Hüseyin Ağuiçenoğlu

Die politische Situation der Aleviten in der Türkei

Die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union ab Oktober 2005 weckten auch bei den ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei, allen voran den Kurden und den Aleviten, große Hoffnungen auf eine rechtliche Besserstellung im Rahmen der Beitrittskriterien, die von jedem künftigen Mitgliedsstaat zu erfüllen sind. Diese sogenannten Kopenhagener Kriterien von 1993 (genauer gesagt ihr politischer Teil) verpflichten die EU-Kandidaten zur Wahrung der Menschenrechte und zum Schutz von Minderheiten.1

Der mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen einsetzende Reformkurs unter der islamisch-konservativen AKP führte schnell zu einer gewissen politischen Liberalisierung. Selbst jahrzehntelang tabuisierte Themen standen nun auf der Tagesordnung. So gab es eine Debatte über die Wiedereröffnung der 1971 geschlossenen „Theologischen Schule Halki“ des orthodoxen Ökumenischen Patriarchats, man kündigte ein nicht näher definiertes Programm zur Lösung der Kurdenfrage (Çözüm Süreci – „Lösungsprozess“) an,2 und schließlich wurde der Versuch unternommen, mit den Aleviten in einen Dialog zu treten, ein Ansinnen, das in den sogenannten Alevi Çalıştayları („Alevitische Workshops“) von Juni 2009 bis Januar 2010 seinen praktischen Ausdruck fand.3

Der Reformprozess war allerdings von kurzer Dauer. Schon 2011 begann sich die AKP-Regierung von ihrer konzilianten Politik („Null-Problem-Politik“) gegenüber den Nachbarländern und der Opposition wieder zu verabschieden. Ebenso geriet der Verhandlungsprozess zwischen der Türkei und der EU ins Stocken. Die Waffenruhe mit den Kurden endete in einem Blutbad, und die Spannungen zwischen Aleviten und offizieller türkischer Politik erreichten ein nie zuvor gekanntes Ausmaß.4 Das Vorzeigeprojekt einer Türkei als eines zugleich muslimisch geprägten Landes und demokratischen EU-Mitglieds scheiterte auf dramatische Weise. Stattdessen entwickelte sich das Land unter Staatspräsident Erdoğan, der die Europäer seither auf vielfache Weise herausforderte, etwa durch die Drohung mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens, zum „Problem am Bosporus“. Die Leidtragenden dieser Konfrontationspolitik sind in erster Linie die religiösen und ethnischen Minderheiten in der Türkei, die von einer Reform- und Öffnungspolitik enorm profitiert hätten.

Im Folgenden wird vor diesem Hintergrund skizzenhaft auf die politische Situation der größten religiösen Minderheit in der Türkei, der Aleviten, eingegangen.

Die alevitische Glaubensgemeinschaft

Die Aleviten bilden schätzungsweise 20 bis 25 % der Gesamtbevölkerung der Türkei.5 Ihre genaue Zahl ist unbekannt, da die religiöse und ethnische Zugehörigkeit in der Türkei nicht offiziell statistisch erfasst wird.6 Die traditionellen Siedlungsgebiete der Aleviten liegen in den westlichen Regionen Ostanatoliens, in Zentralanatolien und als Enklaven am Mittelmeer und an der Ägäis. Infolge der Binnenmigration lebt heute ein großer Teil der alevitischen Bevölkerung in den Metropolen. Menschen alevitischen Glaubens gehören hauptsächlich der türkischen, der kurdischen/zazaischen und der arabischen Sprachgruppe an.

Abgesehen von temporären Diskussionen nach den zahlreichen blutigen Anschlägen seit den 1970er Jahren wurde die religiöse Minderheit der Aleviten in der türkischen Öffentlichkeit bis vor kurzem kaum wahrgenommen. Auch heute ist sie nicht als offizielle Glaubensgemeinschaft anerkannt, sodass ihre Gebetshäuser (Cemevi) rechtlich den Status von Kulturvereinen haben und die alevitischen Kinder in den Schulen am obligatorischen sunnitischen Religionsunterricht teilnehmen müssen.

