Wencke Mühleisen

Du lebst ja auch für deine Überzeugung. Mein Vater, Otto Muehl und die Verwandtschaft extremer Ideologien

Die Autorin unternimmt eine Erkundungsreise in ihr früheres Leben als Kommunardin, ausgelöst durch einen wiederentdeckten Brief von 1984. Darin begründet ihr Vater, warum er nicht zur Hochzeit ihrer Schwester mit einem Nigerianer kommen möchte. Er hatte als deutschsprachiger Slowene am Zweiten Weltkrieg teilgenommen.

„Ich habe einen höllischen Krieg … mitgemacht, verloren und überlebt. In der Zeit sind Tausende aus meiner engsten Umgebung … gefallen, erfroren, verhungert, zerrissen, pulverisiert oder sonst elend zugrunde gegangen. Sowas verpflichtet. Ich habe diesen Krieg für mein Volk, meine Überzeugung und meine Gesellschaft, aus der ich herausgewachsen bin, mitgemacht. Da gab es keine Alternative. Ich kann nicht meine Familie verraten, indem ich einen Neger hineinschwindle und als Familienmitglied akzeptiere, weil ich sonst meine Selbstachtung verliere. Ich hoffe, dass du mich verstehst. Du lebst ja auch für deine Überzeugung gegen den Strom. Grüß mir den Guru Muehl und meine anderen Freundinnen und Freunde in der Kommune.“

Die Autorin (geb. 1953) lebt damals seit acht Jahren in der AAO-Kommune („Aktionsanalytische Aktion“) des Wiener Provokateurs und Künstlers Otto Muehl (1925 – 2013). Die AAO war eine von vielen Früchten jener Strömung, die wir heute als „68er“ bezeichnen. 1970 mit zehn Studenten und Hippies gegründet, hatte sie zu Blütezeiten 600 Mitglieder, war ein Lieblingskind der Wiener Kulturschickeria und verkündete die Utopie einer neuen, friedlich-herrschaftsfreien Menschheit, die vor allem durch freie Liebe zu verwirklichen sei. Regelmäßig kamen Politiker und „Kulturschaffende“ zu Besuch, 1981 sicherte der sozialdemokratische Bundeskanzler Bruno Kreisky Otto Muehl öffentlich seine Unterstützung zu.

Erschrocken erkennt Mühleisen: Mit dem Brief holt der Vater sie in die „Gemeinschaft derjenigen, die extreme Ideologien vertraten, die den Willen zum Handeln besaßen und Handlanger charismatischer, autoritärer Persönlichkeiten wurden … Was hatte ich, eine linke Feministin, getan, das ihn, ganz rechts stehend, dazu veranlasste, uns in einem einzigen Satz zu nennen und auf die gleiche Stufe zu stellen?“, fragt sie sich. Den Vergleich zwischen AAO und NS-System hatten vorher auch schon andere angestellt. Tanja Jellinek („Medienanalyse der Otto Mühl Kommune“, 2010) etwa sprach von einer „faschistischen Klassengesellschaft“. Mühleisen war nicht irgendein AAO-Mitglied, sondern vertrat die Organisation auf europaweiten Missionsreisen, stieg sogar vorübergehend zur Nummer zwei in der sogenannten „Struktur“ der strikt geregelten Kommunenhierarchie auf. „Unser Ziel war die Erschaffung eines völlig neuen Menschen, der Grundlage einer neuen Art zu leben. Die Revolution des Selbst.“ Klang es bei den Nazis wesentlich anders?

