Lukas Wick

Die politische Moderne als Herausforderung für die islamische Theologie

Dass die Etablierung des Konstitutionalismus im abendländischen Kontext auf teilweise heftigen Widerstand der christlichen Kirchen gestoßen ist, kann heute als bekannter Topos angesehen werden. Insbesondere Ernst-Wolfgang Böckenförde hat eingehend darüber geschrieben, inwiefern konstitutionelle politische Werte wie Demokratie, Gleichberechtigung und Glaubensfreiheit für die katholische Kirche eine Herausforderung darstellten und wie deren ablehnende Haltung im Zweiten Vatikanischen Konzil überwunden werden konnte.1 Für die protestantischen Kirchen waren die verfassungsrechtlichen Paradigmen ebenfalls nicht unproblematisch, was unschwer bei Martin Heckel nachgelesen werden kann.2 Der moderne Konstitutionalismus stellte gängige Muster und politische Vorstellungen von Jahrhunderten infrage und verlangte nach neuen Antworten seitens der kirchlichen Autorität. Die etablierten Verquickungen von Religion und Staat bildeten im Laufe der Geschichte einen selbstverständlichen Referenzrahmen, der die Grenzen zwischen unverbrüchlichem Dogma und historischen Akzidenzien teilweise unscharf werden ließ. In längerem Ringen und durch schmerzliche Erfahrungen mit diktatorischen Ideologien reifte jedoch innerhalb der Kirchen das Bewusstsein für den Wert und das Ethos des modernen Konstitutionalismus und seiner freiheitsrechtlichen Garantien. In der Konzilserklärung „Dignitatis Humanae“ bekennt sich die katholische Kirche schließlich unzweideutig zur Religionsfreiheit und räumt ein, die Christen seien diesbezüglich den Forderungen des Evangeliums nicht immer nachgekommen.3

Protestantischerseits verabschiedete der Ökumenische Rat der Kirchen 1948 eine Erklärung zur Religionsfreiheit, und 1985 folgte die EKD mit ihrer Demokratie-Denkschrift.Im Bewusstsein dieses zähen Anpassungsprozesses ist in den letzten Jahren verschiedentlich bemerkt worden, die islamische Welt stehe vor ganz ähnlichen Herausforderungen. Dabei wird oft die Überzeugung geäußert, der Islam werde sich früher oder später mit den verfassungsstaatlichen Paradigmen aussöhnen. In Anspielung auf die katholische Entwicklung sprechen Autoren wie etwa der amerikanische Religionssoziologe José Casanova gar von einem unausweichlichen islamischen Aggiornamento.4 Mit teilweise recht kruden historischen Parallelen wird insinuiert, der Islam liege in seiner Entwicklung eben einfach 600 Jahre zurück und müsse quasi noch „erwachsen“ werden.5 Die Etablierung des Konstitutionalismus stellt in dieser Perspektive ein universalhistorisches, unumkehrbares Paradigma dar, dem sich letztlich kein Staat entziehen könne. Gerade die Erfahrung der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt aber gewisse Zweifel an solchen optimistischen Theorien und Projektionen aufkommen. Die Historie verläuft nämlich kaum je linear – oder dialektisch im Hegel’schen Sinn – hin zu einem harmonischen, paradiesähnlichen Zustand. Zivilisatorische Brüche, barbarische Rückfälle oder die Vernichtung blühender Kulturen bilden eine Konstante in der Geschichte.6 Dass sich der Islam mit den freiheitsrechtlichen Paradigmen des Konstitutionalismus aussöhnen werde, wird mittlerweile auch von einer Reihe muslimischer Autoren vertreten.7 Sie stellen dabei entweder in Abrede, es gebe genuin islamische Vorbehalte gegenüber den zentralen Wertvorstellungen der politischen Moderne, oder verneinen zumindest deren islamische Authentizität. Die in der islamischen Welt weit verbreiteten Bedenken gegenüber dem säkularen Verfassungsmodell erklären sie mit rein sozialen oder politischen Missständen oder falschen Interpretationen der islamischen Quellen. Fundamentalistische Forderungen und die offensichtliche Missachtung grundlegender Menschenrechte können nach Ansicht dieser Exponenten nur auf dem Hintergrund politischer und sozialer Transformationsprozesse der Moderne verstanden werden, aber nicht mit islamischen Vorstellungen über die Beschaffenheit der zeitlichen Ordnung. Das Bewusstsein, theologische Prämissen könnten zumindest mitverantwortlich für solche Einwände sein, ist dabei stark unterentwickelt. Das Ausblenden des theologischen Konfliktpotenzials führt jedoch zu einer unvollständigen Analyse. Die Vorbehalte von Muslimen in der Emigration gegenüber verfassungsstaatlichen Werten lassen sich nämlich kaum mit sozialen und politischen Missständen erklären. Angesichts dessen ist es daher berechtigt, der Frage nachzugehen, wie sich die islamische Theologie und ihre Vertreter zur politischen Moderne und ihren Grundrechtsgarantien stellen.

