Klemens Ludwig

Die Opferrolle. Der Islam und seine Inszenierung

Klemens Ludwig, Die Opferrolle. Der Islam und seine Inszenierung, Herbig-Verlag, München 2011, 254 Seiten, 16,99 Euro.

Ludwig tritt der Behauptung von führenden Vertretern des Islam und ihrer nichtmuslimischen Unterstützer entgegen, „Muslime seien Opfer abendländischer Arroganz und Hegemonialbestrebungen“ (14). Er analysiert und kommentiert die wesentlichen Argumentationsmuster und den Kontext von muslimischen Selbstinszenierungen als Opfer des „Westens“ und des „Abendlandes“. Sehr hilfreich sind die Erläuterungen im ersten Kapitel zu den häufig pauschalierend und schief dargestellten Begriffen „Abendland“ und „Säkularisierung“. Das „Abendland“ sei nicht nur ein geografischer Begriff, sondern bezeichne eine „Geisteshaltung“, nämlich die „grenzüberschreitende Idee von einer Modernität in konsistenter Entwicklung“. Politischer Ausdruck dieser Idee sei die Trennung politischer und religiöser Macht, die Garantie grundlegender Freiheiten, die Gleichheit der Geschlechter und die Demokratie. Die abendländische Kultur mit ihrer Betonung von Individuum, Individualität, Rechtssicherheit und Bildung wurzele in der antiken griechischen Kultur. Renaissance, Reformation und Französische Revolution hätten zur Säkularisierung und zu der ersten Formulierung der Menschenrechte entscheidend beigetragen. Dies seien die Grundvoraussetzungen zur Herausbildung einer demokratischen Zivilgesellschaft, die ein hohes Maß an „individueller Freiheit, persönlicher Selbstbestimmung, politischer Mitgestaltung, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Sicherheit und Toleranz“ garantiere.

Diesem – gewiss als idealtypisch zu charakterisierenden – Bild des Abendlandes stellt der Autor kritisch kontrastierend die islamische Welt und ihre Werte gegenüber und warnt gleichzeitig vor der Behauptung vordergründiger Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam. Mit einem kurzen Streifzug durch die islamische Geschichte arbeitet Ludwig die tragenden Werte des Islam heraus: den radikalen Monotheismus, der im Aufruf des Propheten Mohammed zur Hingabe an diesen einen und einzigen Gott religiösen und auch politischen Ausdruck finde, denn Mohammed war, „im Unterschied zu Buddha oder Jesus, ein bewaffneter Prophet“ (39), sowie die Betonung der Gemeinschaft, deren „Ansehen und Ehre“ stets vor dem Individuum rangiere und dem sich jeder Einzelne widerspruchslos unterzuordnen habe. Dazu gehöre auch das im Wertekanon hoch bewertete „Opfer“ für Gott und die Gemeinschaft.

