Lutz Lemhöfer

Eberhard Arnold und die alternativ-christliche Gemeinschaft der Bruderhöfe

Es begann in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Rechte und Linke stritten lautstark und nicht selten gewaltsam um ihren Einfluss in Politik und Gesellschaft. Dutzende von Heilspredigern verkündeten Programme zur jeweils einzig richtigen Reform des Lebens und der Menschheit. Da erschienen 1925 in der Zeitschrift „Die Wegwarte“ folgende Sätze: „Alle Revolutionen, alle Vereinsbildungen idealistischer und lebensreformerischer Art treiben uns immer wieder zu der Einsicht, dass der Glaube an das Gute, der Wille zur Gemeinschaft nur durch eines lebendig sein kann: durch das klare Beispiel der Tat. Wir haben nur ein Kampfmittel der Verdorbenheit der heutigen Zustände gegenüber. Diese Waffe ist die aufbauende Arbeit der Gemeinschaft der Liebe. Wir müssen in Gemeinschaft leben, weil Gott will, dass wir auf die unklare Sehnsucht der heutigen Menschheit eine klare Glaubensantwort geben.“1

Leben nach der Bergpredigt: Der erste Bruderhof wird gegründet

Der Mann, der das schrieb, wusste, wovon er sprach. Der Philosoph und Theologe Dr. Eberhard Arnold2  hatte nach einer persönlichen Bekehrung sich als Erwachsener neu taufen lassen und damit den sicheren Weg ins evangelische Gemeindepfarramt aufgegeben. Nach einigen Jahren wechselnder missionarischer und publizistischer Tätigkeit gründete er 1920 im Vogelsberg-Dörfchen Sannerz eine neue, christlich-sozialistische Lebensgemeinschaft, den Bruderhof. Gemeinsam mit seiner Frau Emmy, fünf Kindern und einigen treuen Weggefährten war der gelehrte Professorensohn von Berlin ins ländliche Osthessen gezogen, um nichts weniger zu realisieren als ein konsequentes Leben nach der Bergpredigt. Für ihn hieß das: gemeinsam leben und arbeiten, Verzicht auf privates Eigentum und konsequenter Pazifismus. Das war eine fromme Attacke auf die Grundpfeiler bürgerlicher Ordnung, die ja unbefragt auch in den großen christlichen Konfessionen Geltung hatte. Der fromme Revolutionär sah sich dabei durchaus an der Seite sozialistischer und anarchistischer Kämpfer für eine bessere Welt: „Wir fühlen uns mit ihnen hingezogen und hingedrängt zu allen notleidenden Menschen, zu denen, denen es an Wohnung und Nahrung fehlt und deren geistige Entwicklung durch Sklavenarbeit verkümmert ist. Wir stehen mit ihnen auf der Seite der Besitzlosen, der Entrechteten, der Erniedrigten; und doch sind und bleiben wir fern von jenem Klassenkampf, der mit lieblosen Mitteln die entgegengesetzten Gruppen zu schädigen sucht. Wir lehnen für uns den Verteidigungskrieg des Proletariats ebenso ab wie den Verteidigungskrieg der Nation.“3  Arnold berief sich dabei auf gern verdrängte Traditionen der Kirchengeschichte: auf das gemeinsame Leben der ersten Christen, auf das ursprüngliche Mönchtum, auf Franz von Assisi und die sittenstrengen Täufer-Bewegungen des 16. Jahrhunderts. „Wir müssen in Gemeinschaft leben, weil uns der selbe Geist dazu drängt, der vom Prophetismus und vom Urchristentum her immer wieder zum Gemeinschaftsleben geführt hat.“4