Doch wer ist aus islamischer Sicht überhaupt dazu legitimiert, im Namen des Islam zu sprechen? Im Westen gibt es da eine ziemlich große Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwahrnehmung. In der medialen Öffentlichkeit bestimmen vornehmlich moderate muslimische Intellektuelle und Vertreter muslimischer Verbände den Diskurs. Auf zahlreichen Foren, in Talkshows und bei interreligiösen Dialogveranstaltungen erläutern sie die islamische Perspektive. Meist wird völlig verkannt, dass es sich dabei um persönliche Erfahrungsberichte Einzelner handelt, denen man zwar durchaus mit Respekt begegnen soll, denen es jedoch oft am nötigen theologischen Rüstzeug und an institutionellem Rückhalt fehlt. Es ist nun aber eine Tatsache – und neuere Studien bestätigen dies sehr deutlich –, dass solche „public muslims“ – seien sie nun säkular oder religiös denkend – einerseits den innerislamischen Diskurs nur begrenzt abbilden und andererseits in der Community selbst kaum Unterstützung erfahren, während Imame und Muftis aufgrund ihrer Ausbildung und der damit verbundenen institutionellen Legitimierung islamische Deutungshoheit für sich beanspruchen können.8 Will man daher in Erfahrung bringen, wie sich der Islam zu konstitutionellen Werten positioniert, ist eine Beschäftigung mit dem Reden und Denken etablierter Religions- und Rechtsgelehrter von größerer Bedeutung als die Auseinandersetzung mit dem religiösen Empfinden einzelner Gläubiger. Es gibt im Islam nämlich entgegen allen Bekundungen sehr wohl anerkannte religiöse Autoritäten mit der entsprechenden Breitenwirkung. Für die Sunniten sind dies beispielsweise die Religions- und Rechtsgelehrten der ägyptischen Azhar-Universität, und für die Schiiten sind es verschiedene Ayatollahs in Qom oder Nadschaf.9 Eine inhaltliche Bestandsaufnahme maßgeblicher Gelehrter im Umfeld der Azhar-Universität ist insgesamt ziemlich ernüchternd.10 Eine selektive Auswahl von Autoren lässt zwar kein abschließendes Gesamturteil zu, Tendenzen und Trends können daraus aber sehr wohl abgeleitet werden. Werte wie Gleichberechtigung und Glaubensfreiheit stoßen auf wenig Gegenliebe, mit Ausnahme der Möglichkeit des Übertritts zum Islam. Konzepte wie etwa die Säkularisierung werden gänzlich abgelehnt, weil man darin nur eine religionsfeindliche Dimension zu erkennen vermag.11 Es findet zwar kaum je eine seriöse Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen des Konstitutionalismus liberaler Prägung statt, die Aussagen der Gelehrten geben jedoch wenig Anlass, auf eine positive Einstellung hinsichtlich konstitutioneller Grundwerte zu schließen.

Dieser Befund hat durchaus etwas Beunruhigendes. Entscheidend ist jedoch, inwiefern spezifisch theologisch-doktrinelle Argumente für diese Ablehnung geltend gemacht werden.12 Historische, soziale und politische Umstände prägen die theologische Sichtweise im islamischen Kontext ungebührlich stark und überlagern oft den Anspruch der islamischen Theologie auf einen eigenständigen epistemologischen Standpunkt. Es wäre daher äußerst unbedacht, die ablehnende Beurteilung der Religions- und Rechtsgelehrten ausschließlich auf theologische Gründe zu reduzieren.