Sie macht sich auf die Suche nach der bislang beschwiegenen Kriegsgeschichte des längst verstorbenen Vaters und verwebt sie kapitelweise mit ihren AAO-Erinnerungen, fragt nach Parallelen. Sie kämpft mit sich. Denn der Brief war kein Ausrutscher. Der Vater, den sie sehr geliebt hat, erweist sich als Kriegsfreiwilliger, war Überzeugungstäter. Aber alles wird kompliziert: Der Vater hatte sich schon vorher für die kulturellen Rechte der deutschen Minderheit in Slowenien sozial engagiert, trat im gleichen Alter in die Wehrmacht ein wie sie in die AAO. Sie sucht in Österreich und Slowenien bei fernen Verwandten nach geheimen Jugendneigungen des Vaters und findet nichts, keine brutale Ader, die seine Begeisterung für eine Gewalt und Stärke verherrlichende Ideologie ahnen ließe.

Sie selbst wiederum hatte schon immer einen scharfen Blick für die Fehler anderer – und bemerkt ihre eigene Verachtung für Schwäche, vor allem für Frauen, die sich unterordnen. Und wie der Vater seine alten Ideale nicht verraten will, pflegt auch die Autorin ihre feministische Verachtung solcher Frauen bis in die Gegenwart. Die Verwandtschaftsbesuche in Kärnten und Slowenien fördern überall unter dem freundlichem Kaffeegedeck verborgene Nazi-verharmlosende, tendenziell rassistische Spießer zutage. Trotzdem ist der Befund verwirrend. In Bezug auf sich: „Ich zeigte auf meinen Vater. Was, wenn jemand auf mich zeigt?“ In Bezug auf die Vergangenheit: Die Sieger brachten in Slowenien nach dem Krieg „mindestens 70 000 Männer, Frauen und Kinder bei Vergeltungsmaßnahmen“ um. Wie unsauber sich Gut und Böse bisweilen trennen lassen!

Letztlich aber gelingt es der Autorin nicht, sich selbst und uns Nachgeborenen begreiflich zu machen, wie ein sympathisch-ernster, sanfter Mann Nazi werden und nach 1945 bleiben konnte. Vielleicht weil sie nie ganz über die Rolle der Richterin hinausgelangt, die im NS-Vater nur das ganz Andere sieht. Wer verstehen will, wird mit dem Buch „Fremde Eltern. Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933–1945“ (hg. von Joachim Krause, Markkleeberg 2017) besser bedient sein. Der amouröse und politische Briefwechsel eines Kleeblatts fanatischer junger Nazis (zwei Brüder, eine Frau), alle 1933 um die 20 Jahre alt, dokumentiert die himmelstürmende Begeisterung, die der jugendlich-zweifelsbefreite Glaube an eine Utopie damals freisetzte. Sie sind nicht von Hass, sondern von Idealismus getrieben, wollen nicht abseitsstehen, sondern Gesicht zeigen, einen neuen Menschen erschaffen, an sich selbst und am Aufbau einer besseren Welt arbeiten. Das Eintauchen in die Originalgedanken dieser NS-Gläubigen illustriert die von Mühleisens Vater aufgerufenen Parallelen zu utopischen AAO-Träumen besser, als es der Autorin gelingt.

Origineller sind ihre Schilderungen des AAO-Alltags. Hier spielte die Autorin von 1976 bis 1985 eine herausgehobene Rolle. Das Buch vermittelt einen lebendigen Eindruck von den improvisierten Lebensverhältnissen, der öffentlichen Wahrnehmung, den Geschlechterrollen, den Anfechtungen, manipulativen Methoden, den inszenierten, ritualisierten Demütigungen, die sich bei den öffentlichen Analysen abspielten, dem extremen Führerkult um Otto Muehl, der Jahrzehnte älter war als die Kommunardinnen, die um seine sexuelle Gunst wetteiferten. Jedes Mitglied hatte seinen genau definierten Platz in der Hierarchie, die Muehl regelmäßig nach undurchschaubaren Kriterien neu sortierte.