Solche Gedanken lagen in der Luft in diesen Anfangsjahren der Weimarer Republik. Wie sechzig Jahre später die Ökologie- und Alternativ-Bewegung zog es die Jugend der Weimarer Zeit heraus „aus grauer Städte Mauern“ aufs Land zu neuen, gemeinschaftlichen Siedlungsformen.5  Ein Leben im Einklang mit der Natur war ebenso wichtig wie sozialreformerische Ideale. Der zerrissenen und dekadenten Gesellschaft sollte das Ideal einer harmonischen Gemeinschaft jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung vorgelebt werden. Solche hoch fliegenden Pläne gab es von rechts bis links, von völkischen Grüppchen bis zu den Kommunisten, von Neuheiden bis Urchristen. Die Begeisterung für das vermeintlich natürliche Landleben war freilich selten von bäuerlicher Sachkenntnis getragen. Das galt auch für den Bruderhof. In ihren Erinnerungen berichtet Eberhard Arnolds Frau Emmy: „Für die Landwirtschaft hatte Eberhard einen alten Freund gewonnen, der jung verheiratet mit seiner Frau zu uns kam. Er war ein ganz lieber Mensch, ein Idealist, aber von Landwirtschaft wusste er wohl kaum etwas. So ließ er als erstes den großen Misthaufen auf dem Hof wegen des nicht schönen Anblicks wegfahren (...). Beim Melken der Kühe saß er zur Belustigung der Bauern mit einer großen Hornbrille vor der Kuh, Verse schmiedend. All das gab nicht viel Vertrauen zu unserer Landwirtschaft.“6 

Die Naivität in manchen praktischen Dingen war die eine Seite, der heilige Ernst, mit dem dieser Lebensentwurf „aus einem Guss“ praktiziert wurde, die andere. Immer neue Menschen kamen nicht nur zum zeitweiligen Besuch, sondern entschlossen sich zum Bleiben. 70 Mitglieder wurden es bis 1930: Junge Menschen, antibürgerlich und jugendbewegt, fasziniert von der frommen Gruppe und dem bei aller Armut offenen und gastfreien Haus. 1927 zog man um in den größeren „Sparhof“ in der Rhön; neben der Landwirtschaft gab es einen durchaus florierenden Verlagsbetrieb mit erbaulicher wie wissenschaftlicher christlicher Literatur und einem außerordentlich erfolgreichen Liederbuch, das sozialistische Kampflieder und christliche Choräle friedlich nebeneinander druckte und die Stimmung auf dem Hof ausdrückte: „Beim Mittagessen sangen wir aus unserem neuen ‚Sonnenliederbuch’. Wenn es nach dem Essen Arbeit in der Küche gab, wurde das Harmonium in die Küche geschoben, und wir sangen dort weiter und übten die Lieder. Alle Schulkinder waren mit dabei, marschierten durch die Essstube und sangen ‚Nie, nie woll’n wir Waffen tragen’, sehr enthusiastisch in drei Sprachen: holländisch, deutsch und englisch.“7 

Schulkinder gab es viele; neben den eigenen kamen Pflegekinder dazu, die dem Bruderhof zuliefen oder zugewiesen wurden. Zumal er seit 1928 eine gute private Volks- und Mittelschule eingerichtet hatte; ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer gab es dort eben mehr als Landwirte. Ökonomisch blieb der Bruderhof freilich immer angewiesen auf Spenden reicher Gönner, auf Geld also aus eben jenen bürgerlichen Lebensverhältnissen, die man doch zu überwinden trachtete. Dass immer genügend zum Überleben zusammenkam, war für Eberhard Arnold mehr als ein frommer Wunsch, nämlich eine Glaubenssache. Seine Enkelin Rosemarie Meier berichtet: „Wie oft ist es passiert, dass in der letzten Minute doch das Nötige kam. Zum Beispiel der Alm-Bruderhof. Wir mussten doch unsere Kinder herausnehmen aus Deutschland. Die suchten einen Platz; die waren erst in der Schweiz, dann sollten sie auch dort das Land verlassen. Da haben sie’s in Liechtenstein probiert. Er hat das Kurhaus dort gesehen, hatte aber gar kein Geld und sollte den Kostenvoranschlag machen. Und da hat er eine Frau besucht im Krankenhaus, die ihm mal geschrieben hat. Die drückte ihm ein Kuvert in die Hand beim Gehen, er machte danach das Kuvert auf: und da war die Summe drin. Solche Sachen – das ist von Gott geschenkt, ja.“8

