Josef N. Neumann

Die Sehnsucht des Menschen nach Heilsein

Krankheit und Heilung als kulturbestimmte Phänomene

Es ist häufig die Forderung an die Medizin zu hören, diese habe in ihrem therapeutischen Bemühen den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. Mit diesem Postulat wird gewöhnlich die einseitig naturwissenschaftlich-technische Auslegung im Therapieverständnis der modernen Medizin sowie deren mechanistisches Menschenbild kritisiert. Dabei wird nicht nur auf alternative Therapiemethoden hingewiesen, sondern auch auf solche, die aus einer anderen Kultur entnommen sind (z. B. chinesische Akupunktur, ayurvedische Medizin u.a.) oder in einem eindeutigen Bezug zu dem Bereich stehen, den wir Religion nennen. In diesem Kontext spielen Begriffe eine Rolle wie Geistheilung, Meditation, heilende Kraft der Spiritualität, oder es ist die Rede von der Bedeutung der Religion für die Gesundheit des Menschen und spiritueller Erfahrungen im Leiden und Sterben. Es wird der mögliche Beitrag der Spiritualität im klinischen Alltag sowie bei der Bewältigung von Krankheit und anderen Lebenskrisen diskutiert. Dabei geht es um den Anspruch von Heil und Ganzheit, eine holistische Sicht, die dem Bild vom fraktionierten, in Körper und Seele, einzelne Organe und Funktionen aufgeteilten Menschen der naturwissenschaftlich-technischen Medizin entgegengesetzt wird. Statistische Untersuchungen kommen auch zu dem Ergebnis: Religiöse Menschen sind weniger krank, müssen weniger häufig in ein Krankenhaus aufgenommen werden, haben im Durchschnitt einen niedrigeren Blutdruck und scheinen besser gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt zu sein.

Von daher stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer nachweisbaren Wirkung von Glaube und religiöser Überzeugung auf Heilverfahren. Folgt daraus die ärztliche Verordnung von Spiritualität? Von der modernen Medizin wird ein solches Ansinnen, soweit ich die Kolleginnen und Kollegen meiner Zunft kenne, strikt abgelehnt. Oder das Verhältnis von Medizin und Religion wird als rein zeitliche Abfolge begriffen: Die Religion hat das Wort, sobald von Seiten der Medizin nichts mehr zu „machen“ ist. Auch die Hinwendung zu alternativen Heilmethoden ist nicht gleichzusetzen mit dem Bedürfnis nach spirituellen Methoden. Alternative Therapien betonen zwar den Ganzheitsanspruch in ihrem Konzept und wollen damit die Schulmedizin ergänzen oder ersetzen, ihre Distanz zum Bereich des Religiösen muss dabei aber nicht geringer sein als die in der Schulmedizin.

Auch aus dem Blickwinkel der Religion ist nach ihrem Verhältnis zu Medizin und therapeutischer Praxis zu fragen. Alle Religionen sind von der Intention bestimmt, Heil und Heilung des Menschen zu bewirken. Innerhalb des Christentums sieht man den Grund in Jesus Christus selbst, der als heilender Messias aufgetreten ist. Die neutestamentliche Exegese geht davon aus, dass Jesus geheilt und dabei außergewöhnliche Taten vollbracht hat. Auch seine Apostel beauftragte er: „Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch.“ (Mt 10,7a-8) Von daher ist zu fragen, in welcher Weise mit Religion ein therapeutischer Sinn verbunden ist und dieser verwirklicht werden kann.

Um sich den aufgezeigten Fragen anzunähern, gehe ich im Folgenden in vier Schritten voran und reflektiere erstens das Verhältnis der Begriffe Heil, Leid und Schuld, gehe zweitens auf die Frage nach dem Ganzwerden des Menschen in der Religion ein, erörtere drittens die Bedeutung des Ordnungsbegriffs in den Religionen und frage viertens nach dem Verhältnis von praktischer Medizin und Religion.

