Michael Utsch

Die Satsang-Szene zwischen Etabliertheit und Kritik

Die Angebotsvielfalt zur „Erleuchtung“, zum „Aufwachen“, zum „Ankommen ins reine Gewahrsein“ ist in den letzten zehn Jahren beständig gewachsen. Das Magazin „connection Spirit“, das diesen Trend publizistisch begleitet und fördert, veröffentlicht halbjährlich ein Verzeichnis aller Satsanglehrer, die im deutschen Sprachraum tätig sind. Knapp hundert Namen werden hier aktuell genannt, und auf den entsprechenden Internet-Präsenzen können nähere Informationen eingeholt werden.1 Wenn man sich klar macht, dass hinter jedem Satsanglehrer eine verbindliche Schülerschaft steht, die in manchen Fällen durchaus in kultähnlichen Strukturen organisiert ist, wird die Reichweite dieses Phänomens ersichtlich. Das Verzeichnis weist auf bekannte „global player“ wie die beiden Kanadier Eckhard Tolle und John de Ruiter hin.2 Auch amerikanische Lehrer wie Byron Katie, Eli Jaxon-Bear oder Gangaji werden genannt, die eine ansehnliche deutschsprachige Gefolgschaft haben. Es sticht jedoch ins Auge, dass eine der einflussreichsten Gruppen ungenannt bleibt: die Gemeinschaft um Andrew Cohen.3 Durch zahlreiche Deutschland-Tourneen, einen großen, allerdings auch umstrittenen Vortrag auf dem letztjährigen Kongress transpersonaler Psychologen der Akademie Heiligenfeld in Bad Kissingen und einer weit verbreiteten deutschsprachigen Ausgabe seiner Zeitschrift „What is Enlightenment?“ ist er auch hierzulande präsent.4 Hat dieses bewusste Übergehen vielleicht auch mit Rivalitätsgefühlen der Satsang-Protagonisten aus Niedertaufkirchen zu tun, die Cohen den Erfolg seiner weltumspannenden Mission neiden? Neben den weltweit agierenden Lehrern werden natürlich die deutschen „Größen“ wie der Hamburger Psychologe „Om“ (Cederic Parkin – sein aufwendig gestaltetes „advaita“-Journal soll nach 15 Ausgaben aufgrund finanzieller Schwierigkeiten zunächst ruhen) oder die Münchener Ärztin „Pyar“ (Franziska Troll – sie verleiht ihren Schülern spirituelle Namen) genannt. Neben altgedienten Osho-Anhängern wie dem mittlerweile in Freiburg ansässigen Michael Barnett weist das Verzeichnis Dutzende neue Lehrer vor. Viele davon ziehen vermutlich zunächst einmal nur lokale Aufmerksamkeit auf sich. Aber durch dieses Verzeichnis und die zeit- und raumunabhängigen Möglichkeiten des Internets kann sich das ja schnell ändern. Bemerkenswert erscheint, dass mittlerweile auch das Land Brandenburg und die Lutherstadt Wittenberg über einen Satsanglehrer verfügen…

Satsang wird meist als „Zusammensein in Wahrheit“ definiert. In abendlichen Zusammenkünften oder längeren Retreats, die sich über ein Wochenende bis zu einer Woche und darüber hinaus erstrecken können, sind Wahrheitssuchende zusammen mit einem Weisheits-Lehrer, der sie unterweist (er „gibt Satsang“), der schweigt, Fragen beantwortet oder auch selber stellt. Diese neureligiöse Szene ist recht anarchisch strukturiert: Einige berufen sich darauf, von einem anerkannten Weisheitslehrer autorisiert, ja von ihm berufen worden zu sein, Satsang weiterzugeben. Am häufigsten wird hier eine Linie zu dem südindischen Guru Ramana Maharshi (1879-1950) hergestellt.5 Andere ernennen sich selber und führen zur Begründung innere Berufungserlebnisse an.