Der Begriff Alevi („Alevit“), der zumeist auf den ersten Imam und den vierten Kalifen, Ali b. Abī Tālib, zurückgeführt wird,7 findet in seiner heutigen Bedeutung erst seit Ende des 19. Jahrhunderts Verwendung. Er ersetzte die Selbst- und Fremdbezeichnung Kızılbaş, die höchstwahrscheinlich seit den Kriegen zwischen Safawiden und Osmanen in Gebrauch war.8 Aufgrund der Parteinahme der anatolischen Kızılbaş für die safawidischen Schahs und später wegen der mit dem orthodoxen Islam nicht konformen alevitischen Glaubensinhalte war die Bezeichnung Kızılbaş im Osmanischen Reich über viele Jahrhunderte negativ belegt. Umso schneller konnte sich der neue Begriff Alevi in der neugegründeten Türkischen Republik durchsetzen.

Eine der in der alevitischen Gemeinschaft dominanten Lehrmeinungen legt den Ursprung des Alevitentums in die Zeit der Kämpfe um die Nachfolge Mohammeds.9 Demnach stehe das Kalifenamt Ali zu, der nicht nur alle unabdingbaren Qualifikationen für dieses Amt aufweise, sondern auch vom Propheten selbst zu dessen Lebzeiten als sein Nachfolger bestimmt worden sei. Daher seien die ersten drei Kalifen, Ebu Bakr, Umar und Uthman, Usurpatoren ohne jegliche Legitimation. Obwohl es hier zwischen den Glaubensgemeinschaften der (Zwölfer-)Schiiten und der Aleviten einige Unterschiede im Detail gibt – so gehen beispielsweise die Schiiten davon aus, dass das Auftreten der ersten drei Kalifen als Teil eines göttlichen Heilsplans vorherbestimmt gewesen sei10, eine theologische Deutung, die im Alevitentum nicht sehr verbreitet ist –, sind die Auffassungen in Bezug auf die Nachfolge und die Imamatslehre doch sehr ähnlich. In zahlreichen anderen Glaubensinhalten unterscheidet sich die alevitische Religion jedoch sehr stark sowohl von der Schia als auch vom Sunnitentum.

Nicht zuletzt aufgrund des starken Assimilationsdrucks und der damit verbundenen sozialen und politischen Konsequenzen verzichteten viele Aleviten bis vor kurzem (zum Teil auch heute noch) darauf, die zentralen Aussagen ihrer Glaubenslehre herauszustellen, und definierten sich stattdessen aus einer Defensivhaltung heraus ex negativo: Es ging in erster Linie darum, zu rechtfertigen, warum und wie die eigene Lehre von den schiitischen und sunnitischen Orthodoxien abwich.

Obwohl eine Kanonisierung der alevitischen Lehre nie stattgefunden hat und je nach Region die eine oder andere Tradition dominiert, werden etliche zentrale Glaubenselemente und sozial-religiöse Institutionen über die lokalen Grenzen hinaus allgemein akzeptiert. Dazu gehören das Ocak-System11 und die heute relativ geschwächte Musahiplik-Beziehung(„Weggemeinschaft“). Diese beiden Institutionen waren die Stützpfeiler eines jahrhundertelang funktionierenden subkulturellen Organisations- und Sozialsystems am gesellschaftlichen Rand des Osmanischen Reiches. Mit einem formal und inhaltlich eigenständigen Gottesdienst, der Cem-Zeremonie12, standen und stehen die Aleviten in grundsätzlicher und provozierender Weise außerhalb der vorherrschenden orthodox-islamischen Ritualgemeinschaft. In der alevitischen Lehre gibt es eine originäre mystisch beeinflusste Ethik, die ihre deutlichste Ausprägung in dem System Dört Kapı Kırk Makam („Vier Tore – Vierzig Stufen“) findet. Zentrale Glaubensvorstellungen wie die Inkarnation (Hulûl), die Reinkarnation (Devriye/Tenāsüh), die Trinität (Teslis/Üçleme) im Sinne von Hak-Muhammed-Ali sowie die Lehre Vahdet-i Vücut (die „Einheit der Seienden“) verleihen der alevitischen Gemeinschaft eine gewisse Exklusivität, sondern sie dabei aber zugleich von den sunnitischen und schiitischen Mehrheitskulturen ab und waren daher oft auch Anlass für Verfolgung und Unterdrückung.13

Die Aleviten im Osmanischen Reich

Auch wenn die osmanische Alevitenpolitik über die Jahrhunderte hinweg uneinheitlich und wenig beständig war, so war sie doch zu keinem Zeitpunkt neutral. Das Verhalten der Herrschenden gegenüber ihren alevitischen Untertanen reichte von skeptischer Distanz über Diffamierungskampagnen bis zu systematischen Massakern. Als bekannte Beispiele einer alevitenfeindlichen Politik seien hier der Massenmord unter Selim I. und die berühmten Fatwas des Großmuftis und Şeyhülislam Ebussuud (1545 – 1574) erwähnt, in denen die Kızılbaş zu Freiwild erklärt wurden.14