Politische Einwände gegen den modernen Verfassungsstaat

Grundsätzlich fehlt es in der islamischen Welt an positiven Erfahrungen mit konstitutionellen Werten und Rechtsgarantien. In der verfassungsstaatlich geforderten funktionalen Trennung von Religion und Staat und besonders in der in diesem Zusammenhang oft genannten Säkularisierung vermögen die Gelehrten kaum mehr zu erkennen als ein trojanisches Pferd neokolonialen, westlichen Strebens, die islamische Welt direkt oder mittels politischer Marionetten zu unterwerfen. Zwar wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts in den meisten muslimischen Ländern verfassungsrechtliche Strukturen etabliert13, deren ideengeschichtlicher Hintergrund wurde jedoch kaum je ergründet, ganz zu schweigen von der realpolitischen Umsetzung ihrer Forderungen. Die Mehrheit der Muslime ist gegenwärtig mit einer politischen Wirklichkeit konfrontiert, die zwar formell durch eine Verfassung strukturiert ist, jedoch von Willkür, Despotie, Familienclans etc. dominiert wird und ihnen keinerlei ökonomische oder soziale Entfaltung ermöglicht. Dass dies oft auch noch mit der stillen Zustimmung westlicher Demokratien geschieht, macht die hehren Verfassungswerte nicht eben anziehender.Es ist sicherlich nicht uninteressant, darauf hinzuweisen, dass die Wahrnehmung des Konstitutionalismus im katholischen Kontext ganz wesentlich durch die Erfahrungen von Migranten in den USA befördert wurde, die schließlich dazu beigetragen haben, die Einwände der kirchlichen Autorität gegenüber verfassungsstaatlichen Wertvorstellungen wie Religionsfreiheit und Gleichberechtigung auszuräumen.14 Es ist durchaus denkbar, dass die Erfahrung von Muslimen in der westlichen Diaspora, wo sie in einer Minderheitsposition – unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit – Freiheit und Gleichberechtigung erfahren, sich ähnlich positiv auf die innerislamische Debatte auswirken und einen theologischen Paradigmenwechsel einleiten könnte.

Möglicherweise stehen wir diesbezüglich sogar am Beginn einer interessanten Entwicklung. Die Untersuchung von Rauf Ceylan deutet jedenfalls darauf hin, dass veränderte politische und gesellschaftliche Gegebenheiten, zumindest bei einem Teil der (türkischen) Imame in Deutschland, einen Reflexionsprozess in Gang setzen.15 Die Wahrnehmung der politischen Moderne in der islamischen Welt ist gegenwärtig stark durch die religionspolitische Agenda Saudi-Arabiens beeinflusst. Aus den Erdöleinnahmen wurden und werden enorme Summen dafür verwendet, die reaktionäre, wahhabitische Interpretation des Islam weltweit zu fördern. Millionen von Muslimen aus anderen arabischen Staaten kamen während ihres arbeitsbedingten Aufenthalts in Saudi-Arabien mit dem Wahhabismus in Kontakt und trugen dessen Gedankengut später in ihre Heimatländer zurück. Außerdem ermöglichte man unzähligen Studenten aus der ganzen Welt mittels großzügiger Stipendien theologische Studien im saudischen Königreich mit der Verpflichtung, die wahhabitische Lehre nach ihrer Rückkehr zu verbreiten.

Der Wahhabismus hat weltweit zu einer Radikalisierung von Muslimen geführt, gegen die auch Gläubige in Europa nicht immun sind. Auf dem Balkan konnte sich der Wahhabismus beispielsweise während des Balkankrieges in den 1990er Jahren verbreiten, was inzwischen in Bosnien einige innerislamische Spannungen provoziert hat. Erstaunlicherweise haben sich die etablierten Religionsgelehrten (ulama) anderer Schulen bis jetzt nur wenig darum bemüht, eine echte diskursive Konkurrenz zur wahhabitischen Islamdeutung aufzubauen. Oft sind die Grenzen zwischen radikalen Predigern und etablierten Religionsgelehrten sogar unscharf geworden.16 Studien weisen zudem darauf hin, dass arabisch sprechende Muslime über unzählige Satellitenkanäle stark unter wahhabitischem Einfluss stehen.17 Der Wahhabismus mit seinem literalistischen Rigorismus hat konziliantere hermeneutische Methoden marginalisiert und auf diese Weise die positive Auseinandersetzung mit konstitutionellen Paradigmen beeinträchtigt. Die Mehrheit der etablierten Religionsgelehrten in arabischsprachigen Ländern ist gegenwärtig mehr darum besorgt, die Moderne zu islamisieren, d. h. mit koranischen Belegstellen zu legitimieren, als ihr weltanschauliches Fundament zu ergründen. Eine solche Vorgehensweise ist jedoch ein anachronistisches Unterfangen mit zwiespältigem Ausgang. Die Gemeindeordnung Medinas ist nicht die Mutter der modernen Verfassung, wie dies verschiedentlich apologetisch vorgebracht wird18, und Demokratie ist kaum vergleichbar mit einer beduinischen Schura-Versammlung im 7. Jahrhundert, zumal die Gelehrten diese Einrichtungen nicht so sehr als Zwischenstufen hin zu moderneren und egalitäreren politischen Ordnungen auffassen, sondern darin weiterhin den anzustrebenden Idealzustand verorten.19 Einige iranische (Reform-)Theologen geben ob solcher Versuche recht deutlich zu verstehen, dass sich der traditionelle Islam hinsichtlich der politischen Moderne und ihrer Rechtsgarantien richtiggehend in einer Sackgasse befinde. Der iranische Gelehrte Mohsen Kadivar, der wegen seiner Ansichten schon verschiedentlich im Gefängnis war und mittlerweile in den USA lehrt, ist sogar überzeugt, dass der traditionelle Islam nicht mit der Demokratie vereinbar ist. Einzig der Reformislam könne die politische Gleichheit in jeder Form anerkennen.20