Die Öffentlichkeit nimmt nur begrenzt am Geschehen dieser Szene Anteil. Ein vierseitiger Hauptartikel einer großen Hamburger Wochenzeitung im Juli 2004 beschrieb drei Vertreter zum Teil polemisch, allerdings ohne eine ernsthaft-kritische Analyse. Die Weihnachtsausgabe 2005 eines Münchener Nachrichtenmagazins widmete der Satsang-Bewegung ihren Hauptartikel und stellte sie als Sehnsucht dar, „Glückseligkeit“ zu erfahren. Die Botschaft lautete in etwa, dass Kirchenmitglieder an den zentralen Glaubensinhalten ihrer Konfession zweifeln, die Satsang-Bewegung wegen ihrer Fixierung auf „Psycho-Gurus“ auch keinen Fortschritt biete und die wichtigste theologische Herausforderung der nächsten Jahrzehnte sei, ob die Wiederkehr der Mystik die Kirchen stärken oder zerrütten werde.

Mindestens zwei religionswissenschaftliche Arbeiten haben das Satsang-Phänomen untersucht.6 Die schwedische Religionswissenschaftlerin Liselotte Frisk charakterisiert in ihrem Aufsatz das Satsang-Netzwerk als eine Weiterentwicklung der Osho-Bewegung, das auf die fortschreitende Individualisierung bereits institutionalisierter religiöser Bewegungen hinweise.

Kürzlich hat der kanadische Soziologe Paul Joosse detailliert die Entwicklungsgeschichte der de-Ruiter-Gruppe nachgezeichnet. 1986 verließ der gelernte Schuhmacher John de Ruiter, Jahrgang 1960 und Sohn niederländischer Immigranten, mit fünf Familien die lutherische Gemeinde in Edmonton (Kanada). Er berief sich auf Visionen und direkte Offenbarungen von Jesus und wollte das Christentum zeitgemäß erneuern. Durch Vortragsreisen wurde er in esoterischen Kreisen bekannt und beliebt. Dadurch erweiterte sich nach der Analyse von Joosse seine Lehre erheblich. Kürzlich wurde das „Edmonton College of Integrated Philosophy“ eröffnet.7 Ein mit modernster Technik ausgestattetes Veranstaltungszentrum bietet 630 Personen Platz, und de Ruiter hält dort gewöhnlich drei Treffen pro Woche ab, wenn er nicht auf Vortrags-Tour ist. Ansonsten soll das luxuriöse Zentrum von externen Nutzern gebucht werden. Mehrere hundert Anhänger haben ihre Heimat in Großbritannien, Deutschland, Australien und den USA verlassen, um dort in der Nähe ihres Meisters zu leben.

Die Gruppendynamik dieser neuen religiösen Bewegung wird nach Joosse im Wesentlichen durch den gezielten Umgang mit dem Schweigen gesteuert. Durch lange andauernde Phasen der Stille gelinge es nach der Beobachtung von Joosse, Macht über seine Schüler – meist „junge, wunderhübsche Frauen“ – zu gewinnen. Joosse stellt das von de Ruiter eingesetzte Schweigen als Methode heraus, bei den Anhängern Projektionen zu schüren und Unklarheit zu erzeugen. Schweigen könne darüber hinaus gezielt zur Bestrafung eingesetzt werden – „keine Antwort auf eine leidenschaftlich gestellte Frage zu bekommen, kann zu einer sehr schmerzhaften und verletzenden Erfahrung werden“. Durch den sorgfältig inszenierten Auftritt, das Schweigen und besonders die lang anhaltenden, durchdringenden Blickkontakte werde die außergewöhnliche Aura dieses Gurus sozial konstruiert. Diese Mechanismen seien als ein wichtiger Grund für den erstaunlichen Erfolg dieser Gruppe anzusehen.

Ähnliche gruppendynamische Prozesse spielen sich derzeit auch in der Anhängerschaft vieler deutscher Satsanglehrer ab. Wenn ein von sich überzeugter Lehrer etwa mit Satsang-Abenden in einem esoterischen Veranstaltungszentrum Erfolg hatte, bildet sich schnell ein relativ fester Kreis von Anhängern, die mehr von ihrem Meister lernen wollen. Ein Redner mit Präsenz, Charisma und Überzeugungskraft wird dann bald Unterstützung benötigen: Die Pflege der eigenen Veranstaltungsräume, feste Assistenten für Organisationsplanung, Kinderbetreuung für die Teilnehmenden, technische und publizistische Dienstleistungen (audiovisuelle Aufzeichnungen und Vervielfältigungen, Vertrieb, Newsletter, Print-Produkte etc.) bis hin zur Mitarbeit bei der Bühnengestaltung sind dann gefragt. In Deutschland gibt es derzeit mindestens ein Dutzend Satsanglehrer, die eine eigene spirituelle Gemeinschaft mit all ihren Nebenwirkungen gegründet haben – Tendenz steigend.