Nachdem die Kızılbaş-Aleviten Anfang des 16. Jahrhunderts in Anatolien nicht zuletzt aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Osmanischen Reich und dem Safawidenreich (1501 – 1722) eine bedeutende Rolle gespielt hatten, verloren sie nach dem osmanischen Sieg über den safawidischen Schah Ismail I. (1501 – 1524) in der Schlacht von Çaldıran 1514 nicht nur ihren größten Unterstützer und Hoffnungsträger, sondern verschwanden allmählich auch aus der öffentlichen Wahrnehmung. Unter dem Druck der nun einsetzenden Verfolgungen zogen sie sich in die entlegenen Bergregionen Anatoliens zurück. In den wenigen offiziellen Dokumenten, in denen die Aleviten von da ab überhaupt noch Erwähnung fanden, wurden sie meist als Häretiker und Apostaten (mülhit, rafizî, zındık) gebrandmarkt.15 Ansonsten verschweigen die osmanischen Quellen etwa dreihundert Jahre lang (vom Ende des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) ihre Existenz komplett. Zeitweise geduldet wurden einzig die Konvente der Bektaşi – nicht zuletzt, weil man durch diese auch die Aktivitäten der Kızılbaş-Aleviten zu kontrollieren und zu kanalisieren hoffte. Mit der Abschaffung der dem Bektaşi-Orden nahstehenden Janitscharen-Armee 1826 durch Sultan Mahmud II. (1808 – 1839) wurden auch die Bektaşi-Konvente geschlossen und die Leitung ihres Zentrums in der Kleinstadt Hacı Bektaş den sunnitischen Nakşibandi-Scheichs übertragen.16

Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert ist ein begrenztes Interesse an den Aleviten, vor allem innerhalb der nationalistisch orientierten Jungtürkenbewegung, feststellbar, das aber in erster Linie als Reaktion auf protestantische Missionierungsversuche in Ostanatolien anzusehen ist. Die Jungtürken waren bemüht, das Alevitentum mittels ihrer türkisch-nationalistischen Thesen zu vereinnahmen. Dieses nationalistische Narrativ dominierte dann jahrzehntelang die Alevitenforschung in der Türkei.17

Die ersten Jahrzehnte der Republik

Mit der Ausrufung der Türkischen Republik am 29. Oktober 1923 trat an die Stelle des multireligiösen und multiethnischen Osmanischen Reichs ein Nationalstaat, der auf eine in jeder Hinsicht (ethnisch, religiös, sprachlich usw.) homogene Staatsbevölkerung hinsteuerte. Dem Nationalstaat sollte eine einheitliche Nation folgen. Mit welcher Entschlossenheit die neuen Machthaber dieses Ziel verfolgten, zeigt ihre Reaktion auf die Forderungen der ethnischen und religiösen Minderheiten: Nachdem 1925 der erste kurdische Massenaufstand blutig niedergeschlagen worden war, wandte man sich einem Aktionsfeld zu, das man in der damaligen Rhetorik als das „soziale Geschwür“ (çıban) bezeichnete: den Regionen, deren überwiegend aus Kızılbaş-Aleviten bestehende Bevölkerung sich dem staatlichen Anpassungsdruck nicht beugen wollte.18 Das Massaker von Dersim 1937/1938, bei dem nach jüngsten Forschungen und auch nach offiziellen Angaben über zehntausend kurdische Aleviten umgebracht und ebenso viele in den Westen der Türkei vertrieben wurden, war eines der Ergebnisse dieser Assimilationspolitik.19

Die Aufgabe der Homogenisierung des Staatsvolkes im religiösen Bereich übernahm das neugegründete Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı), das an die Stelle des osmanischen Amtes des Şeyhülislam trat. Die religiösen Belange aller Muslime im Lande, zu denen man auch die Aleviten zählte, sollten unter dem Dach dieser Mammutbehörde zentral geregelt werden.20 In diesem Sinne wurden 1925 alle Derwisch-Konvente, darunter auch die der Bektaşis, geschlossen. Damit nahm die heute immer noch gültige Religionspolitik, die de facto einen Staatsislam hervorbrachte, ihren Anfang. Diese vom Laizismus eindeutig abweichende unitaristische Politik, die die Vielfalt als Gefahr für die gesellschaftliche Einheit und Stabilität ansieht, verleugnete die Eigenständigkeit des Alevitentums und marginalisierte die alevitische Bevölkerung im öffentlichen Leben – und zwar nicht nur in der Zeit des Einparteiensystems bis 1950, sondern auch noch lange danach. Unter diesen Bedingungen widmeten sich die wenigen (akademischen) Arbeiten, die bis Anfang der 1980er Jahre in der Türkei erschienen, in erster Linie den ethnografisch-folkloristischen Aspekten des Alevitentums, das als Subkultur innerhalb der gesamttürkischen Kulturlandschaft interpretiert wurde. Religiöse Inhalte blieben unberücksichtigt.