Anders als heute war Arnold damals ein bekannter Mann. Er hielt Vorträge im ganzen deutschen Reich und hatte Kontakt zu Geistesgrößen wie dem evangelischen Theologen Karl Barth und dem jüdischen Philosophen Martin Buber. Eine langjährige Brieffreundschaft gab es mit führenden Köpfen des religiösen Sozialismus wie dem Baseler Professor Leonhard Ragaz. Als Mitorganisator vieler Treffen der Jugendbewegung genoss Arnold Respekt weit über das christliche Lager hinaus. So erinnert sich der jüdische Historiker Hans-Joachim Schoeps, der ihn als Schüler bei einem Treffen der „freideutschen“ Jugendbewegung kennen gelernt hatte: „Er war ein radikaler Christ, wie er glaubte, Christ in der reinen Form, Christ der ersten und letzten Stunde. Aber er bestritt niemals, daß auch in anderen traditionellen Bildungen des Christentums – wenn auch verkürzt und beschränkt – heiliger Geist am Werke sei. Diese Toleranz von seiner Seite machte es möglich, daß er mit uns anderen Freideutschen zusammentreffen konnte, die wir von Hause aus alles andere als Christen waren. Ein großer Teil von uns hat bewußt im Freideutschen Werkbund neben und gegen Eberhard Arnold eine humanliberale Haltung vertreten. Und es ging gut zusammen.“9 

Dabei war Arnold selbst alles andere als ein Liberaler. Dass die von ihm gegründete Gemeinschaft unter Leitung des Heiligen Geistes stand, war für ihn ausgemachte Sache. Dazu gehörte auch, dass Gegenkräfte als Werk von Dämonen gedeutet werden konnten, die in einem geistlichen Machtkampf besiegt werden mussten. Selbst Schoeps – ein Gast, kein Mitglied des Bruderhofs – erlebte nach einer zynischen Bemerkung im Gespräch, „daß Eberhard Arnold eine reguläre Dämonenaustreibung an mir vornahm. Es fehlte wenig, daß er mich, einen sechzehnjährigen Jungen, in den geistigen Zusammenbruch getrieben hätte.“10  Diese Macht traute sich Arnold zu, im Rückgriff auf die Tradition des von ihm hoch geschätzten religiösen Sozialisten und Erweckungspredigers Johann Christoph Blumhardt. Hinzu kam sein überschäumendes Temperament. Daniel Meier, der heute in Sannerz das ursprüngliche Bruderhofhaus erneuert, betont: „Er war ein sehr lebhafter Mensch, warmherzig – aber er konnte auch donnern, wenn’s drauf ankam. Aber dann, sobald das Donnerwetter vorbei war, dann hat er den Bruder oder die Schwester auch wieder mit großer Liebe aufgenommen – da war nichts zwischen den beiden. Sondern: was angegriffen wurde, war immer das Falsche, nicht der Mensch.“11

Auf der Suche nach Tradition: Die Beziehung zu den Hutterern

Bei der Suche nach dem Richtigen wurde für Arnold die Tradition der Täufer aus dem 16. Jahrhundert immer wichtiger, so dass er sie persönlich kennen lernen wollte. Ein Jahr lang besuchte Arnold 1930/31 alle Höfe der Hutterer in Amerika und Kanada. Denn im alten Europa hatte dieser Zweig der Täuferbewegung, des linken Flügels der Reformation, keinen Standort mehr. Vieles zog die Bruderhöfler an, etwa die konsequente Ablehnung von Privateigentum und militärischer Gewalt. Anderes war ihnen fremd, so die dem 16. Jahrhundert entlehnte Tracht mit langen Kleidern und Kopftuchzwang für die Frauen, dunkler Jacke und Hose für die Männer. Besonders sauer stieß den jugendbewegten Deutschen die Ablehnung von Musikinstrumenten und Tanz auf; war doch das gemeinsame Singen mit Klampfen, Flöten und Fiedeln und der keusche Reigentanz aus ihrem Leben kaum wegzudenken. Dennoch betrieb Arnold die Vereinigung mit den Hutterern; so wichtig war ihm der Anschluss an eine größere Tradition und an jahrhundertlange Erfahrung im gemeinsamen Leben. So ließ er sich 1930 als hutterischer „Diener am Wort“ einsetzen und damit den Bruderhof in die Konfessionsfamilie der Hutterer aufnehmen. Eine Beziehung, die nie spannungsfrei blieb. Zeiten der inneren Nähe wechselten mit solchen der Trennung. Seit 1996/97 sind die Bruderhöfe wieder einmal unabhängig, das Beiwort „hutterisch“ auf den bunten Faltblättern ist verschwunden. Der konservative Kleidungsstil ist geblieben, aber immerhin: die Kopftücher der Frauen sind nicht mehr einheitlich schwarz mit weißen Punkten, sondern bunt nach Belieben.