Das anfangs erwähnte Magazin „connection Spirit“, einst ein Motor in dieser Szene, gibt sich in ihren jüngsten Beschreibungen distanzierter und kritischer. Denn immerhin werden die Lehrer in dem aktuellen Verzeichnis anhand von positiven und negativen Merkmalen vorgestellt. Ein Beispiel: „Samarpan“ (Tom Golden, Frankfurt): „Was stören kann: wandelt auf Seidenteppichen, thront, reist mit eigenem Musik- und Filmteam; was beeindruckt: genießerischer Auftritt, umarmende Warmherzigkeit, väterliches Verständnis, Humor“.8 Alle Lehrer werden auf diese Weise aus einer gewissen Distanz eingeschätzt, und auch kritische Aspekte werden angedeutet. In dieselbe Richtung zielt der Bericht der szeneweit bekannten Satsanglehrerin „Charya“ (Ruth Rothweiler, Chiemgau/München), der in einer der letzten Ausgaben von „connection Spirit“ abgedruckt wurde.9 In großer Ernüchterung rechnet sie mit den „Erleuchtungs-Eskapisten“ ab und weist auf große Irrtümer hin: „Ihr Träumer, die von Erleuchtung träumt! Heute sitzt ihr vielleicht schon wieder vor irgendeinem Götzen und betet ihn an, bis er euch enttäuscht … Das Spirituellste was ich kenne, ist ganz natürlich zu sein … Ich habe keine Lust mehr, mit Erleuchtungs-Fanatikern rumzumachen ... Ich will keine Schüler mehr. Echte Freunde sind mir lieber, die, wenn’s brenzlig wird, nicht davonlaufen. Erleuchtungs-Eskapismus ist eine Tür zu Fanatismus und Intoleranz. Solche Träume werde ich nicht mehr unterstützen. Was das betrifft, bin ich noch einmal aufgewacht: wach geworden für dieses Leben, wie es ist.“ Diese Selbstbeschreibung macht deutlich, wie anfällig suchende Menschen für realitätsferne Phantasien und Wunschvorstellungen sind, und wie durch subtil gesteuerte Gruppendynamik solche Wunschbilder einen lebendigen Anschein erwecken können, ohne sich wirklich im Alltag als tragfähig zu erweisen. Die alltägliche Lebenserfahrung ist die Nagelprobe für authentische Spiritualität, nicht jedoch das Gruppengefühl von ergreifenden Satsang-Abenden!

Das Magazin „connection Spirit“ hat sich auch nicht gescheut, ein weiteres heißes Eisen dieser Szene offen anzusprechen: sexuelle Übergriffe in der Meister-Schüler-Beziehung. Was von Betroffenen einiger anderer Satsanglehrer wie Cederik Parkin oder Andrew Terker mehrfach berichtet wurde, hat nun ein weltbekannter Satsanglehrer freimütig zugegeben und Konsequenzen daraus gezogen. Das „connection“-Magazin zitierte aus dem Oktoberbrief, den Eli Jaxon-Bear an seine Gemeinschaft schrieb: „Vor vier Jahren initiierte ich eine sexuelle Beziehung zu einer meiner Schülerinnen, die drei Jahre lang andauerte. Damit habe ich einen Verrat begangen an mir selbst, der Lehre und der Gemeinschaft. Ich habe außerdem denen sehr geschadet, die ich in dieser Welt am meisten liebe. Ich kann nicht weiter unterrichten, so lange wie die schädlichen Folgen meines Handelns bestehen ... Es tut mir leid, dass ich euch gegenüber versagt habe, indem es mir nicht gelungen ist, makellos zu bleiben angesichts meiner Fixierung.“ Weiter wird aus einer Stellungnahme der Gangaji-Stiftung zitiert, in dessen Rahmen Jaxon-Bear tätig war. Wegen seines „Sexskandals“ musste ihr Lehrer nun von allen offiziellen Funktionen der Stiftung zurücktreten. „Was zunächst als eine Sache zwischen Erwachsenen betrachtet wurde, wird nun als ein Verrat an der Lehrer/Schüler-Beziehung angesehen und als ein Machtmissbrauch. Auch das Vertrauen der größeren Gemeinschaft wurde gebrochen ... Die Auswirkungen dieses Verrats zeigen sich in einer Weise, die wir uns bisher nicht vorstellen konnten“.10 Eine gemeinsame Vortragstournee mit seiner langjährigen Ehefrau, der Satsanglehrerin „Gangaji“ (Antoinette Varner) durch Australien wurde in dieser Form abgesagt – die Tour muss nun Gangaji allein bestreiten.

