Jan Badewien

„Die Kirche der Freiheit evangelisch gestalten“

Ein Bericht vom Symposium zum Gedenken an Michael Nüchtern (1949-2010)

Michael Nüchtern, der im Juli 2010 im Alter von 60 Jahren verstarb, war von 1995 bis 1998 Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Anschließend wurde er theologisches Mitglied des Oberkirchenrats der Evangelischen Landeskirche in Baden. An der Universität Heidelberg lehrte er im Fach Praktische Theologie. Am 19. Oktober 2011 veranstaltete die badische Landeskirche gemeinsam mit der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg ein „Akademisches Symposium zum Gedenken an Michael Nüchtern“. Das Thema lautete: „Die Kirche der Freiheit evangelisch gestalten – Michael Nüchterns Beiträge zur Praktischen Theologie“. Jan Badewien, Akademiedirektor der Evangelischen Akademie Baden, hat einen Tagungsbericht geschrieben. Im Anschluss daran dokumentieren wir seinen Tagungsbeitrag. Jan Badewien, Karlsruhe „Die Kirche der Freiheit evangelisch gestalten“ - Ein Bericht vom Symposium zum Gedenken an Michael Nüchtern (1949-2010)

Die Vorträge, die beim Symposium gehalten wurden, thematisierten die verschiedenen Aspekte des Wirkens von Michael Nüchtern als Theologe und als Mitglied des Leitungsgremiums der badischen Landeskirche.Landesbischof Ulrich Fischer hob Nüchterns „Beitrag zur theologischen Leitung“ hervor. Er verwies auf seine wesentliche Beteiligung an der EKD-Impulsschrift „Kirche der Freiheit“1, die zwar viel Kritik auf sich gezogen, aber wichtige Hinweise für die weitere Gestalt der Landeskirchen in Deutschland gegeben hat. Nüchterns Fähigkeit zur Analyse eines Problems, sein „zweiter Blick“, mit dem er neue Perspektiven eröffnet habe, sei in vielen Fragestellungen der Kirchenleitung wegweisend gewesen. Sein Konzept einer „Kirche bei Gelegenheit“ mit einer Neubewertung der Bedeutung von Kasualien und kirchlichen Events erweise sich als zukunftsweisend, habe es doch Möglichkeiten eines verbesserten Kontakts zu vielen Menschen eröffnet, denen Kirche fremd geworden ist.Das Referat von Fritz Lienhard (Universität Heidelberg) vertiefte diesen Aspekt und betonte Nüchterns Rolle als Vordenker von „Strukturen einer Kirche der Zukunft“. Er verwies auf Nüchterns Ansatz für eine neue Positionierung einer „Kirche bei Gelegenheit“2, die sich auf punktuelle Kontakte mit vielen ihrer Mitglieder einstellt und sie positiv gestaltet. Helmut Schwier (Universität Heidelberg) konkretisierte Nüchterns Arbeit zur Reform der Liturgie. So verstand Nüchtern Liturgie als Traditionspräsentation mit der Wiederentdeckung der Möglichkeiten des Kirchenraums und der Kirchenmusik für eine gegenwartsnahe Spiritualität. Und er entwickelte liturgische Möglichkeiten zur Gestaltung von Kasualien als Form von biografiebezogenen Segenshandlungen. Markus Mühling (ebenfalls Universität Heidelberg) formulierte im Anschluss an Nüchterns Arbeiten zu Kirche und Kultur Thesen zum Zusammenspiel von Theologie und Literatur.Klaus Nagorni (Evangelische Akademie Baden) hob Nüchterns Beitrag für die Weiterentwicklung der Arbeit der Evangelischen Akademie Baden hervor, in deren Leitung Nüchtern von 1978 bis 1995 tätig war. Nüchtern entwickelte neue Konzeptionen für diesen Arbeitsbereich auf der Grenze zwischen Kirche und Gesellschaft, die in der Akademiearbeit wichtig sind. Er benannte vier idealtypische Konzeptionen, die bis heute im Wechselspiel die Arbeit evangelischer Akademien prägen: 1. Die Akademie entwickelt sich zum Forum im Streit der Meinungen. 2. Sie wird als kritisches Gegenüber zu den etablierten Institutionen der Gesellschaft zum Faktor. 3. Sie beteiligt sich an der notwendigen Vermittlung ethischer Orientierung in den vielfältigen Veränderungsprozessen, denen die moderne Gesellschaft unterliegt. 4. Sie hat seelsorgerliche Funktion und bezieht sich auf die Lebensproblematik von Menschen.Mein eigener Beitrag stellte Nüchtern als apologetischen Theologen vor, der in verschiedenen Funktionen den gegenwärtigen „Markt der Religionen“ beobachtet und analysiert hat – als Landeskirchlicher Beauftragter für Weltanschauungsfragen, als Leiter der EZW und als Oberkirchenrat, der u. a. für die Weltanschauungsarbeit der Landeskirche Verantwortung trug. In seinen vielfältigen Ausführungen über die „Kirche in Konkurrenz“3, über Tendenzen und Strömungen im „Panorama der neuen Religiosität“4 ging es ihm stets um die darin sich eröffnenden Chancen und Herausforderungen für die Kirche, wobei auch die Spiegelung weltlicher Bezüge auf biblische Themen und Gestalten in Literatur und Werbung für ihn von besonderer Bedeutung war.Georg Lämmlin (Universität Heidelberg), der das Symposium vorbereitet und geleitet hat, beschloss die Reihe der Referate mit Ausführungen zu „Kirche bei Gelegenheit – dem segnenden Gott auf der Spur“. Er wies darauf hin, dass sich in Nüchterns Konzeption eine „kritische und konstruktive Sicht auf die Situation der Kirche im Kontext der dynamischen, pluralistischen und individualistischen modernen Gesellschaft“ findet. „Kirche bei Gelegenheit“ nimmt die „Dynamik und Flüchtigkeit lebensweltlicher Kommunikation in ihrer grundlegenden Auswirkung auf kirchliche Praxis“ ernst und wirbt für eine „kirchliche Praxis, die dem segnenden Gott auf der Spur und den Lebensgeschichten der Menschen nahe bleibt“.Ein liturgisch-musikalisch gestalteter Abend mit Rezitation von Texten von Michael Nüchtern beschloss die Veranstaltung. Das Symposium war eine angemessene Würdigung des leider so früh verstorbenen Theologen, dessen weit gespannte Interessen und Aufgabenbereiche und dessen bleibende Impulse für Theologie und Kirche an diesem Tag deutlich wurden.


Jan Badewien


Anmerkungen

1 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, 2006.

2 Michael Nüchtern, Kirche bei Gelegenheit. Kasualien, Akademiearbeit, Erwachsenenbildung, Stuttgart 1991.

3 Michael Nüchtern, Kirche in Konkurrenz. Herausforderungen und Chancen in der religiösen Landschaft, Stuttgart 1997.

4 Reinhard Hempelmann u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts; Gütersloh 2001 (22005).