Mühleisen beschreibt den theoretischen Überbau des AAO-Projekts: die notwendige Überwindung der „familiären Zwangsjacke des monogamen Heterolebens“. Gesellschaftliches Endziel der befreiten Sexualität: „das Bestehende zum Einsturz zu bringen.“ Oberstes Feindbild: die „autoritäre Kleinfamilie“. Darum wurden in der AAO Eltern und Kinder systematisch getrennt (Väter waren allen Beteiligten unbekannt). Der Ansatz bei der Familie ist kein Zufall – nicht nur die kleine AAO, auch die großen totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, der nationale ebenso wie der internationale Sozialismus, versuchten, dem Staat einen möglichst frühen und umfassenden Zugriff auf die Kindererziehung zu verschaffen. Dabei wird die Inobhutnahme der Kinder stets als Fürsorge verbrämt. Sie geschieht im Namen einer höheren Idee und Werteordnung fürs Kindeswohl. Schon für Karl Marx war die traditionelle Familie das Feindbild. Er forderte: „Brecht die Familie auf, … die irdische Familie … muss … theoretisch und praktisch vernichtet werden“ (4. Feuerbachthese). Ähnlich spricht Max Horkheimer später von der Familie als „Keimzelle des Faschismus“ („Autorität und Familie“, 1936). Für Mühleisen hieß das zum Beispiel, dass sie ihre Verliebtheit in einen Kommunarden verheimlichen musste, denn Zweierbeziehungen waren tabu. Weil sie häufiger miteinander als mit anderen schliefen, mussten sie sich verstecken. Erst als sie dauerhaft von ihrer kleinen Tochter getrennt werden soll (die Mutter-Kind-Beziehung sei „eine destruktive Fixierung“, entschied Muehl), entschließt sie sich, die AAO zu verlassen – und bestätigt damit, dass die biologische Familie wirklich ein natürlicher Feind von Totalitarismen ist.

Die Missionsreisen, an denen Mühleisen teilnimmt, vermitteln die gesellschaftliche Atmosphäre jener Zeit. In Schweden amüsieren die Kommunarden sich über einen Professor, der nach einer Veranstaltung erwartet, in die freie Liebe einbezogen zu werden, und über eine Kommune, die glaubt, nicht der Sex, sondern die falsche Ernährung sei der Grund für „soziale Spannungen und Konflikte“.

Mühleisens Rechenschaftsbericht wirkt ehrlich und nimmt angenehmerweise nicht die Form einer Generalabrechnung an. Irritierend ist allerdings, dass im Gegensatz zu anderen Ehemaligenberichten wie Maria Diederichs „Wanderer zwischen den Welten“ (2010) ein Thema erst ganz am Ende und eher nebenbei auftaucht. In der AAO missbrauchte Otto Muehl Kinder und Jugendliche. Er etablierte ab Mitte der 1980er Jahre für sich eine Art ius primae noctis, „führte“ Mädchen mit Eintritt der Pubertät „in die Sexualität ein“ (seine Frau war für die Jungen zuständig). Ob „Übergriffe“ (Mühleisen) das rechte Wort dafür ist? Nach Ende der Kommune 1991 verbrachte Muehl dafür sieben Jahre im Gefängnis. Mühleisen bleibt über ihre eigene Rolle als Mitwisserin – bei einem so hochrangigen Mitglied darf man auch fragen: als Mittäterin? – auffällig still. Diese Wortkargheit steht im Kontrast zum peinlich genauen Nachweisen von Schuld und Verstrickung ihres Vaters. Im Grunde klingt es, als habe man in der AAO kaum etwas davon mitbekommen. Nun ja. Glaubwürdiger ist, dass man damals anders bewertete als heute.

