Die religiöse Landschaft Britanniens

Einleitung

„Nebel über dem Kanal – Kontinent abgeschnitten.“ Diese Schlagzeile wird in London immer wieder einmal zitiert, um die selbstwahrgenommene Isolation und Selbstbezogenheit unserer Nachbarn auf der Insel zu charakterisieren. Tatsächlich sind natürlich die Beziehungen des Landes zu Europa weitaus enger, als es darin anklingt. Nur ist man uns dort oft weit voraus.

Wer die britischen Entwicklungen insbesondere im sozialen und kulturellen Bereich verfolgt, wird oftmals den Eindruck gewinnen, dass vieles, was sich dort abspielt, erst zehn bis zwanzig Jahre später auf dem Kontinent ankommt. Das gilt auch für die Religion. Traditionell kamen viele christliche Kirchen und neue religiöse Bewegungen aus Britannien und den USA – beide sind mal Ursprung, mal Zwischenstation – nach Europa (z. B. Methodismus, Baptismus, Erweckungsbewegung, Jehovas Zeugen, Mormonen). Auf der Insel leben viele christliche Konfessionen von beträchtlicher Größe nebeneinander, während der Rest Europas nur entweder eine oder zwei dominierende Konfessionen kennt. In Britannien gibt es zwei seit Jahrhunderten staatlich eingebundene Kirchen (die anglikanische Staatskirche/Kirche von England und die reformierte „established church“ in Schottland). Die meisten Kirchgänger sind aber katholisch. Daneben stehen Baptisten, Methodisten, Reformierte mit jeweils über 100 000 Mitgliedern. Es verschwinden auch immer wieder einmal große, alte Kirchen für immer (als nächste wohl die United Reformed Church, URC).

Infolge der Einwanderung seit 1945 ist eine religiöse Vielfalt entstanden wie in keinem anderen europäischen Land. Von 63 Millionen Einwohnern sehen sich 38 Millionen selbst als Christen – weitaus mehr als die offiziellen Mitgliederzahlen der Kirchen. Die Zahl der Muslime liegt bei 2,8 Millionen. Hinzu kommen 835 000 Hindus, 430 000 Sikhs und je ca. 265 000 Juden und Buddhisten. 16 Millionen Menschen haben keine Religion (alle Zahlen: Zensus 2011). Viele kleinere neue religiöse Bewegungen sind in Britannien älter und weitaus größer als in Deutschland. So bezeichnen sich fast 60 000 Personen allein in England und Wales als „Pagans“2, und die „Celtic Spirituality“ ist eine große subversive, basisdemokratische, feministische, naturnahe Bewegung innerhalb der Kirchen mit dem Ziel der Wiedererweckung keltischer Spiritualität. Vielleicht sind manche Zahlen allerdings mit Vorsicht zu genießen: Nach einer Internetkampagne im Vorfeld fanden sich beim Zensus 2011 plötzlich 390 000 „Jedi-Ritter“ in der Statistik.

Die religionspolitischen Debatten zeigen teilweise gegensätzliche Strömungen: Die Evangelikalen sind innerhalb des christlichen Spektrums stärker als in Deutschland, die Stellung der Kirchen wird massiv zurückgedrängt, und zugleich ist die Kirche von England in hohem Maße rechtlich und politisch als zivilreligiöse Funktionsträgerin verankert. Neben einer historisch gewachsenen großen Toleranz (nebst staatlichem Laisser-faire) steht eine aus deutscher Sicht manchmal atemberaubend christentumsfeindliche mediale Öffentlichkeit. Ein teilweise aggressiv auftretender Atheismus ist im öffentlichen Diskurs besonders ausgeprägt. Bei Umfragen zeigt sich immer wieder, dass das religiös-kulturelle Basiswissen im Land rapide abnimmt, auch als Ergebnis einer jahrzehntelangen Vernachlässigung des gesetzlich vorgeschriebenen (rein religionskundlichen, nicht konfessionellen) Religionsunterrichts. 2012 plädierte ausgerechnet die muslimische Staatsministerin im britischen Außenministerium Baroness Sayeeda Hussain Warsi in einer Rede unter Bezugnahme auf den Papstbesuch 2010 für eine Besinnung auf das christliche Erbe gegen die Selbstsäkularisierung Europas.

Kurzum, Britannien ist ein religionssoziologischer Seismograf für viele aktuelle und künftige Entwicklungen in Europa. Der Blick auf die Insel macht uns zudem darauf aufmerksam, dass die Reaktion der deutschsprachigen Länder auf die „Sekten“-Diskussionen der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, nämlich die Schaffung dutzender Stellen für hauptamtliche Sekten- und Weltanschauungsbeauftragte, ein Unikum ist: Obwohl die britische Situation vielfältiger, staatlich weniger reguliert und dadurch unübersichtlicher ist als hierzulande, ist die Missionstheologin Anne Richards (Kirche von England) die einzige hauptamtliche kirchliche Ansprechpartnerin, die sich mit dem Thema „neue religiöse Bewegungen“ beschäftigt und als Anlaufstelle für Rat- und Informations­suchende zur Verfügung steht. Wir haben sie gebeten, die weltanschauliche Situation in Britannien aus der Sicht der Kirche von England zu beschreiben.


Kai Funkschmidt


Anmerkungen

  1. Als Wiedergabe der Selbstbezeichnung des Landes ist „Britannien“ am besten. Der offizielle Landesname „United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland“ wird stets als „Britain“ oder als „UK“ bzw. „United Kingdom“ abgekürzt. „Great Britain“, entsprechend das im deutschen übliche „Großbritannien“, stammt aus Zeiten des britischen Kolonialreiches und ist außer im historischen Kontext völlig ungebräuchlich. Das in deutschen Medien häufig anzutreffende „England“ als pars pro toto stößt bei Schotten, Walisern und Iren auf scharfe Ablehnung und verdeckt gerade in religiösen und kulturellen Zusammenhängen relevante Unterschiede.
  2. „Pagans“ ist eine Selbstbezeichnung. Sie verstehen sich als Wiedererweckung einer alten Religion, also nicht als „neu“, und lehnen deshalb Bezeichnungen wie „Neopagane“ ab.