1. Zum Verhältnis von Heil, Leid und Schuld

Sehnsucht des Menschen nach Heilsein – wenn es diese Sehnsucht gibt, dann muss dem Menschen etwas fehlen, das er vermisst, von dem er eine zumindest vage Vorstellung hat, sonst könnte er den Mangel weder wahrnehmen noch benennen. Dieses Defizit löst im Menschen ein Suchen aus nach Ergänzung, Erweiterung, Befreiung von dem Gefühl, dass seine Existenz bedroht ist. Der Mensch sucht nach Heil. Dabei hat Heilsein mit Ganzsein, Vollständigkeit zu tun, ein Zustand, der nicht identisch ist mit Gesundheit, auch wenn diese von der WHO als „Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens“ definiert wird. Es ist aber problematisch, Gesundheit als Idealzustand zu bestimmen; denn die Erfahrung zeigt, dass Gesundheit und Krankheit nicht dichotome, sich gegenseitig ausschließende Begriffe sind, sondern Kategorien, an denen gleichzeitig der physische und psychische Zustand eines jeden Menschen sowie dessen soziale und kommunikative Fähigkeiten zu messen sind. Es gibt keinen Menschen, der als vollkommen gesund oder ausschließlich als krank zu bezeichnen wäre. Von daher ist Gesundheit eher als die Fähigkeit zu bestimmen, mit Behinderung, Verletzung und Krankheit, die in keinem Menschenleben ausbleiben, leben zu können.

Wie weit der Mensch sich dabei als heil erlebt, ist eine ganz andere Frage; denn Heil ist eine Kategorie, die über die von Gesundheit und Krankheit hinausgeht. Dies wird schon dadurch deutlich, dass Gesundheit und Krankheit heilsam sein können. Heil meint nicht einen Zustand des momentanen oder auch länger dauernden physischen und psychischen Ergehens, sondern Ganzheit als ein Ziel, auf das hin der Mensch ein Leben lang unterwegs ist.

Der Sehnsucht, heil zu sein, steht die Erfahrung von Leid gegenüber, das auch durch Behinderung, Verletzung und Krankheit ausgelöst sein kann, auf den physisch-psychischen Aspekt der menschlichen Existenz aber nicht begrenzt ist. Leiderfahrungen beziehen sich auf das gesamte menschliche Dasein und werden konkret in Misserfolg, Scheitern und Versagen, in Enttäuschungen, Kränkungen und Benachteiligung, als Untreue in der Partnerschaft, im Konflikt zwischen den Generationen und im Verlust des Mitmenschen im Tod. Leid ereignet sich und wird zugefügt in jeder Art von Brüchen in der Biographie eines Menschen.

Dabei kann Leid nicht willentlich und vor allem nicht im direkten Zugriff verhindert oder ungeschehen gemacht werden; denn der Grund von Leid liegt im Menschen selbst, genauer im Schuldigwerden jedes Einzelnen am Anderen. Schuld ist dabei nicht mit Sünde – hier verstanden als absichtsvolle verwerfliche Tat – gleichzusetzen. Darum geht es nicht, sondern um die Tatsache, dass jeder Mensch auf Grund von Veranlagung, Erziehung und Milieu einseitig und begrenzt ist in seinen Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten und auf diese Weise, wie er sich auch entscheidet, immer dem anderen etwas schuldig bleibt, an ihm schuldig wird: in der Partnerschaft, in der Erziehung der Kinder und anderen Situationen besonders dichter zwischenmenschlicher Beziehung.

Dabei kann der Mensch in seiner Lebenssituation dem Dilemma nicht entkommen, dass einerseits zwischenmenschliche Praxis, im Verhältnis zum Mitmenschen zu handeln, ihm nicht freigestellt, sondern notwendige Praxis ist (anders wäre ein Überleben des menschlichen Geschlechts überhaupt nicht möglich), und dass er andererseits handelnd zu Festlegungen gezwungen ist, von denen aus es nicht in seiner Macht steht, Einseitigkeiten zu vermeiden, so dass immer auch Notwendiges ungetan bleibt. Der Mensch fühlt sich frei, muss sich aber entscheiden und kann immer nur eine Handlungsmöglichkeit, einen Lebensentwurf realisieren. Von daher trifft jeden von uns die Frage „... soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (Gen 4,9b), in der die schmerzhafte Erfahrung des Schuldigwerdens am Anderen mitschwingt.