Die Gemeinschaft während der NS-Zeit: Vertreibung und Neubeginn

Besonders wichtig wurden die internationalen Beziehungen des Bruderhofs angesichts der  Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland. Sein gesamtes Lebenskonzept stand quer zur rassistischen Ideologie und zum pseudo-religiös aufgeplusterten Führerstaat. In einer Rede vom 23. April 1935 formulierte Arnold den Gegensatz in aller Schärfe: „An Stelle des Gottes-Geistes tritt das Menschenblut, an Stelle des Gottes-Atems der materialistische Glaube an die Rasse; an Stelle wahren Friedenswillens die nur scheinbar friedliche Herrschaft des Schwertes und der Kriegsvorbereitung. Und über das alles eine erbitterte Feindschaft gegen den Jesus der Bergpredigt: der Antichrist gegen Christus.“12

Schon im Jahre 1933 gab es die erste Polizei-Razzia auf dem Bruderhof; Ende des Jahres wurde die Schule aufgelöst. Die Kinder – wie später die jungen Männer im wehrpflichtigen Alter – reisten in Nacht- und Nebelaktionen ins Ausland. 1934 wurde der so genannte „Alm-Bruderhof“ in Liechtenstein gegründet, 1936 ein weiterer Bruderhof in England. Im April 1937 lösten die Nazi-Behörden den Rhön-Bruderhof ganz auf;13  die Bewohner gingen mit Hilfe ausländischer Freunde, insbesondere der holländischen Mennoniten, ins englische Exil. Eberhard Arnold selbst hat dieses Ende in Deutschland nicht mehr miterlebt; mit nur 52 Jahren war er am 22. November 1935 an den Folgen einer misslungenen Bein-Amputation gestorben. Nachdem die Bruderhöfler als Deutsche nach Kriegsbeginn auch aus England ausgewiesen wurden, siedelten sie sich 1940/41 unter schwierigsten Bedingungen in Paraguay an, dem einzigen Land, das sie aufnehmen wollte. 1954 wurde der erste Bruderhof in den USA gegründet, weitere folgten dort und in England. Heute umfasst die Bruderhof-Gemeinschaft 2500 Mitglieder auf 9 Höfen in den USA, in England und Australien. Versuche, in Deutschland wieder Fuß zu fassen, blieben kurze Episoden. Im August 2002 allerdings konnte das Haus in Sannerz erworben werden, wo damals alles angefangen hatte. Ein neuer Hof soll dort nicht entstehen, wohl aber ein Begegnungszentrum für fragende und suchende Menschen.14

Die Bruderhof-Gemeinschaft heute

Worauf lässt sich ein, wer heute dem Bruderhof beitreten will? In einer aktuellen Broschüre des Bruderhofs wird das so beschrieben: „Wir haben kein Privateigentum, sondern wie die ersten Christen teilen wir alles mit allen. Jeder stellt seine Gaben, seine Zeit und Kraft ganz der Gemeinschaft zur Verfügung. Geld und Besitz wird freiwillig zusammengelegt. Dafür wird jeder versorgt, wie er es braucht. Täglich versammeln wir uns zum Singen, zum Beten und zur gemeinsamen Beschlussfassung.“15  Wie das praktisch aussieht, erläutert Daniel Meier: „Jeder Bruderhof hat eine Küche; eine Stelle, wo man auch fragen kann nach einem Hemd, wenn eins ausgeleiert ist, nach Socken und wer weiß was. Und da wir kein Geld brauchen: Wir haben einen Haushalter, der die Sachen übersieht. Und Autos haben wir auch nur drei oder vier oder fünf auf eine Gemeinschaft von 300 Menschen. Wer immer eins braucht, borgt sich das Auto aus, bringt den Schlüssel wieder zurück, bis zum nächsten Mal.“16

