Hubert Wolf

Die Nonnen von Sant´Ambrogio. Eine wahre Geschichte

Hubert Wolf, Die Nonnen von Sant‘Ambrogio. Eine wahre Geschichte, Verlag C. H. Beck, München 2013, 544 Seiten, 24,95 Euro.

Dieses Buch taucht ein in die Welt des katholischen Antimodernismus des 19. Jahrhunderts. Dennoch reicht seine Bedeutung über den Katholizismus hinaus. Es ist ein Lehrstück dafür, wie eine Religion durch Übersteigerung und Verzerrung ihrer eigenen Werte und Maßstäbe pathologisch und in diesem Beispiel handfest kriminell entarten kann, hier freilich mit dem spezifischen Geschmack des Katholischen. Über den Katholizismus insgesamt lernt man zwar aus diesem Fall so viel oder wenig wie aus einem Fall von Stalking über das Wesen der Liebe. Aber der Blick wird geöffnet dafür, wie subtil ein Spiel um Macht und Gier im Gewand des Heiligen gespielt werden kann, hier eben im Ordenskleid. Für die Genauigkeit und Glaubwürdigkeit bürgt der Name des Verfassers Hubert Wolf, der zu den renommiertesten Kirchenhistorikern in Deutschland zählt. Er zeichnet aus den Akten der Inquisition einen Klosterskandal des 19. Jahrhunderts nach. Und beschreibt dabei eine Geschichte, die man einem Thriller-Autor wie Dan Brown wegen maßloser Übertreibungen nicht hätte durchgehen lassen. Aber so kann es gehen: Die reale Historie erfüllt manchmal mehr Klischees als die Fiktion, und das unter den Augen des Papstes in Rom und mit Beteiligung hoher Kirchenleute.

Sant‘Ambrogio in Rom ist ein Frauenkloster; dort sollen fromme Franziskanerinnen einer besonders strengen Observanz in der Abgeschiedenheit der Klausur ein gottgefälliges Leben führen. Tatsächlich dient es um 1850 herum einer jungen, schönen Novizenmeisterin als Spielplatz diverser homo- und heterosexueller Aktivitäten und brisanter Machtspiele. Dies wird von den Mitschwestern hingenommen, weil sich diese Nonne als Heilige und Dauerempfängerin von Privatoffenbarungen darzustellen versteht. Ob sie das Bett mit den Novizinnen teilt oder den jesuitischen Beichtvater zum außerordentlichen Segen durch Zungenkuss animiert: Immer tut sie es in höherem Auftrag. Sie empfängt nicht nur laufend persönliche Offenbarungen von der Gottesmutter Maria; diese übermittelt ihr auch mit realen handgeschriebenen Briefen überaus konkrete Weisungen für die Gestaltung des Klosterlebens. Zum Beispiel bestimmt sie, wer demnächst zur Äbtissin zu wählen sei. Die Mitschwestern glauben ihr und die hoch gebildeten jesuitischen Beichtväter des Klosters ebenso. Nur eine adlige Novizin aus Deutschland mit hochrangiger Verwandtschaft in der Kurie schöpft Verdacht. Als sie erste Zweifel und Kritik äußert, versucht die himmlisch so eng verbundene Novizenmeisterin, sie mit sehr irdischen Mitteln umzubringen. Aber diverse Giftanschläge erreichen ihr Ziel nicht; die Novizin, eine Fürstin Hohenlohe, kann mithilfe der prominenten geistlichen Verwandtschaft das Kloster verlassen, und ihre formelle Anzeige bei der Inquisition bringt schließlich nicht nur ein Verfahren in Gang, sondern auch die Wahrheit ans Licht. Die viel gescholtene Inquisition, hier ausnahmsweise mal der Anwalt von Vernunft und gesundem Menschenverstand, erwirkt eine amtliche Verurteilung der Beteiligten.