Die Sehnsucht nach Heilsein hat, so kann vorläufig gesagt werden, ihren Grund darin, dass der Mensch in seinem Verhalten und Handeln begrenzt ist und, besonders mit zunehmendem Alter, um Unvollständigkeit und Defizite auch weiß und sich die Frage stellt, was in seinem Leben ungetan geblieben ist und über den einen realisierten Lebensentwurf hinaus noch möglich gewesen wäre. Es kommt aber noch ein weiterer Aspekt hinzu, durch den die prinzipielle Begrenztheit des Menschen in seinem Verhalten und Handeln noch eine wesentliche Steigerung erfährt. Das menschliche Leben zerfällt in „elementare Differenzen“1, die zur Einheit zu bringen wir nicht in der Lage sind, mit denen wir aber leben müssen. Es geht um grundsätzliche Differenzen, die den Menschen in seinen Selbst- und Weltverhältnissen bestimmen: Frau und Mann, Liebe und Hass, sexuelles Begehren und zwischenmenschliche Verlässlichkeit, die Familie möglich macht, Eltern- bzw. Erwachsensein und Kindsein, Körper und Seele, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod. Wir strukturieren unser Leben und orientieren uns an Lebensaltern, die wir nicht gleichzeitig leben können, aber, sofern uns die Zeit bleibt, alle durchlaufen, wobei uns die Frage nach dem Zusammenhang, wie Leben insgesamt ohne Brüche möglich sein soll, rätselhaft ist.

Diese und andere Gegensätze, denen die grundsätzlichen Unterscheidungen von Ordnung und Unordnung, Kosmos und Chaos, Recht und Unrecht zugrunde liegen, werden in den Kulturen in sprachlichen und nichtsprachlichen Symbolen dargestellt. Mit ihnen setzen sich die Mythen der Völker auseinander und in der Antike sind sie die Themen im Übergang vom Mythos zur epischen Dichtung und Philosophie. In Gleichnissen, Bildern und Begriffen gestaltet der Mensch seine Suche nach der richtigen Ordnung. Er gebraucht diese Symbole, sie bestimmen sein Denken, an ihnen entlang reflektiert der Mensch seine Erfahrungen. Dabei ist „Gott“ sicher das schwierigste Symbol auf der Suche des Menschen nach Ordnung und letztgültiger Sinnorientierung.

2. Religion und die Frage nach dem Ganzwerden des Menschen

Es ist nun zu fragen, welche Bedeutung der Religion im Blick auf die Sehnsucht des Menschen nach Heil zukommt, zumal Heilserwartungen in allen Religionen eine entscheidende Rolle spielen.

Religion von (lat.) religio bedeutet bei Cicero die gewissenhafte Erfüllung der kultischen Pflichten und religiösen Gesetze, und er leitet es von (lat.) relego – wieder durchgehen, wieder durchlesen – ab, während Laktanz und Augustinus sich auf (lat.) religo – zurückbinden, festbinden – beziehen und damit der religio die Bedeutung von Bindung und Gebundensein des Menschen an Gott geben. Auf diese Weise nimmt religio in der christlichen Tradition die Bedeutung ein, die bei Cicero der pietas zugewiesen wird, was bedeutet, dass hier eine „durchgreifende Subjektivierung des Religiösen“ vor sich ging.2

Die Vielfalt der Phänomene, die mit dem Begriff Religion bezeichnet werden, ist unübersehbar. Eine äquivalente Bestimmung dessen, was in den verschiedenen Kulturen darunter zu verstehen ist, ist in allen Sprachen, die den lateinischen Begriff religio nicht aufgenommen haben, nicht möglich. Es lassen sich aber bei allen Völkern und zu allen Zeiten Phänomene des Religiösen nachweisen, sofern man Religion im weitesten Sinn als Sammelbegriff für jede Verehrung transzendenter Mächte versteht, mit der eine Lehre vom Göttlichen und Texte gläubigen Bekennens verbunden sind.