Aber auch andere Entscheidungen – was einer lernt, wo einer lebt und arbeitet – sind Sache der Gemeinschaft. Private Wünsche sind nicht bedeutungslos, müssen aber hinter Gemeinschaftsbedürfnissen zurückstehen. Und das ist manchmal schwerer als der Verzicht auf eigenes Geld. Das weiß der 23-jährige Barnabas, der zur Zeit in Sannerz bei der Renovierung hilft: „Ich denke, das eigene Geld ist nicht die größte Sache abzugeben; viel schwerer, den eigenen Willen abzugeben in die Gemeinde. Das ist so jeden Tag ein Kampf, kann man sagen, aber es bringt auch Freude.“17  Barnabas ist auf dem Darvell-Bruderhof in England aufgewachsen. Dort ist er auch zur Schule gegangen – erst als Teenager verlassen die Bruderhof-Jugendlichen das schützende Nest. Das ist den Erwachsenen wichtig: Der Kontakt mit der Gesellschaft draußen, mit deren laxer Moral und lauernden Gewalt soll bis in die Pubertät hinein vermieden werden. Hier schlägt die puritanische Sittenstrenge der alten Täuferbewegung durch. Sexuelle Beziehungen vor der Ehe sind ebenso tabu wie Ehescheidung oder Empfängnisverhütung.18  Bewunderer loben die Reinheit der Atmosphäre, Kritiker sprechen von Prüderie. Barnabas jedenfalls wird seine zukünftige Frau nicht in der Disco suchen, sondern auf dem Bruderhof: „Es ist wichtig, wenn ich eine Frau will, dass sie auch vom Bruderhof kommt, dass sie auch dasselbe innerliche Fundament hat wie ich habe. Nur auf Jesus kann so eine Familie gebaut sein, die halten wird.“19

So konservativ die private Moral der Bruderhöfler ist, politisch bleiben sie ihrer linken Tradition treu. Den Militärdienst verweigern sie nach wie vor; erst jüngst haben sie Präsident Bush in einem offenen Brief zum Irak-Konflikt vor der eskalierenden Gewalt und vor einer möglichen Einführung der Wehrpflicht gewarnt. Aber mit der Friedensbewegung demonstriert haben sie nicht – aktive Politik scheint ihnen derzeit zweitrangig zu sein. Daniel Meier betont: „Es gab Zeiten, wo wir gewählt haben; es gab Zeiten, wo wir marschiert sind und demonstriert haben. Wir waren sehr engagiert gegen die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten. Aber wir haben immer wieder gemerkt: Das ganze Leben muss sich ändern.“20

Problemanzeigen

Das Siegel für diese totale Änderung des Lebens ist die Taufe. Erst Erwachsene werden getauft, wenn sie nach reichlicher Überlegung Ja sagen zum Leben auf dem Bruderhof. Neulinge müssen eine Art Noviziat durchlaufen, ähnlich wie bei einem katholischen Orden. Die eigenen Kinder sollen eine Zeit lang außerhalb des Bruderhofs gelebt haben, um zu wissen, auf was sie verzichten. Das Taufversprechen wiegt schwer; wer mit der Gemeinschaft bricht oder wegen schwerer Verstöße ausgeschlossen wird, bleibt im Bann: man spricht nicht mehr mit ihm, es sei denn zur Vorbereitung einer reuigen Rückkehr. Die Bindung an die Bruderhof-Gemeinde gilt als höherwertig selbst gegenüber der Ehe; wenn der eine Teil eines getauften Bruderhof-Paares die Gemeinschaft verlässt, soll der andere Teil trotzdem dort verbleiben und eher die Partnerschaft als die Bindung an den Bruderhof beenden. Das versprechen die Paare schon bei der Hochzeit.21 