Der staatlich beförderte Assimilationsdruck auf die alevitische Bevölkerung wurde durch zwei weitere parallel laufende Prozesse verstärkt: die Binnenmigration und die Säkularisierung. Mit der Auswanderung aus traditionellen alevitischen ländlichen Regionen in die Städte und etwas später auch ins Ausland verließ seit den 1950er Jahren eine große Zahl von Aleviten die Wirkungsbereiche ihrer religiösen Traditionen. Eine Schwächung überlieferter Organisationsstrukturen und der religiösen Praktiken wie beispielsweise des Ocak-Systems oder der Weggemeinschaft (Musahiplik), zwei wichtigen Säulen des sozialen und rituellen Lebens der Aleviten, war die Folge.

Die Säkularisierung wiederum sorgte dafür, dass sich die „entwurzelte“ alevitische Jugend in den türkischen Metropolen neuen ideologischen Orientierungen außerhalb der Religion zuwandte. Den größten Einfluss übten die oppositionellen linken Bewegungen aus. Wegen angeblicher linksrevolutionärer Gesinnungen wurden Aleviten Ende 1970er Jahre mehrfach, wie beispielsweise in den Städten Çorum, Sivas und Maraş, zu Zielen paramilitärischer rechter Gewalt. Allein bei dem Pogrom in Maraş kamen im Dezember 1978 nach offiziellen Angaben 111, nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen 150 Menschen ums Leben.21

Eine erste zaghafte Gegenbewegung auf alevitischer Seite begann sich in den 1960er Jahren zu formieren, als in der Türkei ein Demokratisierungsprozess einsetzte. Sie war hauptsächlich literarischer und publizistischer Natur, großstädtisch geprägt und im wesentlichen Reaktion auf die staatlichen Assimilierungsbestrebungen und die Auflösung der alevitischen Glaubensstrukturen. So wurden beispielsweise erste Zeitschriften wie „Cem“ herausgegeben und einige Buyruk-Texte gedruckt.22 Die Entwicklung gipfelte in der Gründung einer pro-alevitischen Partei, Türkiye Birlik Partisi („Türkische Einheitspartei“), im Jahr 1967. Die Türkische Einheitspartei konnte bei den Wahlen 1969 mit acht und 1973 mit einem Mandat ins türkische Parlament einziehen. Dabei ist anzumerken, dass diese ersten Schritte alevitischer Intellektueller äußerst vorsichtig und bedacht waren: Man wollte auf keinen Fall das Vorurteil bestätigen, dass die Aleviten gegen die „nationale und religiöse Einheit des Landes“ arbeiteten. Diese Vorsicht drückte sich nicht nur im Parteinamen aus. Abgesehen von einigen alevitischen Symbolen, wie etwa dem Löwen und den zwölf Sternen im Parteiemblem, hielt sich die Partei beim Thema „Aleviten“ insgesamt sehr zurück.23 Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass ein immer noch gültiges Parteiengesetz (Nr. 2820) politische Parteien auf religiöser oder ethnischer Basis unter Strafe stellt und damit jegliche Aktivitäten dieser Art im Keim erstickt.24

Unter den besonderen Bedingungen der 1970er Jahre beschleunigte sich die Auflösung der alevitischen sozialen Strukturen in einem Maße, dass das religiöse Leben in der Dekade zwischen den beiden Militärputschen, 1971 bis 1980, innerhalb der allgemeinen Rechts-Links-Polarisierung fast vollständig zum Erliegen kam.