Weitgehende Übereinstimmung kann aber konstatiert werden, sofern nach der Bedeutung gefragt wird, die Religion für den Einzelnen und die Gesellschaft in den verschiedenen Kulturen hat. Da zeigt sich nämlich, dass Religion durchgängig mit den oben angesprochenen elementaren Differenzen in der Weise zu tun hat, „dass die real unüberwindlichen Grenzen durch eine symbolische Deutung, das heißt durch Vorstellungsbilder (etwa ewiges Leben oder Nirwana) oder durch Handlungen (etwa Opfer oder Salbungen), in die Lebensführung selbst integriert werden. Indem solche Unterschiede gedeutet werden, bleiben sie nicht sprachlos-anonym. Es wird ihnen ihre endgültig trennende Gewalt genommen.“3

Religionen überbrücken somit Gegensätze und helfen, Konflikte zu entschärfen, indem sie Übergänge zwischen den Lebensabschnitten in Ritualen versinnbildlichen. Zudem tragen sie zur Problembewältigung in Lebenskrisen bei, indem sie den auseinanderstrebenden Gegensätzen des menschlichen Lebens ihre Deutungen entgegensetzen und sich dabei einerseits der Frage nach dem Leid in der Welt stellen und andererseits im Kontext einer universalen Ordnungsvorstellung Antwort zu geben versuchen auf das Streben des Menschen nach Ganzsein und Heil.

Sowohl Ganzsein und Heil als auch Leid sind holistische Begriffe. Um die Bedeutung von Religion für das Leben des Menschen aber konkreter zu erfassen, kommt es darauf an, beide Begriffe zu präzisieren und einerseits den Begriff Leid auf die unterschiedlichen Daseinsweisen des Menschen hin auszulegen und andererseits den Horizont menschlicher Heilserwartungen zu strukturieren.

So bedeutet Leid auf der Ebene des Körperseins das Zerfallen des Menschen als Leib in Körper und die sensitiven und denkenden Fähigkeiten, die wir zusammenfassend als Seele bezeichnen. Dem Menschen wird der eigene Körper in seiner Gegenständlichkeit bewusst. Der Körper ist nicht mehr nur unverzichtbarer und schweigender somatischer Träger der sinnlich-denkenden Fähigkeiten als Voraussetzung für erlebte Lebendigkeit und Wahrnehmung des Menschen nach innen und nach außen, sondern wird im Schmerz, wie dieser auch verursacht sei und sich äußert, als gegenständliches Gegenüber bewusst.

Augustinus hat diesen Einheitsverlust, den fragmentarisch lebenden Menschen, knapp und eindrucksvoll in einem Gedicht mit dem Titel Lob des Tanzes charakterisiert. Dort heißt es:

Tanz ist Verwandlung

des Raumes, der Zeit, des Menschen,

der dauernd in Gefahr ist,

zu zerfallen, ganz Hirn,

Wille oder Gefühl zu werden.

Die entsprechende Heilserwartung sieht Augustinus in dem Wunsch, dass der Mensch ganz werden möge, wobei bemerkenswert ist, dass Augustinus damit die Forderung an den Menschen verbindet, für sein Ganzwerden aktiv etwas zu tun, beispielsweise tanzen zu lernen. Er sagt:

Ich lobe den Tanz!

O Mensch,

lerne tanzen,

sonst wissen die Engel

im Himmel mit dir

nichts anzufangen.

Sich selbst entfremdet ist der Mensch, dessen Verhalten und Handeln nicht von ihm ausgeht, der, getrieben und von außen gesetzten Normen folgend, in seinem Tun Zwecke verfolgt, die nicht er, sondern andere setzen, die dazu scheinbar die Macht haben.

Dieser Leiderfahrung auf der psychischen Ebene steht die Heilserwartung nach Identität gegenüber, d.h., die Möglichkeit, sich zu verhalten und zu handeln in selbstbejahender Zuwendung zum Anderen, in absichtsloser durchlässiger Aufmerksamkeit sich selbst und dem anderen Menschen gegenüber.

Hier soll nochmals Augustinus zitiert werden, wobei der Zusammenhang interessant ist, den der Kirchenlehrer zwischen dem Einüben von Verhalten und Bewegung des Körpers herstellt:

Der Tanz dagegen fordert

den ganzen Menschen,

der in seiner Mitte verankert ist,

der nicht besessen ist

von der Begehrlichkeit

nach Menschen und Dingen

und von der Dämonie

der Verlassenheit im eigenen Ich.