Manche empfinden eine solch enge Bindung nicht als Stütze, sondern als Fessel. So erlebte es Elisabeth-Bohlken-Zumpe.22  Die heute 68-Jährige, wie Rosemarie Meier eine Enkelin des Gründers Eberhard Arnold, musste den Bruderhof mit 26 Jahren verlassen, weil sie sich in ihren heutigen Mann verliebt hatte, der kein Bruderhöfler war. Die gute Gemeinschaft der Kindheit und Jugend lobt sie heute noch, aber Kritik übt sie an der allzu engen Fixierung auf Sünde und Schuld: „Eigentlich macht die Führung aus, ob man schuldig ist oder nicht. Sie fragt z.B. ganz einfach: Ich hab das Gefühl, dass Sie neidisch sind, hochmütig sind. Und dann muss man sofort in sich gehen, wird eigentlich von den Versammlungen ausgeschlossen, bis man erkannt hat, dass man wirklich stolz war. Man muss sich immer wieder beugen, auch wenn man gar nicht diese Gefühle von Stolz gehabt hat. (...) Man darf dann oft an den Mahlzeiten nicht teilnehmen, an Versammlungen nicht teilnehmen, man arbeitet beim Saubermachen auf dem Hof. Und, ja, das wissen selbst die Kinder dann schon: O, die hat auch wieder was.“23  Die frühere Krankenschwester, die heute in den Niederlanden lebt, hat den Kontakt zum Bruderhof weitgehend verloren, als sie ohne jede finanzielle Absicherung den Hof verlassen musste. „Wenn man vom Bruderhof weg ist, dann verliert man nicht nur seine Familie und seine Geschwister; man verliert alle Freunde, man verliert seine Heimat. Man verliert alles, was man gekannt hat, alles, was vertraut war. Man gehört nicht mehr dazu. Und das ist sehr, sehr schwer.“24

Da schlägt die Härte täuferischer Gemeindezucht durch: Private menschliche Kontakte sind bei diesen Freikirchen, etwa den Amischen oder den Hutterern, nachrangig gegenüber der Bindung an die Gemeinde. Selbst Menschen, die auf dem Bruderhof aufwuchsen, aber sich nicht taufen ließen – was offiziell akzeptiert ist – berichten von ähnlichen Problemen. So eine weitere Enkelin des Gründers, die pensionierte Journalistin Erdmuthe Arnold aus Frankfurt: „Es gab vor allem einen Kontakt zu meinen Eltern die ersten Jahre, aber die waren doch sehr beeinflusst davon, dass man immer wieder mich zurückholen wollte. Das war ganz eindeutig, obwohl man mir auch immer sagte: Das ist eine ganz freiwillige Sache. Aber ich glaube, mein Vater wurde auch von oben her verpflichtet, mich zurückzuholen. Je mehr Kinder einer Familie auf dem Hof blieben, desto angesehener war man. So kam mir das vor. Und so kam das vielen vor, die weggegangen sind.“25 Besonders scharf kritisiert sie die Kontaktsperre sogar über den Tod hinaus: „Kürzlich ist eine Bruderhöflerin gestorben. Und ihre Kinder, die nicht auf dem Bruderhof leben, die sind erst nach dem Tod informiert worden. Und sie haben keine Gelegenheit gehabt, an dem Begräbnis teilzunehmen. Und sie waren entsetzt, dass man sie so verletzen konnte überhaupt, dass man eben diese Beziehung zu den Eltern, zwischen Kindern und Eltern gar nicht berücksichtigt hat.“26

Womöglich verfangen sich die Bruderhöfe hier in den Fallstricken ihres hohen Anspruchs, nicht weniger zu repräsentieren als das Reich Gottes auf Erden.27  Macht- und Richtungskämpfe, wie sie in allen menschlichen Gemeinschaften vorkommen, werden dann rasch zum apokalyptischen Kampf zwischen Licht und Finsternis, der dann nur durch z.T. massenhafte „Säuberungen“ gelöst wird. Es macht die Sache nicht einfacher, dass nahezu alle Beteiligten untereinander verwandt sind; Richtungskämpfe bekommen so rasch die Bitterkeit eines Familienstreits. Eine Begegnung jenseits quälender Gedanken an Schuld und Sühne scheint seitens des Bruderhofes kaum möglich. Daniel Meier betont im Gespräch über den Umgang mit Ehemaligen: „Es ist schwer, weil wir uns was versprochen haben. Ein gebrochenes Gelübde kann man eigentlich nicht überschmieren. (...) Ein Treffen wäre möglich, um sich auszusprechen. Also es muss wirklich ein offenes Treffen sein, wo jeder seine Schuld eingesteht. Und es kann ja auch sein, dass jemand dann nicht mehr zurückkommen würde, aber dass wir sozusagen Freundschaft oder Nicht-Animosität haben gegeneinander.“28  Es wäre schön, wenn das Realität würde. Erfahrungsberichte aus dem internationalen Netzwerk ehemaliger Bruderhöfler „Keep in touch“ stimmen eher skeptisch.29  Dabei haben doch viele drinnen und draußen eines gemeinsam: den hohen Respekt vor dem Gründer der Gemeinschaft, vor Eberhard Arnold. So sagt auch die Kritikerin Elisabeth Bohlken-Zumpe: „Ich habe eigentlich keine Kritik an meinem Großvater Eberhard Arnold. Ich denke sogar, dass er wie andere große Theologen in Deutschland, wie z.B. Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp und andere zwischen diesen großen  Weltkriegen eine wirkliche Aufgabe hatte, um die Menschen zurückzuführen zu Jesus Christus.“30