Die Revitalisierung des Alevitentums

Der Militärputsch im Oktober 1980 traf die Aleviten besonders hart, nicht nur weil er die linken Bewegungen, in denen die Aleviten überproportional vertreten waren, zerschlug, sondern auch, weil mit ihm eine systematische Reislamisierung einsetzte, in der auch die alevitischen Traditionen aufgehen sollten. Mit einem national-konservativen Gesellschaftsmodell, der sogenannten Türkisch-Islamischen Synthese (Türk İslam Sentezi), wollten die Militärs „die türkische Gesellschaft von fremdkulturellen Einflüssen und der Entfremdung“ retten und ihr ihre „ursprüngliche Identität“ zurückgeben. Das ehrgeizige Programm sah zahlreiche Einzelmaßnahmen vor, etwa die Einführung eines obligatorischen Religionsunterrichts, der nicht zuletzt der Sunnitisierung von Kindern aus alevitischen Elternhäusern dienen sollte. Die Assimilationspolitik gegenüber den Aleviten führte auch zur planmäßigen Errichtung von Moscheen in alevitischen Dörfern und zur Rekrutierung alevitischer Kinder für die sunnitischen Predigerschulen (İmam Hatip Liseleri), die in den 1980er Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen.25

Trotz einiger Teilerfolge dieser Gleichschaltungspolitik blieb das erhoffte Aufgehen der alevitischen Traditionen in der sunnitischen Mehrheitskultur aus. Stattdessen entstand eine vom Bildungsbürgertum getragene Gegenbewegung, die dann ab Ende der 1980er Jahre eine entscheidende Rolle bei der Wiederbelebung und Neuorganisation der alevitischen Gemeinschaft spielen sollte. Weitere begünstigende Faktoren dieser sogenannten alevitischen Renaissance waren die gesellschaftspolitische Öffnung der Türkei im Zuge der EU-Kandidatur und das weltweite Wiedererstarken religiöser Bewegungen. Einen unübersehbaren Einfluss auf diese Entwicklung übten auch zahlreiche Überfälle auf Aleviten in den 1990er Jahren wie beispielsweise das Massaker von Sivas 1993 aus, bei dem ein Hotel von einem islamistischen Mob am helllichten Tag in Brand gesteckt wurde und über dreißig Besucher einer alevitischen Veranstaltung (Pir Sultan Abdal Şenlikleri) umgebracht wurden.26 Die Interpretation dieser Ereignisse als kollektive Leiderfahrung schweißte auch die Teile des alevitischen Gemeinwesens zusammen, die bis dahin getrennte Wege gegangen waren. In der Zeit unmittelbar nach dem Anschlag von Sivas entstanden so viele alevitische Organisationen und Gebetshäuser wie nie zuvor. Die alevitische Revitalisierungsbewegung zog auch fern von Heimat und Tradition lebende Migranten und aufgeklärte, nichtreligiöse Aleviten in ihren Bann.

Eine besondere Entwicklung fand in Deutschland statt, wo die größte alevitische Migranten-Community lebt. Hier besitzt der Dachverband der alevitischen Organisationen in Deutschland („Alevitische Gemeinde Deutschland e. V.“, Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu, AABF), der aktuell 155 Vereine vertritt, seit 2006 den Status einer Glaubensgemeinschaft und organisiert in dieser Funktion den alevitischen Religionsunterricht mit, der an öffentlichen Schulen in acht Bundesländern angeboten wird (ein Novum in der alevitischen Geschichte). Diese Errungenschaften gelten als mustergültig, auch aus der Sicht der Aleviten in der Türkei, die in ihren Forderungen an den türkischen Staat immer wieder auf die Verhältnisse in Deutschland hinweisen.27

Fazit

Heute verfügen die Aleviten in der Türkei über Hunderte von Vereinen und Cem-Häusern, die sich meist unter dem Dach verschiedener Verbände und Stiftungen wie z. B. Alevi Bektaşi Federasyonu, Cem Vakfı oder Hacı Bektaş Veli Anadolu Kültür Vakfı zusammengeschlossen haben. Darüber hinaus existieren alevitische Fernsehkanäle, Radiosender und Verlage. Periodisch organisierte religiöse Feste und Kulturfestivals wie Hacı Bektaş Veli Anma Törenleri, Pir Sultan Abdal Şenlikleri, Abdal Musa Etkinlikleri usw. werden jährlich von zehntausenden, wenn nicht hunderttausenden von Menschen aus dem In- und Ausland besucht.