Der Tanz fordert

den befreiten, den schwingenden Menschen

im Gleichgewicht aller Kräfte.

Leid bedeutet auf der sozialen Ebene Vereinzelung, Isolation, Stigmatisierung, Angst. Der Mensch ist ständig in Gefahr, aus der Ordnung seiner Mitwelt herauszufallen. Dabei meint Ordnung nicht nur Gesellschaft und Sozialordnung. Die Heilserwartung des Menschen ist auf einen Sinnzusammenhang gerichtet, der das Verhältnis von Mensch und Welt, Lebenden und Toten umfasst und in den Kulturen auf unterschiedliche Weise symbolisch gedeutet wird. Der Mensch bestimmt sich selbst (Menschenbild) im Kontext eines universellen Zusammenhangs (Weltbild), in dem zwei allgemeine Aspekte zu unterscheiden sind: der Kosmos als Symbol umfassender Ordnung sowie die Gesamtheit der alles hervorbringenden Natur. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern diese Ordnungsvorstellungen, indem sie den Ort des Menschen in der Welt beschreiben, zugleich normativ wirken.

3. Ordnungsbegriff und Religion

Betrachtet man die Ordnungsvorstellungen von Religionen, was hier nur an ausgewählten Beispielen möglich ist, so können integrative Konzepte von differenzierteren Vorstellungen unterschieden werden, die in der Geschichte aufeinander folgen, in historischen Epochen und in der Gegenwart aber auch nebeneinander bestehen können.

So ist die Ordnungsvorstellung im Animismus, in den so genannten „Naturreligionen“, an den Veränderungen der Natur im Wechsel der Jahreszeiten sowie an der Aufeinanderfolge der Generationen orientiert. Ordnung wird gedeutet als Kreislauf der Lebenskraft, in der die Ahnen der entscheidende Bezugspunkt sind. Es handelt sich um eine sehr kompakte Ordnungsvorstellung, in der die das Handeln des Einzelnen und der Gesellschaft normierende Instanz menschennah gedacht und von den vorausgegangenen Generationen repräsentiert wird. Die Ahnen ermöglichen das Leben der gegenwärtigen Gesellschaft und konstituieren diese in einem sehr real vorgestellten Sinne, indem sie für Sitte und Brauch und damit für die Stabilität der ethnischen Einheit stehen. Es handelt sich um eine Kulturform vor dem „Reflexivwerden von Kulturen“4, in der dennoch Reflexionen der Frage nach Jenseits und Transzendenz nicht fehlen.

In den frühantiken Religionen im Vorderen Orient und im Mittelmeerraum wurde die Ordnung unter den Menschen als Abbild des Kosmos gedeutet. Dabei sah man in kosmischen Erscheinungen eine Vielzahl von Gottheiten, die wiederum die politische Hierarchie einer monokratisch regierten Gesellschaft abbildeten und festigen sollten. Der Mensch stand nach diesem Ordnungsverständnis unter dem Schutz der Götter, sofern er deren normativen Erwartungen (sowie denen der Herrschenden) entsprach, während Krankheit als Zeichen dafür gedeutet wurde, dass der Mensch im Widerspruch zu der im Götter-Pantheon symbolisierten Ordnung lebt und somit dem Einfluss übelwollender Dämonen und tödlich bedrohender Kräfte ausgeliefert ist.

Israel brach insofern mit dem kosmologisch-räumlichen Ordnungsverständnis, als es seine Existenz immer mehr im Glauben an Jahwe, den einen Gott, begründet sah, den eine Gruppe des Volkes unter ihrem Anführer Moses in der Zeit ihrer Flucht aus Ägypten als besonders tragfähig erlebt hatte. Die Treue zum einen Gott wurde von den Vertretern des Jahwe-Glaubens als Bedingung der Möglichkeit von Heil im Blick auf den einzelnen Menschen wie des ganzen Stammesverbandes leidenschaftlich vertreten. Gleichzeitig gehörte zur Geschichte Israels immer auch der Kampf der Propheten gegen den Rückfall in die Ordnungsvorstellungen einer kosmologischen Götterwelt.