Denn zweifellos war er ein bedeutender Mann, dieser „heilige Franziskus in Kniebundhosen“, wie ihn ein Zeitgenosse einmal genannt hat.31 Er hat nicht nur theoretisch, sondern praktisch ein allzu bürgerlich-behäbiges Christentum in Frage gestellt. Diese Frage bleibt aktuell, auch wenn man seine Antwort nicht teilen mag.


Lutz Lemhöfer, 01.10.2003

 

Anmerkungen

1  Eberhard Arnold, Warum wir in Gemeinschaft leben, New York 1974, 6f, ursprünglich veröffentlicht in: Die Wegwarte 10/11, Oktober-November 1925.

2  Als gründliche Biographie siehe Markus Baum, Stein des Anstoßes. Eberhard Arnold 1883-1935, Moers 1996.

3  Eberhard Arnold, Warum wir in Gemeinschaft leben, 6.

4  Ebd., 8.

5  Vgl. Ulrich Linse, „Zurück o Mensch zur Mutter Erde“, Landkommunen in Deutschland 1890-1933, München 1983.

6  Emmy Arnold, Gegen den Strom. Das Werden der Bruderhöfe, Moers 1983, 57.

7  Zit. nach Der Pflug Nr. 58, April 2003, 16f.

8  In: Lutz Lemhöfer, Eine neuer Prophet?, Radio-Essay, Hessischer Rundfunk, 27.7.2003.

9  Hans-Joachim Schoeps, Rückblicke, München 1963, 46.

10  Ebd., 45.

11  Siehe Lutz Lemhöfer, Eine neuer Prophet?

12  Zit. nach Markus Baum, Stein des Anstoßes, 288.

13  Ein lebendiger zeitgenössischer Bericht findet sich bei Emmy Arnold, Gegen den Strom, 182-190.

14  Siehe die Homepage: www.bruderhof.de.

15  Broschüre „Bruderhof-Gemeinschaft“, o.O., o.J., 3.

16  Siehe Lutz Lemhöfer, Eine neuer Prophet?

17  Ebd.

18  Vgl. Johann Christoph Arnold, Die reinen Herzens sind, Metzingen 1997.

19  Siehe Lutz Lemhöfer, Eine neuer Prophet?

20  Ebd.

21  Johann Chr. Arnold, Die reinen Herzens sind, 154.

22  Ihr Leben auf und nach dem Bruderhof beschreibt sie in ihrer Autobiographie „Torches Extinguished“, Memories of a Communal Bruderhof Childhood in Paraguay, Europe and The USA, San Francisco 1993.

23  Siehe Lutz Lemhöfer, Eine neuer Prophet?

24  Ebd.

25  Ebd.

26  Ebd.

27  Vgl. die Kritik von Arnold Pfeiffer, Das religionskritische Erbe des religiösen Sozialismus, in: Christ und Sozialist 2/1998.

28  Siehe Lutz Lemhöfer, Eine neuer Prophet?

29  Auf englisch zugänglich über www.perefound.org.

30  Siehe Lutz Lemhöfer, Eine neuer Prophet?

31  J. Harder, Aufbruch ohne Ende, Wuppertal 1992, 102.