Ein Vierteljahrhundert nach ihrem Schritt in die Öffentlichkeit ist die alevitische Gemeinschaft fester Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden. Die frühere Zurückhaltung ist einem kämpferischen Selbstbewusstsein gewichen. So klagten beispielsweise zahlreiche Eltern vor Gericht gegen den obligatorischen Religionsunterricht für ihre Kinder, und mehrere alevitische türkische Staatsangehörige verlangten die Streichung der in ihrem Personalausweis automatisch mit „Islam“ angegebenen Religionszugehörigkeit oder die Abänderung in „Alevi“. Nachdem alle nationalen Instanzen ausgeschöpft waren, zog man in beiden Fällen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und gewann.28 Auch wenn nicht alle Aleviten so mutig sind und in der Frage der Durchsetzung der eigenen Rechte durchaus unterschiedliche Auffassungen bestehen, so sind sich die großen Dachverbände bei aller Gegensätzlichkeit über bestimmte Forderungen an die türkische Politik einig. Dazu gehören beispielsweise:

1. Anerkennung der Cem-Häuser,

2. Befreiung der alevitischen Kinder vom obligatorischen Religionsunterricht oder alternativ die Einführung eines neutralen „Religionsunterrichts für alle“,

3. Vertretung der Aleviten beim Präsidium für Religiöse Angelegenheiten oder alternativ dessen Abschaffung.

Da die türkische Religionspolitik die Aleviten zu den Muslimen zählt, die gängigen sunnitischen Gebetsrituale als Standard ansieht und außer der Moschee kein Gebetshaus für Muslime anerkennt, ist ein Politikwechsel im obigen Sinne erst dann zu erwarten, wenn das seit 1937 in der Türkei verfassungsmäßig anerkannte Laizismusprinzip tatsächlich verwirklicht würde. Denn in einem laizistischen System, dem die strikte Trennung zwischen Religion und Staat zugrunde liegt, bestimmen nicht die dominanten religiösen Normen in der Gesellschaft die Haltung des Staates zur Religion, sondern es gilt allein das Prinzip der Äquidistanz des Staates zu allen Religionsgemeinschaften.