Krankheit wird im Alten Testament auch als Gottferne des Menschen gedeutet, der sich willentlich von Jahwe abgewandt hat. Die Schuld ist bis heute im Judentum das entscheidende Bezugsproblem zwischen Gott und Mensch, der stets in der Gefahr ist, töricht zu handeln, indem er die Furcht des Herrn vergisst. Von daher wird der Mensch primär durch Umkehr und Gebet geheilt, in dem er sich unmittelbar an Jahwe wendet, der als der Arzt des Menschen bezeichnet wird (Ex 15,25a-26).

Gegen einen Rückfall in die kosmologische Götterwelt kämpfte auch die griechische Philosophie. Im Höhlengleichnis entwarf Platon das Bild des in einer Höhle gefangenen Menschen, der sich vom Schattenspiel befreit und den Weg zur Sonne der Wahrheit, zur unmittelbaren Anschauung der Dinge findet. Dies bedeutete nicht einfach Aufgabe der Religion, lineare Ablösung eines mythisch-religiösen Stadiums durch ein von Naturkunde und Metaphysik geprägtes Denken in der antiken griechischen Kultur. Noch vor seinem Tod erinnerte Sokrates daran, dass er dem Asklepios das Opfer eines Hahns schuldig ist, und in die Schriftensammlung des Corpus Hippocraticum wurde in alexandrinischer Zeit ein antiker Ärzteeid aufgenommen, der wahrscheinlich im Umfeld der Asklepios-Heiligtümer („Tempelmedizin“) entstanden und bis heute unter dem Namen Hippokratischer Eid bekannt ist. Entscheidend ist aber, dass in der griechischen Naturkunde und Medizin der kosmische Ordnungsgedanke ergänzt wurde durch den der alles hervorbringenden Natur, der Physis.

Am Anfang des Christentums, so müssen wir uns vergegenwärtigen, stand keine Religionslehre, sondern eine Religionskritik, verbunden mit einer Deutung und Neubewertung des menschlichen Daseins in seinen zwischenmenschlichen Bezügen. Auch dabei ging es nicht einfach um Religionsvernichtung, sondern Berichtigung und Reform des Religiösen. Das Gesetz wurde nicht abgeschafft, sondern in Bezug auf seinen Grund hinterfragt und in dem Maße relativiert, in dem eine immer enger reglementierende Textauslegung des Gesetzes den Menschen unfrei machte.

Im Neuen Testament wird die Ordnungsvorstellung in den Bereich des Zwischenmenschlichen hineinverlegt und Heil nicht nur in einen zukünftigen Erwartungshorizont gestellt, sondern mit der Möglichkeit zwischenmenschlicher Praxis verbunden. „Reich Gottes“ ist demnach als Auftrag zu verstehen, dass die den Menschen tragende Ordnung im solidarischen Mitsein der christlichen Gemeinde mit dem Einzelnen realisiert werden soll. Die Gemeinschaft der Gläubigen ist der Bezugsrahmen, in dem der Kranke Halt findet, Krankheit und Leiden als Phänomene des Lebens angenommen und der kausale Tat-Ergehens-Zusammenhang von Sünde und Krankheit in Frage gestellt wird (vgl. Joh 9,1-3). Von daher ist auch das der Heilung des Gelähmten vorangestellte Wort, „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“ (Mk 2,5), nicht als Akt der Lossprechung, sondern als Feststellung zu verstehen: Der Kranke ist nicht der ins Abseits der Gemeinde gestellte, der Sünde verdächtige Mensch, sondern der leidende Mensch, auf den sich die Gemeinde einlässt wie der, dessen Beispiel sie folgt. Denn entscheidend ist für das Christentum, „dass derjenige, der im Namen Gottes heilte, selbst leidet und stirbt. Christus der Arzt ist Christus der Leidende. Dadurch werden Leiden und Heilen so tief wie noch nie miteinander verknüpft, ja miteinander versenkt. Am Ort des Leidens selbst ist die Genesung zu suchen ...“5