Die Tatsache, dass Muehl selbst nach der Haftentlassung ein gern gesehener Gast in der Wiener Kulturszene und auf ihren Empfängen blieb, illustriert, wie lange bestimmte Milieus brauchten, um Pädophilie zu ächten. Gesellschaft und Kirchen haben Kindesmissbrauch in ihren Reihen jahrzehntelang nicht ernst genommen oder aktiv vertuscht. Allerdings haben sie ihn nie als Fortschrittsprojekt propagiert. Das war neben der AAO Teilen der progressiven Linken Westeuropas, insbesondere Frankreichs und Deutschlands, vorbehalten. Ohne sie bleibt das Phänomen AAO unverständlich. Hier wurde Kindesmissbrauch unter dem 1968er-Motto „Verbieten verboten“ aktiv als „befreite Sexualität“ und „Recht des Kindes auf eigene Sexualität“ verteidigt. 1977 veröffentlichte „Le Monde“ einen Aufruf gegen die Kriminalisierung von Sex mit Kindern (Anlass war ein Prozess, in dem es um 12- und 13-Jährige ging). Unterzeichnet wurde der Aufruf von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida, Louis Althusser, André Glucksmann, den späteren sozialistischen Ministern Bernard Kouchner und Jack Lang sowie vielen anderen Repräsentanten der „Kaviarlinken“ (gauche caviar) jener Zeit. Noch 1984 nahm der 56-jährige Serge Gainsbourg mit seiner 13-jährigen Tochter das Lied „Inceste de Citron“ auf und erreichte Platz 2 der französischen Hitparade. Das verstörende Video ist auf YouTube zu sehen. In Deutschland sah es nicht anders aus, hier schaffte es die Propagierung von Pädophilie sogar in Programmbeschlüsse der Grünen, entsprechende Forderungen wurden teils bis in die 1990er Jahre unterstützt, Gegner in den eigenen Reihen (wie Antje Vollmer und Christa Nickels) als repressiv und freiheitsfeindlich beschimpft. Heute hieße es wohl „pädophob“.

Mühleisens Buch erinnert daran, dass diese Themen keineswegs Geschichte sind. Noch 2020 musste man aus aktuellem Anlass konstatieren: „Dass sich die Intellektuellen bereitwilliger als die Kirche mit ihren ideologischen Irrtümern und ihrer Propaganda für das Verbrechen Pädophilie auseinandersetzen würden, wird … niemand mehr behaupten wollen“ (Jürg Altweg, FAZ 16.1.2020, tinyurl.com/y8dr5vxx). Auch das Ziel der Auflösung der „traditionellen“ Familie wird derzeit unter der Parole „family abolition“ durch die angelsächsischen Queer Studies wiederbelebt, z. B. in Sophie Lewis‘ gefeiertem Werk „Full Surrogacy Now“ (2019). Ähnliche „progressive“ Milieus, wie sie einst Straffreiheit für Pädophilie forderten, sind heute die treibenden Kräfte, die in Parlamenten und Parteiprogrammen verlangen, Geschlechtsumwandlungen bei Kindern ohne elterliche Zustimmung zu ermöglichen. Wie damals werden solche Ideen in die Sprache von Selbstbestimmung, Freiheit, Diskriminierung und Kinderrechten gekleidet und Kritiker diffamiert („transphob“). Aber sind nicht auch die irreversiblen medizinischen Eingriffe zum Geschlechtswechsel „Übergriffe an Kindern[, die] als moralische Handlung zur Befreiung der Opfer definiert“ werden (Mühleisen), ähnlich wie bei Muehl? Die AAO ist Geschichte, aber der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem sie kroch.

Die AAO hatte ihre sexuellen Erlösungsfantasien in einen großen Theoriewust gepackt. Davon ließen sich viele einschüchtern und den Blick auf das Offensichtliche verstellen. Dass es bei klarem Blick und etwas Mut trotzdem nicht allzu kompliziert war, den Charakter von Theorie und Praxis der AAO zu erkennen, zeigt die Mutter der Verfasserin bei einem Besuch. Muehl fragt sie bei Tisch, wie sie die Kommune nun finde. Vor versammelter Mannschaft erwidert sie trocken: „Du kleiner Hitler.“

Kai Funkschmidt

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020, 286 Seiten, 20,00 Euro.