Theologische Einwände

Für Gläubige jeglicher Schattierung spielt die Offenbarungszeit der jeweiligen Religion zweifellos eine bedeutsame Rolle. Als Folge des europäischen Kolonialismus und der dadurch ausgelösten kulturellen Identitätskrise kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der islamischen Welt zu einer religiösen Renaissance, die sich stark an der Urzeit orientierte und zwar mit dem Anspruch, durch die getreue Nachahmung jener Zeit wieder an den Ruhm der Vergangenheit anzuknüpfen. Islamische Religions- und Rechtsgelehrte überhöhen und idealisieren seither die Epoche von Muhammad und seinen Gefährten in völlig unkritischer Weise und stigmatisieren zwischenzeitlich gewachsene Traditionen als unislamisch.21 Die Urzeit ist allerdings überhaupt nicht unproblematisch. Ob ihrer Verklärung gelingt es den ulama nämlich nicht, sich von den Verquickungen von Islam und Politik zu lösen. Der in den 1960er Jahren verstorbene Vorsteher der ägyptischen Azhar-Universität, Scheich Mahmud Shaltut, schreibt so beispielsweise: „Im Islam kann es keine Trennung von Religion und Staat geben, es sei denn, man könnte den Geist vom Leib des lebendigen Menschen trennen, ohne ihn zu töten.“22 Es ist unverkennbar, dass sich die institutionell etablierten ulama – nach einer längeren Phase sozialer Marginalisierung – in den vergangenen 30 Jahren wieder vermehrt in der Öffentlichkeit zu artikulieren wissen. In verschiedenen muslimischen Ländern hat dieser Umstand zu einer Aushöhlung verfassungsrechtlicher Garantien und einer vermehrten zivilrechtlichen Ausrichtung an den Vorschriften der Scharia geführt.23 Gerade das „Delikt“ der Apostasie kann hier beispielhaft genannt werden, wobei dieser Vorwurf keineswegs nur Konvertiten, sondern auch unliebsame Intellektuelle treffen kann.24 Die Orientierung an der Urzeit ist selbstverständlich immer auch mit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Religionsstifter verbunden, dessen Leben und Wirken paradigmatischen Charakter haben und den es getreu nachzuahmen gilt. Muhammad wurde so im Laufe der Geschichte immer mehr überhöht.25 Nun kann nicht geleugnet werden, dass Muhammad nicht nur mit einem prophetischen Anspruch auftrat und eine Offenbarung verkündigte. Als politischer Führer und Kriegsherr trägt er durchaus auch problematische Züge.26 In den 1920er Jahren versuchte der ägyptische Azhar-Gelehrte Ali Abd al-Raziq, diese Gegebenheit in seinem Buch „Al-Islam wa usul al-hukm“ als kontingenten und historisch einmaligen Umstand ohne jede Beispielhaftigkeit zu deuten.27 Dies provozierte heftigen Widerstand unter den etablierten Gelehrten, die befanden, Predigt und Leben der Muslime in Medina, wo Muhammad als politisch-religiöser Führer agierte, würden eher dem Islam entsprechen als die Zeit in Mekka, wo Muhammad zu Beginn einzig eine prophetische Gestalt mit einer religiösen Botschaft war. Wegen seiner Ansichten wurde Abd al-Raziq sogar aus dem Kreis der ulama verstoßen, und seine Thesen sind in theologischen Zirkeln bis heute tabu geblieben.