Hüseyin Ağuiçenoğlu


Anmerkungen

  1. Siehe www.leseuronautes.eu/kopenhagener-kriterien-eu-beitritt (Abruf: 17.03.2017).
  2. Ein wichtiger Schritt war in diesem Zusammenhang die Gründung des kurdischsprachigen Fernsehsenders TRT 6 (seit 2015 TRT Kurdî) im Januar 2009. Auch wenn dieser Sender von Beginn an als Sprachrohr der Regierung fungierte, stellte seine Inbetriebnahme doch einen Bruch im nationalen Selbstverständnis des türkischen Staates dar, der über Jahrzehnte die Existenz der Kurden verleugnet hatte und mit allen Mitteln versucht hatte, die kurdische Sprache auszumerzen.
  3. Siehe 1. Alevi Çalıstayı, 03-04 Haziran 2009, Ankara 2009, und 7. Alevi Çalıstayı 28-29-30 Ocak 2010, Ankara 2010.
  4. Ihren Höhepunkt erreichten diese Spannungen, als die dritte Brücke über den Bosporus nach dem für ein Massaker an den Aleviten verantwortlichen Sultan Selim I. (1512 – 1520) benannt wurde. Diese demonstrative Namensgebung, in einer Zeit, in der die Türkei gegenüber dem nusairisch-alawitischen Präsidenten Syriens einen konfrontativen Kurs einschlug, empörte viele Aleviten und war einer der Gründe für die starke Beteiligung der alevitischen Bevölkerung an den zeitgleich stattfindenden Gezi-Protesten (27. Mai bis 16. Juni 2013). So waren laut Angaben der Istanbuler Polizei 78 % der Demonstranten Aleviten: Siehe Emniyete göre, Gezi Parkı süphelilerinin yüzde 78’i Alevi, in: N24 vom 25.11.2013: http://t24.com.tr/haber/gezide-kac-eylem-gerceklesti-kac-kisi-goz-altina-alindi,244706  (Abruf: 17.4.2017). Es war daher kein Zufall, dass vier der fünf bei den Protesten getöteten Jugendlichen Aleviten waren.
  5. Siehe K. Kehl-Bodrogi, Die Aleviten, in: M. Klöcker / U. Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen 18. V2, München 2008, 1-12.
  6. Zum Thema ethnische und religiöse Minderheiten in der Türkei siehe P. A. Andrews, Ethnic Groups in the Republic of Turkey, Wiesbaden 1989, und B. Oran, Türkiye’de Azınlıklar: Kavramlar, Lozan İç Mevzuat, İçtihat, Uygulama, Istanbul 2004.
  7. Es gibt eine vor allem in Europa stark vertretene alevitische Strömung, die den außerislamischen Charakter des Alevitentums betont und dementsprechend eine andere etymologische Erklärung für den Begriff Alevi ins Feld führt. Demnach stamme er nicht von dem ersten Imam Ali, sondern sei eine Ableitung des türkischen Substantivs Alev, also Feuer, dem in der alevitischen Lehre als Lichtquelle oder sogar „schöpferische Urquelle“ eine zentrale Bedeutung zukomme. Als Beispiel für diese Argumentation siehe E. Çınar, Alevi Adı Hz. Ali’den Gelmez, in: H. Tanıttıran/G. İseri, Aleviler Aleviliği Tartısıyor, Istanbul 2006, 9-30, 9, 10 und 11. Siehe auch E. Aydın, Anadolu Aleviliği Hz. Ali Kökenli Değil, in: H. Tanıttıran/G. İseri (Hg.), Aleviler Aleviliği Tartısıyor, Istanbul 2006, 133-143.
  8. Zum Begriff Kızılbaş und zur durch ihn definierten ethno-religiösen Gruppe siehe H. R. Roemer, Die turkmenischen Qïzïlbaš. Gründer und Opfer der safawidischen Theokratie, in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft, 135 (1985), 227-240.
  9. Andere Richtungen haben ihre eigenen Ursprungsnarrative und Mythen entwickelt. Die Palette reicht vom Schamanismus bis hin zum Zoroastrismus. Allen diesen Erklärungen liegt jedoch ein gewisser Essentialismus zugrunde, mit dem man nach dem „authentischen“ und „ursprünglichen“ Alevitentum strebt. Einige Beispiele findet man bei: Ç. Bender, Kürt Uygarlığında Alevilik, Istanbul 1991; E. Xemgin, Aleviliğin Kökenindeki Mazda İnancı ve Zerdüşt Öğretisi, Istanbul 1998; I. Mélikoff, Uyur İdik Uyardılar. Alevilik-Bektasilik Arastırmaları, Istanbul 2006.
  10. Mehr dazu und zur Imamatslehre insgesamt siehe H. Halm, Der schiitische Islam. Von der Religion zur Revolution, München 1994.
  11. Mehr zum Ocak-System bei H. Ağuiçenoğlu, Das alevitische Dede-Amt, in: R. Langer / R. Motika / M. Ursinus (Hg.), Migration und Ritualtransfer. Religiöse Praxis der Aleviten, Jesiden und Nusairier zwischen Vorderem Orient und Westeuropa, Frankfurt a. M. 2005, 133-145. Siehe auch M. Dreßler, Der moderne dede: Religiöse Autorität im Wandel? in: R. Langer / H. Ağuiçenoğlu / J. Karolewski / R. Motika (Hg.), Ocak und Dedelik. Institutionen religiösen Spezialistentums bei den Aleviten, Frankfurt a. M. 2013, 241-266.
  12. Eine gute Darstellung der Cem-Zeremonie findet man bei J. Karolewski, Ayin-i Cem – das alevitische Kongregationsritual: Idealtypische Beschreibung des İbadet ve Öğreti Cemi, in: Langer u. a. (Hg.), Migration und Ritualtransfer (s. Fußnote 11), 101-131.