In den Kapiteln 2 und 3 (63-151) beschäftigt sich Ludwig mit den Akteuren der Opferrolle und ihren Motivationen, wobei er zahlreiche Beispiele aus dem Verbandsislam, dem proislamischem Journalismus, der Politik und der Wissenschaft (Literatur, Philosophie, Theologie und Islamwissenschaft) anführt. Ludwigs Darstellung zeigt die Konturen eines islamophilen Lagers, das in unterschiedlicher Tiefenschärfe, unterschiedlichen Motivationen und Argumentationsweisen doch durch die Wahrnehmung geeint wird, Muslime seien in unserer Gesellschaft in starkem Maße „Opfer“ offener und versteckter Diskriminierung, und es gebe in der Bevölkerung ein massives „Feindbild Islam“. Ludwig rückt Wahrnehmungen und Vorwürfe deutlich zurecht und verweist zu Recht auf Dramatisierung und Instrumentalisierung tatsächlicher oder auch nur gefühlter Diskriminierungen. Er beleuchtet kritisch einige überaus einseitige – weil die Schattenseiten des Islam ausblendende – Darstellungen des Islam bei Küng und Drewermann, zeigt die Unausgewogenheiten, Widersprüche und Schwachstellen eines proislamischen Journalismus (so besonders drastisch bei Kai Hafez, Sabine Schiffer, Thomas Steinfeld) auf und weist den Vorwurf von Jürgen Micksch, dem Vorsitzenden des „Interreligiösen Rates“, zurück, dass in Deutschland „Islamfeindlichkeit“ die „gegenwärtig am meisten verbreitete Form des Rassismus“ sei. Besonders perfide erscheine die seit einigen Jahren immer stärker hervortretende Betonung eines Zusammenhangs bzw. sogar einer Gleichsetzung von „Islamophobie“ und Antisemitismus, die insbesondere vom „Zentrum für Antisemitismusforschung“ an der TU Berlin und ihrem (ehemaligen) Leiter, Wolfgang Benz, gepflegt werde. Eine wichtige, wenn nicht die zentrale Motivation, die Opferrolle einzunehmen, sieht Ludwig in der Abwehr von „Verantwortung und kritischer Selbstreflexion“. Wer sich zum Opfer stilisiert, „verschafft seinem Gegenüber generell ein schlechtes Gewissen, denn es ist moralisch in einer höheren Position“ (110). So lenken die Akteure des Opferstatus von den dunklen Seiten des Islam ab, sie werden verschwiegen oder verharmlost, wie Ludwig im Blick auf Stellungnahmen von Islamverbänden (so z. B. der „Islamischen Charta“ des „Zentralrats der Muslime in Deutschland“, ZMD), Äußerungen einflussreicher Konvertiten (Ahmad von Denffer) und journalistischer Unterstützer (z. B. Thomas Steinfeld) herausarbeitet. Diese Situation ist nicht zuletzt einem europaweiten Prozess der zunehmenden Betonung und Durchsetzung islamischer Wertvorstellungen geschuldet, wie Ludwig zeigen kann. Ein besonders drastisches Beispiel war der Vorstoß des Erzbischofs von Canterbury, Rowan Williams, im Februar 2008, Scharia-Recht in der britischen Rechtsordnung zu verankern (s. dazu auch MD 4/2008, 134ff).

Die Huntington-These vom „Kampf der Kulturen“ hält der Autor im Kern für korrekt, denn für den politischen Islam, insbesondere in seiner iranischen Version, habe dieser Kampf schon längst begonnen. Ob vor diesem Hintergrund ein Dialog mit den „Trägern abendländischer Kultur“ überhaupt gelingen kann, ist für den Autor zweifelhaft, denn die „Entwicklungsdefizite“ des Islam, vor allem der Mangel an Selbstreflexion und Selbstkritik, seien erhebliche Hindernisse für einen rationalen Dialog. Schuld an der Misere des Islam sind stets „die Anderen“, d. h. der Westen, was durch eine Reihe „abendländischer Selbstanklagen“ (z. B. Küng, Galtung, Baudrillard) noch verstärkt wird. Ludwig benennt auch treffend die weißen Flecken in der Geschichtsschreibung des Islam, seien es die islamischen Sklavenjäger im 16./17. Jahrhundert (s. dazu das Buch von Giles Milton, White Gold, 2004), der Völkermord an den Armeniern oder der Umgang mit den christlichen Minderheiten in der islamischen Welt.

Dennoch lässt der Autor am Schluss seines Buches keine pessimistische Zukunftsprognose stehen: Es gibt in der islamischen Welt schon sehr realistisch und selbstkritisch urteilende muslimische Intellektuelle, die Defizite klar sehen, sich auf die „emanzipativen Ansätze im Sinne der Ijtihad-Tradition zurückbesinnen“ und zum Dialog bereit sind. Bei allem notwendigen Respekt sollte ein Dialog gleichwohl nicht im „Büßerhemd“, sondern aus einer selbstbewussten, die eigenen Werte bekräftigenden Haltung geführt werden. Individualität, persönliche Freiheit, Gleichheit, Pluralismus, Rede- und Versammlungsfreiheit, Toleranz, Menschenrechte und die Trennung von Religion und Politik sind die unverzichtbaren Elemente des westlichen Wertekanons und stehen nicht zur Disposition.


Johannes Kandel, Berlin