Den gewichtigsten Einwand gegen den Wertekanon des modernen Konstitutionalismus bildet sicherlich die islamische Vorstellung von der menschlichen Natur. Gestützt auf die autoritativen Hadithsammlungen von Al-Buchari und Muslim geht die islamische Theologie nämlich von einer angeborenen islamischen Ur-natur (arabisch fitra) des Menschen aus.28 Jeder Mensch wird gemäß dieser Lehre als Muslim geboren,29 und erst durch Erziehung wird er zum Christen, Juden oder Anhänger einer anderen Religion. Damit entspricht er aber letztlich nicht mehr seiner ursprünglichen Geschaffenheit, ist nach Abu Huraira, einem Gefährten Muhammads, sogar verstümmelt. Neuere Autoren sprechen diesbezüglich gar von einer Pervertierung der ursprünglichen Natur.30 Aus dieser – theologisch-anthropologischen – Perspektive ist es nachvollziehbar, warum Nichtmuslime und Muslime – oft ist auch die Rede von Gläubigen und Ungläubigen – ungleich behandelt werden; denn als Nichtmuslim entspricht man eigentlich gar nicht der ursprünglichen Schöpfungsabsicht Gottes. In der Geschichte wurde diesem Umstand insofern Rechnung getragen, als man Andersgläubige als dhimmi (Schutzbefohlene) behandelte. Diesen wurde zwar in beschränktem Maß Kultusfreiheit gewährt, sie waren jedoch zu keinem Zeitpunkt gleichberechtigt und durften auch nie für ihre religiösen Überzeugungen werben.31 Es ist daher nur konsequent, dass schiitische Ayatollahs wie etwa Fazlollah Nuri oder Muhammed Hussain Naini anlässlich der Konstitutionellen Revolution im Iran (1906) die Gleichberechtigung von Muslimen und Christen mit der Begründung ablehnten, diese sei so absurd wie die Gleichberechtigung von unmündigen Kindern und Erwachsenen.32 Für die politische Ungleichbehandlung gibt es im Islam folglich ein theologisch-anthropologisches Fundament, das sich offensichtlich nicht mit den Vorstellungen verträgt, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zum Ausdruck kommen. Gemäß dieser ist man nämlich erst einmal Mensch und hat einzig auf dieser Grundlage Rechte und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu dieser oder jener oder gar keiner Religion.Darin scheinen wiederum naturrechtliche Überzeugungen durch, wie sie die römischen Rechtsphilosophen formulierten. Die frühchristlichen Kirchenväter haben daraus später – theologisch begründet – das christliche Menschenbild geformt.33

Ein solches Menschenbild sucht man in der islamischen Theologie vergeblich. Die Unterscheidung in Gläubige und Ungläubige ist allgegenwärtig.34 Als religiöse Kategorie mag diese zwar angehen, wenn davon aber zivilrechtliche Bestimmungen abgeleitet werden, wird die Inkompatibilität mit dem liberalen Verfassungsmodell augenfällig. Es ist denn auch selbstredend, dass die Organisation Islamischer Staaten und andere islamische Organisationen eigene Menschenrechtserklärungen erlassen haben, um die mit der Scharia in Konflikt stehenden Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (z. B. Religionsfreiheit in Artikel 18) zu vermeiden.Bezug nehmend auf den erwähnten Einwand geht klar hervor, dass die islamische Theologie und ihre institutionellen Vertreter ein tief wurzelndes doktrinelles Problem mit dem Menschenbild des Konstitutionalismus haben. Ein theologischer Paradigmenwechsel ist diesbezüglich in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Zu schwer wiegen da Doktrin und Tradition. Oft fehlt es sogar schlicht und einfach am Verständnis für die Problemstellung, weil die Überzeugung vom wesenhaften Unterschied zwischen Muslimen und Nichtmuslimen eine Selbstverständlichkeit darstellt. Damit soll jedoch keinesfalls präjudiziert werden, Muslime seien grundsätzlich unfähig, sich mit dem Verfassungsstaat und seinen Werten zu identifizieren. Für viele Muslime bleibt die islamische Naturrechtskonzeption eine unverständliche Chiffre, selbst wenn ihre Weltsicht davon geprägt ist und der Gedanke an einen Religionswechsel unerträglich erscheint. Wie eingangs erwähnt, könnte sich die Erfahrung von Muslimen im Westen auf die innerislamisch-theologische Debatte auswirken und einen Entwicklungsprozesses hin zu einer positiven Beurteilung der Paradigmen des liberalen Konstitutionalismus in Gang bringen.35Dazu beitragen könnte der Umstand, dass viele islamisch geprägte Länder formaljuristisch bereits auf Verfassungen basieren, die Gleichberechtigung und Religionsfreiheit propagieren. In der Praxis gibt es für diese hehren Forderungen dann aber leider kaum je verbindliche Rechtsgarantien, weil diese Werte negativ aufgeladen sind und von Religions- und Rechtsgelehrten beargwöhnt werden. Solange es nicht zu einem unzweideutigen theologischen Bekenntnis zu den Inhalten konstitutioneller Vorstellungen kommt – wofür an dieser Stelle die Gewährung von Religionsfreiheit und Gleichberechtigung nochmals beispielhaft stehen soll36 – gibt es berechtigte Gründe für ein gewisses Unbehagen. Denn selbst bei einer rein politischen Durchsetzung dieser grundlegenden Menschenrechte – gegen alle Widerstände und Einwände muslimischer Gelehrter – bliebe diesbezüglich eine ungewisse theologische Hypothek. Die Absenz eines theologisch begründeten Bekenntnisses kann nämlich gerade für fromme Muslime und Vermittler des islamischen Glaubens einen Loyalitätskonflikt darstellen, wie dies im Übrigen eine Untersuchung unter Islamlehrern in Österreich deutlich gemacht hat.37