Die Popularität der Satsang-Lehre ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: Zunächst sind es überhöhte, unrealistische Erwartungen von Wahrheitssuchenden, die ihr Heil in einem erleuchteten, lebenden Meister suchen. Diese treffen auf einen Lehrer, dem es durch eine mehr oder weniger bewusste Steuerung der Gruppendynamik gelingt, die Richtigkeit und Unangreifbarkeit seiner Lehre zu etablieren. Für den oder die Einzelne kann daraus längerfristig eine Abhängigkeit erzeugende Meister-Schüler-Beziehung entstehen. Folgende Fragen können helfen, das Missbrauchspotential einer spirituellen Gruppe zu verringern:11 Wie geht der Meister mit kritischen Rückfragen um? Gesteht er eigene Schwächen und Fehler ein? Ist er sich seiner Macht und seiner narzisstischen Verführbarkeit bewusst? Ist die Gruppe hierarchisch-autoritär strukturiert? Gibt es regulierende Gremien, die Gruppeninteressen gegenüber dem Meister vertreten und durchsetzen können?

Satsang-Angebote haben sich auch in Deutschland auf dem spirituellen Lebenshilfe-Markt etabliert. Es ist erfreulich, dass mittlerweile auch in der Szene die Schattenseiten dieser Methode offener diskutiert werden. Große Aufmerksamkeit ist allerdings für die örtlichen Psychotherapeutenkammern geboten. Die Satsang-Lehre ist gerade in bestimmten Therapeutenkreisen sehr beliebt, und manche Lehrer bieten gezielte Weiterbildungen für Psychotherapeuten an. Hier ist Unterscheidungsvermögen gefragt, um nicht Psychotherapie unreflektiert mit Spiritualität zu vermischen, was fast zwangsläufig missbräuchliche Folgen nach sich zieht.


Michael Utsch


Anmerkungen

1 connection Spirit, Dezember 2006/Januar 2007.

2 Zu Tolle vgl. Michael Utsch, Satsang – ein neureligiöses Phänomen breitet sich aus, in: MD 8/2004, 304f; zu Ruiter vgl. P. Joosse, Silence, Charisma and Power: The Case of John de Ruiter, in: Journal of Contemporary Religion 21/3 (2006), 355-371.

3 Zu Andrew Cohen vgl. den Beitrag von Angelika Koller in MD 6/2005, 233-236.

4 Der Kongressbericht ist nachzulesen, vgl. A. Koller/M. Utsch, Psychotherapie des Bewusstseins, in: MD 11/2005, 415-419.

5 Zur Genealogie der Satsang-Bewegung vgl. Michael Utsch, Behandlungsziel Erleuchtung, in: R. Hempelmann u.a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, 2. Aufl., Gütersloh 2005, 180-189.

6 L. Frisk, The Satsang Network. A Growing Post-Osho-Phenomenon, in: Nova Religio 6/2 (2002), 64-85; P. Joosse, Silence, Charisma and Power: The Case of John de Ruiter, in: Journal of Contemporary Religion 21/3 (2006), 355-371.

7 Vgl. www.oasisedmontonconferencecentre.com.1 connection Spirit 7-8/2006, 26. Zu gänzlich anderen Einschätzungen kam Rike Ehrhardt in ihrem Erfahrungsbericht (vgl. MD 6/2005, 222-226).

8 Zweimal aufgewacht, connection Spirit 11/2006, 46-49.

9 connection Spirit, 11/2006, 11.

10 Vgl. dazu: H. Walach, Narzissmus – der Schatten der Transpersonalen Psychologie, in: Transperso­ nale Psychologie und Psychotherapie 6/2002, 53-69; vgl. außerdem M. Caplan, Auf halbem Weg zum Gipfel der Erleuchtung. Die Gefahren und Irrtümer verfrühter Ansprüche erleuchtet zu sein, Petersberg 2002.