Auf den ersten Blick scheint das nicht mehr zu sein als die reale Kopie eines schlechten antiklerikalen Romans. Aber auf den zweiten Blick gewährt dieser Fall einen erschreckenden Einblick in die Untiefen des traditionellen Katholizismus – also gerade derjenigen Variante des Katholischen, die Traditionalisten bis heute als leuchtendes Gegenbild gegen die vermeintliche Dekadenz innerkirchlicher Aufgeklärtheit und Liberalität gilt. Es geht um mehr als um ein paar überdrehte Nonnen: Der pathologische, längst in den Bereich des Aberglaubens abgedriftete Katholizismus von Sant‘ Ambrogio hatte Verbündete bis in hohe und höchste Kirchenstellen hinein. Der Beichtvater, der an reale himmlische Briefe der Muttergottes glaubte und der schönen Novizenmeisterin und selbsternannten Heiligen die Beichten ihrer Novizinnen brühwarm weitergab, war ein hoch gebildeter Jesuit. Dieser Joseph Kleutgen, der sich hier gegen die Inquisition verteidigen musste, hat als gelehrter Theologe einer engherzigen und sterilen Neuscholastik zum Sieg gegen alle innerkatholischen Aufklärer verholfen. Er ist Teil eines innerkatholischen Kulturkampfes, in dem die Antimodernisten den Sieg davontrugen und dessen Nachwirkungen bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts reichten. Obwohl er in diesem Prozess der Häresie und des Bruchs des Zölibats wie des Beichtgeheimnisses überführt wurde, konnte Kleutgen später die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils, darunter das Unfehlbarkeitsdogma von 1870, maßgeblich mit formulieren.

Doch auch andere theologische Protagonisten spielten eine bedeutsame Rolle. Lange erfreute sich Sant‘Ambrogio der Protektion des deutschen Kardinals Karl August von Reisach, wie Kleutgen ein erbitterter Feind aufklärerischer Regungen in der katholischen Theologie. Papst Pius IX. schließlich erlaubte zwar die Untersuchung durch die Inquisition, verzögerte und verwässerte sie aber immer wieder. Ein strenges Urteil kam nur für die Novizenmeisterin und Giftmischerin zustande: 20 Jahre Klosterhaft bei strenger Isolation. Die beteiligten geweihten Männer, vor allem der Star-Antimodernist Joseph Kleutgen SJ, kamen, nachdem sie ihren Irrtümern abgeschworen hatten, mit zeitweiligem klösterlichem Hausarrest davon und konnten weiter Einfluss auf Theologie und Kirchenpolitik nehmen. Düpiert wurden liberale Katholiken wie Erzbischof Adolf zu Hohenlohe, der mit der Rettung seiner Nichte aus dem Kloster Sant‘Ambrogio den Stein der Untersuchung letztlich ins Rollen gebracht hatte. Laut Hubert Wolf setzte er „auf eine schlichte und spätaufgeklärte Religiosität, der jeder Hang zum übersteigerten Mystizismus, pseudokatholischem Irrationalismus und zu exaltierten Frömmigkeitsformen suspekt war“ (410). Aber gerade er wurde, ungeachtet des ihn stützenden Urteils der Inquisition, in den Folgejahren als unkatholisch diffamiert. „In einer Kirche, in der – wie er spottete – ‚die Unfehlbarkeit ... epidemisch geworden war‘, gab es keinen Platz mehr für einen wie ihn“ (ebd.).

Warum können auch Nichtkatholiken dieses Buch mit Gewinn lesen? Wer genau hinschaut, sieht hier Mechanismen am Werk, die auch in anderen konfessionellen oder religiösen Welten wirken können. Wenn man die katholische Terminologie verlässt, kann man hier ein unheilvolles Zusammenspiel von „Wortfundamentalismus‘“ und „Geistfundamentalismus“ beobachten, wie Reinhard Hempelmann es einmal formuliert hat. Denn Kleutgen ist Vertreter einer Theologie, die auf wörtliche Übernahme dogmatischer Formeln der Vergangenheit setzt und deren Entwicklungsmöglichkeit oder deren plurale Deutungsmöglichkeit verneint. Freilich spricht er diese dogmatische Unveränderbarkeit nicht dem unmittelbaren Wort der Bibel zu, sondern einer bestimmten Phase katholischer Tradition, nämlich der Scholastik und deren Adaption durch das kirchliche Lehramt. Dieser, wenn man so will, spröde Traditionalismus wird aber von ihm und anderen überaus gelenkig verknüpft mit einem mehr als naiven Wunderglauben und dem an keinerlei kritische Maßstäbe gebundenen Vertrauen auf Privatoffenbarungen enthusiastischer und visionärer Art. Dass diese dreist zur Privilegierung der vermeintlichen Offenbarungsträger ausgenutzt werden können, sieht man geradezu in Reinkultur bei den Nonnen von Sant‘Ambrogio. Aber wer die weltanschauliche Szene insgesamt betrachtet, dem würden auch vergleichbare pfingstlerisch-charismatische oder esoterische Beispiele einfallen. Darin liegt die über die Konfessionsgrenzen hinausgehende Brisanz des Falles Sant‘Ambrogio: Er gibt den Blick frei für das ungeheure Missbrauchspotenzial religiöser Bindung und Autorität. Dies wahrzunehmen, sollten die Gläubigen nicht den Kritikern von außen überlassen.


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.