Fazit

Man wird dieses Unbehagen islamischerseits nicht mit einer nur pragmatischen Akzeptanz konstitutioneller Freiheiten zerstreuen können. Da schwingt unterschwellig allzu sehr mit, dass man diese vorerst widerwillig akzeptiert, um sie dann bei der nächstbesten Gelegenheit – womöglich demokratisch – zu kippen. Zahlreiche Prediger in europäischen Moscheen verhehlen denn auch kaum ihre Absichten und geben freimütig zu verstehen, dass sie die demokratischen Mechanismen dazu benutzen, um den demokratischen Staat zu gegebenem Zeitpunkt auszuhebeln und ein nach islamischen Vorstellungen gestaltetes System zu errichten. Jürgen Habermas gibt daher sicherlich zu Recht zu bedenken, dass sich der liberale Staat – aufgrund der Instabilität eines erzwungenen Arrangements – nicht mit einem bloßen Modus Vivendi zufriedengeben könne. Als demokratischer Rechtsstaat sei er nämlich auf eine in Überzeugungen wurzelnde Legitimation angewiesen.38 Dies bedeutet konsequenterweise, dass das konstitutionelle Modell eben nicht einfach ein positivistisches, formaljuristisches Konstrukt darstellt, sondern auf die inneren Überzeugungen der Bürger angewiesen ist, damit verfassungsmäßige Rechte und Garantien ihre Wirkung zum Wohle aller Bürger entfalten können.Abschließend sei deshalb in diesem Zusammenhang auf das Böckenförde-Diktum verwiesen, wonach der säkulare Verfassungsstaat auf Grundlagen aufbaut, die er selbst nicht garantieren kann. Der Umstand, dass sich verfassungsrechtliche Ordnungen – selbst im Bewusstsein der historischen Rückfälle – bis jetzt vor allem in Ländern mit christlicher Tradition etabliert haben, sollte durchaus nachdenklich stimmen. Die islamischen Theologen, Religions- und Rechtsgelehrten könnten sicherlich einen wichtigen Beitrag zur freiheitlichen Entwicklung in muslimisch geprägten Ländern leisten. Solange sie sich aber nicht von der Idee lösen können, Staatszweck sei die Förderung des Islam, scheint ein solches Unterfangen illusorisch. Für eine Versöhnung mit den Inhalten der politischen Moderne bedarf es sicherlich eines tiefgreifenden Umdenkens, was jedoch nicht bedeutet, dass man sich mit allen Erscheinungsformen und flüchtigen Moden der Moderne einverstanden erklären muss.


Lukas Wick, Zürich


Anmerkungen

1 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat – Gesellschaft – Freiheit, Frankfurt a. M. 1976; ders., Der säkularisierte Staat, München 2006.