  13. Zu diesen vor- und außerislamischen Elementen in alevitischen Texten und Erzählungen siehe A. Y. Ocak, Bektasî Menâkıbnâmelerinde İslam Öncesi İnanç Motifleri, Istanbul 1983.
  14. Siehe M. E. Düzdağ, Şeyhülislam Ebussuud Efendi Fetvaları Işığında 16. Asır Türk Hayatı, Istanbul 1972, 110- 111.
  15. Siehe dazu S. Savas, XVI. Asırda Anadolu’da Alevilik, Ankara 2002.
  16. Mehr über den Bektasi-Orden bei J. K. Birge, The Bektashi Order of Dervishes, London 1937, und A. Yılmaz Soyyer, 19. Yüzyılda Bektasîlik, Izmir 2005.
  17. Dazu siehe H. Ağuiçenoğlu, Die Ethnisierung des Alevitentums, in: Langer u. a. (Hg.), Ocak und Dedelik (s. Fußnote 11), 205-224; B. Said Bey, Türkiye’de Alevî-Bektasî, Ahî ve Nusayrî Zümreleri, Istanbul 2006.
  18. In einem Militärbericht aus dem Jahre 1936 bedauerte man, dass das durch den osmanischen Sultan Selim I. an den Aleviten Anfang des 16. Jahrhunderts verübte Massaker nicht vollendet worden war, weswegen man auch in der republikanischen Türkei unglücklicherweise immer noch mit den kurdischen Aleviten zu tun habe. Siehe T. C. Dahiliye Vekaleti. Jandarma Umum Kumandanlığı, Dersim, o. J. [1936], 37. Siehe auch Ş. Aslan (Hg.), Herkesin Bildiği Sır: Dersim. Tarih, Toplum, Ekonomi, Dil ve Kültür, Istanbul 2010.
  19. Interessanterweise war es Ministerpräsident Erdoğan, der als erster türkischer Staatsmann im November 2011 das Dersim-Massaker eingestand und sich entschuldigte: „Wenn es notwendig ist, sich im Namen des Staats zu entschuldigen, würde ich mich entschuldigen – und ich entschuldige mich“. Siehe www.zeit.de/politik/ausland/2011-11/erdogan-kurden-entschuldigung  (Abruf: 22.3.2017).
  20. Zur Organisation des religiösen Lebens in der Türkei sowie zur Funktionsweise und Geschichte des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten siehe İ. Gözaydın, Diyanet. Türkiye Cumhuriyeti’nde Dinin Tanzimi, Istanbul 2009; ders., Management of Religion in Turkey: the Diyanet and Beyond, in: Ö. H. Çınar / M. Yıldırım (Hg.), Freedom of Religion and Belief in Turkey, Newcastle upon Tyne 2014, 10-35.
  21. Siehe A. Hür, Henüz Ağıtı Yakılmamıs 1978 Maras Katliamı, in: Radikal 21.12.2014, www.radikal.com.tr/yazarlar/ayse-hur/henuz-agiti-yakilmamis-1978-maras-katliami-1255547  (Abruf: 13.4.2017).
  22. Für einen Überblick zu den alevitischen Katechismen, die unter dem Obergriff Buyruk zusammengefasst werden, siehe A. Otter-Beaujean, Schriftliche Überlieferung versus mündliche Tradition. Zum Stellenwert der Buyruk-Handschriften im Alevitentum, in: K. Kehl-Bodrogi / B. Kellner-Heinkele / A. Otter-Beaujean (Hg.), Syncretistic Religious Communities in the Near East, Leiden 1997, 213-226.
  23. Mehr zu dieser ersten von Aleviten dominierten Partei siehe K. Ata, Alevilerin İlk Siyasal Denemesi: (Türkiye) Birlik Partisi (1966 – 1980), Ankara 2007.
  24. Siehe www.anayasa.gen.tr/2820sk.htm (Abruf: 14.4.2017).
  25. Mit welcher Systematik die Militärregierung damals bei dieser Rekrutierung vorging, führt die vor kurzem erschienen Monografie von M. Özcan am Beispiel von Tunceli (Dersim), der einzigen Großstadt der Türkei mit alevitischer Mehrheit, deutlich vor Augen. Siehe M. Özcan, Darbe Yıllarında Dersim, Istanbul 2017.
  26. Siehe H. Hirsch, Massaker in Sivas. Als 15.000 Islamisten Jagd auf Aleviten machten (Welt, 2.7.2013), www.welt.de/politik/ausland/article117621279/Als-15-000-Islamisten-Jagd-auf-Aleviten-machten.html (Abruf: 15.4.2017); F. Atman, 15 Jahre Massaker von Sivas. Die Auferstehung der Aleviten (Spiegel Online, 6.7.2008), www.spiegel.de/politik/deutschland/15-jahre-massaker-von-sivas-die-auferstehung-der-aleviten-a-563623.html (Abruf: 15.4.2017).
  27. Zur Entwicklung der alevitischen Bewegung in Deutschland siehe M. Sökefeld, Einleitung: Aleviten in Deutschland – von takiye zur alevitischen Bewegung, in: ders. (Hg.), Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, Bielefeld 2008, 7-36, 19ff; A. Gorzewski, Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam, Berlin 2010, 79-99; F. Eißler (Hg.), Aleviten in Deutschland. Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven, EZW-Texte 211, 2., erw. Aufl., Berlin 2013.
  28. Zur Gerichtsentscheidung im Prozess Işık gegen die Türkei, in dem der Ankläger die Änderung seiner Religionszugehörigkeit in seinem Ausweis erstritt: http://hudoc.echr.coe.int/eng#{„dmdocnumber“:[„861895“],“itemid“:[„001-97085“]}  (Abruf: 15.4.2017).