4. Religion und praktische Medizin

Die Auseinandersetzung mit dem neutestamentlichen Konzept der heilenden Ordnung, deren Fundament die Solidarität ist und die nur in zwischenmenschlicher Praxis verwirklicht werden kann, führt zu der grundsätzlichen Frage, ob aus dem Heilsanspruch der Religionen eine spezifisch religiös bestimmte therapeutische Praxis abzuleiten ist. Gibt es Heilung auf Grund religiöser Praxis? Mit welchen Mitteln soll diese getan werden? Von was soll der Mensch geheilt werden – von Krankheit und Schmerzen, vom Leid in der Welt, vom Tod? Es geht einerseits um die Frage nach der Möglichkeit des Praktischwerdens des in den Religionen formulierten Versprechens, das Heil des Menschen zu wirken, und andererseits um die Frage, wie das Verhältnis von heilender Praxis in Medizin und Religion zu bestimmen ist.

Es fällt auf, dass weder das Christentum noch der Buddhismus therapeutische Mittel aufzuweisen hat. Es gibt in den Religionen keine Tradition therapeutischer Techniken mit dem Ziel, Menschen unmittelbar zu heilen. Schon in den neutestamentlichen Heilungsgeschichten bleiben die Beschreibungen der Krankheiten wie der Heilungsvorgänge bemerkenswert unbestimmt. Jesus wendet keine empirisch nachvollziehbaren Heilmethoden an, und noch weniger ist Buddha solcher Techniken verdächtig. Sowohl Jesus als auch Siddharta ging es nicht um Magie. Beiden ging es, wenn auch auf verschiedenen Wegen, um eine Befreiung des Menschen.

Heilung im Kontext von Religion bedeutet demnach Befreiung des Menschen von Schuldgefühlen und Schuldsprüchen, von Ausgrenzung und Stigmatisierung. Krankmachende, die Seele beschädigende Bedingungen sowie das Vorurteil, dass es solche Einschränkungen in einer Gesellschaft geben müsse, werden außer Kraft gesetzt. Religion setzt damit den Kranken wieder in sein soziales Subjektsein ein, der, so rehabilitiert, in der Lage ist, von sich aus Angst zu durchbrechen, die Bedingtheit seiner Existenz anzunehmen und an seiner Therapie aktiv mitzuarbeiten oder auch mit seinem Leiden zu leben.

Die Mittel der Religionen sind Gebet und Meditation in vielfältigen Formen und ausgerichtet auf ein Ziel, den Menschen zu konzentrieren, ihn in eine hörende Haltung einzuüben, die Raum schafft für Selbstwahrnehmung, Offenheit für die Sinnfrage, vor deren Hintergrund Erfahrungen des Alltags reflektiert werden können. Andere, genuin religiöse Mittel der Therapie hat man nicht, und wo in christlichen Klöstern von Angehörigen religiöser Orden Kranke versorgt wurden, arbeitete man stets mit den empirischen Mitteln der Pflege und der Therapie, die man in der Kultur und Gesellschaft der entsprechenden Epochen vorfand.

So geht es in der Religion weder um eine Missachtung der empirischen Heilmethoden der Medizin noch um den Versuch, Spiritualität zu instrumentalisieren. Methoden der Meditation sind nicht magische Mittel, um Gott zu besänftigen und ihn zu einem unmittelbaren, gesund machenden Eingreifen, an den Naturgesetzen vorbei, zu bewegen. Dann wäre Spiritualität lediglich die Fortsetzung des technischen Imperativs der Medizin in den Horizont religiösen Fragens hinein – in der Absicht, Ganzwerden, Heil, in unmittelbarem Zugriff zu bewirken, eine Handlungsweise also, die Magie bedeutet.