2 Vgl. Martin Heckel, Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 1-4, Tübingen 1997.

3 Vgl. Dignitatis Humanae, Pkt. 12.

4 Fälschlicherweise wird in diesem Zusammenhang gelegentlich behauptet, es handle sich bei der Frage nach der politischen Moderne um eine doktrinelle Anpassung. Dieses Missverständnis ist mit ein Grund für die Abspaltung der Piusbruderschaft; vgl. Martin Rhonheimer, Die „Hermeneutik der Reform“ und die Religionsfreiheit, in: Die Tagespost vom 29.9.2009.

5 Vgl. José Casanova, Die Angst Europas vor der Religion, Berlin 2009.

6 Vgl. Philip Jenkins, Das goldene Zeitalter des Christentums. Die vergessene Geschichte der größten Weltreligion, Freiburg i. Br. 2010.

7 Vgl. Nader Hashemi, Islam, Secularism, and Liberal Democracy, Oxford 2009.

8 Vgl. Rauf Ceylan, Die Prediger des Islam, Freiburg i. Br. 2010; Muhammad Q. Zaman, The Ulama in Contemporary Islam. Custodians of Change, Princeton 2002.

9 Vgl. Gudrun Krämer / Sabine Schmidtke (Hg.), Speaking for Islam. Religious Authorities in Muslim Societies, Leiden 2006.

10 Vgl. Lukas Wick, Islam und Verfassungsstaat. Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne, Würzburg 2009, besonders Kap. 6; darin werden die Schriften einflussreicher Religions- und Rechtsgelehrter analysiert. Es handelt sich dabei um die ehemaligen Vorsteher der Al-Azhar-Universität (Mahmud Schaltut, Muhammad Sayyid Tantawi) wie auch um den algerischen Salafisten Baschir al-Ibrahimi und den ägyptischen Reformtheologen Muhammad Ahmad Khalaf Allah.

11 Säkularität wird stets mit dem französischen Laizismus in Verbindung gebracht. Zum Wandel der Übersetzung des Begriffs „Säkularisierung“ siehe Helga Rebhan, Geschichte und Funktion einiger Termini im Arabischen des 19. Jahrhunderts (1798-1882), Wiesbaden 1986.

12 Die Frage, was Theologie im islamischen Kontext überhaupt bedeutet, ist grundsätzlich relativ komplex und kann an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Vgl. dazu Louis Gardet / Georges Chehata Anawati, Introduction à la théologie musulmane, Paris 1948; Robert Caspar, Traité de théologie musulmane, Rom 1987; Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie, München 1994.

13 Vgl. Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt, München 2002, 46ff. Gegenwärtig haben in der islamischen Welt nur Saudi-Arabien, Oman und Libyen keine Verfassung.

14 So gibt es beispielsweise schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts katholische Priester, die sich in Briefen nach Rom sehr positiv zu den politischen Freiheiten in den eben erst unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten äußern. Vgl. José Casanova, Die Angst Europas vor der Religion, a.a.O., 37.

15 Vgl. Rauf Ceylan, Die Prediger des Islam, a.a.O., 110ff.

16 Muhammad Q. Zaman, The Ulama in Contemporary Islam, a.a.O., 148.

17 Angesichts solcher Umtriebe und deren radikalislamisch-terroristischer Auswüchse sind nun allerdings Länder wie Marokko dazu übergegangen, wahhabitisch inspirierten Gruppen die Deutungshoheit über Koran und Sunna streitig zu machen. Meist handelt es sich dabei aber um staatliche Initiativen, die politischem Kalkül folgen. Die Unabhängigkeit solcher „theologischer“ Autoritäten darf daher mit Recht bezweifelt werden. Vgl. Laila Slimani, La bataille du livre, in: Jeune Afrique vom 10.8.2010. In der Türkei gibt es mittlerweile muslimische Theologen, die sich um eine zeitgemäßere Hermeneutik des Islam bemühen und sich dabei teilweise stark an christlichen Vorgaben ausrichten; vgl. Felix Körner, Alter Text – neuer Kontext, Freiburg i. Br. 2006.

18 Vgl. Naseef Naeem, Einflüsse der Religionsklausel auf die Verfassungsgebung in islamisch geprägten Ländern, in: Birgit Krawietz / Helmut Reifeld (Hg.), Islam und Rechtsstaat. Zwischen Scharia und Säkularisierung, Berlin 2008, 83: „So ist einer in den islamisch geprägten Ländern verbreiteten Auffassung entgegenzutreten, nach der eine eigene islamische Verfassungstheorie existiere.“

19 Eine Annäherung der islamischen Theologie an die politische Moderne könnte jedoch dadurch zustande kommen, dass historische Momente in der islamischen Geschichte wie etwa die Nachfolgeregelung Muhammads als Etappen politischer Entwicklung anerkannt und nicht mehr als das politische Ideal verklärt würden.

