. Eddy, Wissenschaft und Gesundheit, a.a.O., 256.

29 Ebd., 331f.

30 Vgl. ebd., 469.

31 Ebd., 473.

32 Vgl. ebd., 51.

33 Ebd., 331f.

34 Der Wachtturm, Vol. 124, No. 17, 1.9.2003, 5.

35 Ebd.

36 Sollte man an die Dreieinigkeit glauben?, hg. von Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania, o. O., 1989, 3.

37 Vgl. z. B. die Artikel „Dreieinigkeit (Dreifaltigkeit, Trinität)“ in: 1.) „Vergewissert euch aller Dinge; haltet an dem fest, was vortrefflich ist”, hg. von der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Wien, o. O., 1974, 113-119, und 2.) Unterredungen anhand der Schriften, hg. von der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig e.V., Selters 1985, 90-111.

38 Vgl. Unterredungen, a.a.O., 97-109.

39 Sollte man an die Dreieinigkeit glauben?, a.a.O., 5.

40 Ebd., 7.

41 Vgl. ebd., 8ff.

42 Ebd., 12f.

43 Ebd., 15.

44 Ebd., 14.

45 Unterredungen, a.a.O., 93.

46 Vergewissert euch aller Dinge; haltet an dem fest, was vortrefflich ist, a.a.O., 117.

47 Joseph Franklin Rutherford, Die Harfe Gottes, Magdeburg 1922, 15.

48 Unterredungen, a.a.O., 110.

49 Ebd., 101.

50 Ebd., 109.

51 Ebd., 99.

52 Ebd., 92.