Gleichzeitig ist zu sagen, dass auch religiöses Tun konkret ist. Aber in dem Sinne, dass das zwischenmenschliche Beziehungs- und Lebensgefüge in die Ordnung gebracht und auf diese Weise eine grundlegende Voraussetzung für Heilung geschaffen wird. Religionen kurieren nicht. Mit den Mitteln des Religiösen, Gebet und Meditation, wird in der Gemeinschaft der Gläubigen der Raum geschaffen, der Solidarität bedeutet und in dem die von Pflege und Therapie bereitgestellten Mittel angewandt werden können, die dem Heil des Menschen am nächsten kommen, ohne dass dieses im konkreten therapeutischen Tun verfügbar würde. Denn letztlich geht es, sofern wir weder mit den Mitteln der Medizin noch mit denen der Religion der Utopie der Überwindung des Todes nachjagen wollen, um die Einsicht, dass der Weg zum Heilwerden des Menschen wesentlich über die Annahme von Krankheit führt. Dies ist nicht fatalistisch gemeint, sondern in dem Sinne, dass dem Annehmen der Wirklichkeit des menschlichen Lebens, mit dem Krankheit, Leiden und Tod untrennbar verbunden sind, selbst therapeutische Bedeutung zukommt. In diesem Sinne schreibt Xaver Pfister in der Geschichte seiner Depression: „Wenn die Depression mich überrollt, dann quält sie mich nur und ich bin unfähig, daran zu glauben, dass sie eine Botschaft bereithält. Verwandelt sie sich zur schwarzen Dame, von der [C. G.] Jung spricht, dann sehne ich mich danach, dass sie mein Haus verlässt, und interessiere mich nicht mehr für ihre Botschaft. Ich fiebere auf den Moment hin, wo sie sich vom Tisch erhebt, zur Türe geht und ich die Tür hinter ihr ins Schloss werfen kann.“ Im Rückblick kommentierte Pfister diese Tagebucheintragung: „Heute beschäftigt mich dieses Bild erneut. Ich meine jetzt begriffen zu haben, dass es nicht darum geht, die schwarze Dame aus dem eigenen Haus herauszukomplementieren. Viel eher sollte ich sie zum Tanz bitten und mit ihr tanzen lernen.“6


Josef N. Neumann, Halle/Saale


Anmerkungen

1 Vgl. Korsch (2006), 10.

2 Vgl. Schnädelbach (2006), 335.

3 Korsch (2006), 11f.

4 Vgl. Schnädelbach (2006), 340.

5 Korsch (2006), 14.

6 Pfister (2006), 180.


Literatur

Copray, Norbert: Der Geist, der alle Grenzen sprengt, in: Publik Forum 11/2006, 24-26

Ernst, Katharina: Krankheit und Heilung. Die medikale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2003

Gleixner, Ulrike: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005

Hessel, Otto-Paul: Lob des Tanzes, in: Christ in der Gegenwart 58/2006, Nr. 43, 353-354

Koch, Anne: Ayurveda. Zur Attraktivität eines alternativen Heilsystems, in: Wetzstein, Verena (Hg.): Was macht uns gesund? Heilung zwischen Medizin und Spiritualität, Freiburg i. Br. 2006, 55-73

Korsch, Dietrich: Heil und Heilung. Über das Verhältnis von Religion und Gesundheit, in: Wetzstein, Verena (Hg.): Was macht uns gesund? Heilung zwischen Medizin und Spiritualität, Freiburg i. Br. 2006, 9-22

Metz, Johann Baptist: „Compassion: Sieh hin und du weißt!“, in: Publik Forum 10/2006, 30-32

Metz, Johann Baptist: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2006

Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München (1917) 1963

Pfister, Xaver: Masken des Männlichen. Die Geschichte einer Depression, Freiburg (Schweiz) 2006

Renz, Monika: Heilsein ist etwas anderes als Gesundsein. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Sterben, in: Wetzstein, Verena (Hg.): Was macht uns gesund? Heilung zwischen Medizin und Spiritualität, Freiburg i. Br. 2006, 75-82

Rodi, Frithjof: Kultur (I. Philosophisch), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 20, Berlin 1997, 177-187

Schlieter, Jens: Die aktuelle Biomedizin aus der Sicht des Buddhismus, in: Schicktanz, Silke u.a. (Hg.): Kulturelle Aspekte der Biomedizin. Bioethik, Religionen und Alltagsperspektiven, Frankfurt a. M. / New York 2003

Schnädelbach, Herbert: Aufklärung und Religionskritik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54/2006, 331-345

Seitlinger, Michael (Hg.): Was heilt uns? Zwischen Spiritualität und Therapie (Herder spektrum 5684), Freiburg i. Br. 2006

Thiel, Josef Franz: Religionsethnologie, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin 1997, 560-565

Tillich, Paul: Der Mut zum Sein, Hamburg 1965