20 Vgl. Mohsen Kadivar, Islam und Demokratie, ein Widerspruch?, in: Katajun Amirpur (Hg.), Unterwegs zu einem anderen Islam. Texte iranischer Denker, Freiburg i. Br. 2009, 74. Zu Kadivar vgl. die unveröffentlichte Habilitationsschrift von Farshid Delshad, Universität Bern. Vgl. auch eine jüngst ausgestrahlte Fernsehdiskussion auf dem Sender Al-Arabiya über Islam und Politik (www.alarabiya.net/programs/2010/11/05/124948.html). Ein irakischer Imam gibt dabei zu verstehen, dass es im Islam keine Gleichberechtigung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen geben könne.

21 Man kann in diesem Vorgang durchaus Parallelen zur Leben-Jesu-Forschung erkennen, durch die versucht wurde, die Person Jesu jenseits hellenistischer, tradierter Überlagerungen freizulegen.

22 Mahmud Shaltut, Min tawgihat al-islam, Kairo 8[1982], 554.

23 Verschiedene Länder orientieren sich wieder mehr an der Scharia; Ägypten erhob beispielsweise die Scharia zur ersten Rechtsquelle, Libyen führte 1971 die Scharia ein.

24 Besonders prominent war der Fall des 2010 verstorbenen ägyptischen Literaturdozenten Nasr Hamid Abu Zaid, der seiner Bücher wegen des Unglaubens bezichtigt und von seiner Frau zwangsgeschieden wurde. Er ging deshalb nach Holland ins Exil.

25 Vgl. Tilman Nagel, Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, München 2008.

26 Vgl. Tilman Nagel, Mohammed. Leben und Legende, München 2008.

27 Vgl. Ali Abd al-Raziq, Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft, übersetzt von Assem Hefny, Frankfurt a. M. 2009.

28 Vgl. Muslim, Sahih – Kitab al-qadar, Kap. 6; Al-Buchari, Kitab al-qadar, Kap. 3; vgl. auch www.alhamdulillah.net/modules.php?name=Hadith-Bukhari  bzw. www.alhamdulillah.net/modules.php? name=Hadith-Muslim .

29 Vgl. Commission théologique internationale, A la recherche d’une éthique universelle: Nouveau regard sur la loi naturelle, Vatikan 2008, Pkt. 17; Geneviève Gobillot, La fitra. La conception originelle, ses interprétations et fonctions chez les penseurs musulmans, Kairo 2000.

30 Vgl. Abu Ezzati, Islam and Natural Law, London 2002, 70.

31 Vgl. Philip Jenkins, Das goldene Zeitalter des Christentums, a.a.O., 270ff.

32 Vgl. Scheich Fadlullah Nuri, Refutation of the Idea of Constitutionalism, in: John Esposito (Hg.), Islam in Transition, Oxford 1982, 293ff; Tilman Nagel, Islam – Die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen, Westhofen 2001, 127; Abdullahi A. An-Na’im, Religious Freedom in Egypt, in: Leonard Swidler (Hg.), Religious Liberty and Human Rights in Nations and Religions, Philadelphia 1986, 55ff.

33 Vgl. Wolfgang Waldstein, Ins Herz geschrieben, Augsburg 2010.

34 Vgl. Philip Jenkins, Das goldene Zeitalter des Christentums, a.a.O., 276ff.

35 Vgl. Rauf Ceylan, Die Prediger des Islam, a.a.O., 118. Ein türkischer Imam wird zitiert: „Allein die Tatsache, dass er (Muhammad Asad) auch Christen und Juden als gläubige Menschen anerkennt, ist für mich sehr revolutionär. Dafür wurde er aber auch von vielen konservativen Kreisen kritisiert.“

36 Vgl. Stefan Mückl, Die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit als zentrales Menschenrecht, in: Anton Rauscher (Hg.), Handbuch der katholischen Soziallehre, Berlin 2008.

37 Vgl. Mouhanad Khorchide, Der islamische Religionsunterricht zwischen Integration und Parallelgesellschaft, Wiesbaden 2009.

38 Vgl. Jürgen Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10.2.2007.