Heiner Ullrich

Die Freie Waldorfschule

Ein anthroposophisches Schulmodell aus erziehungswissenschaftlicher Sicht

1. Die Organisationsform der Waldorfschulen und die Leitlinien ihrer pädagogischen Arbeit

• Freie Waldorfschulen sind rechtlich und finanziell autonome Schulen mit einer besonderen pädagogischen Prägung. Waldorfschulen werden in der Regel von einem Schulverein getragen, durch einen gewählten Vorstand wirtschaftlich geleitet und mit Hilfe eines Schulgeldes von den Eltern (mit-)finanziert. Statt einer direktorialen gibt es eine kollegiale Schulleitung.

• Waldorfschulen sind koedukative Einheits- bzw. Gesamtschulen, in denen die Schüler ohne Zensuren und Sitzenbleiben in stabilen, leistungsheterogenen Jahrgangsklassen in der Regel vom ersten bis zum zwölften Schuljahr – also während ihrer gesamten Schulzeit – gemeinsam lernen. Statt der amtlichen Noten- oder Punktezeugnisse erstellen die Waldorflehrer jährliche Schülercharakteristiken bzw. Lernberichte in freiem Wortlaut.

• Der Lehrplan, der Stundenplan und der Aufbau des Unterrichts sollen sich in erster Linie am jeweiligen Stand der Entwicklung des Kindes bzw. des Jugendlichen orientieren und sich ganzheitlich auf die verschiedenen Bereiche seiner Persönlichkeit („Kopf, Herz und Hand“) beziehen. Die Schüler benutzen in der Waldorfschule keine fachspezifischen Lehrbücher; statt ihrer halten sie die von ihren Lehrern im Unterricht behandelten Themen und Aufgaben handschriftlich in je individuell ausgestalteten Epochenheften fest.

• Durch die tendenzielle Gleichgewichtung von kognitiven, musisch-künstlerischen, handwerklich-praktischen und sozialen Lernbereichen im Unterricht und im Schulleben soll die Persönlichkeit des Schülers vielseitig gebildet werden.

• An der Freien Waldorfschule werden schon von der ersten Klasse an zwei moderne Fremdsprachen gelehrt. Eine weitere Besonderheit der Waldorfschulen ist der Unterricht in dem von Rudolf Steiner neu geschaffenen Schulfach Eurythmie. In vielen Ländern gibt es an Waldorfschulen christlichen Religionsunterricht in kirchlich-konfessioneller und in freier, an Steiners Christenlehre orientierter Form; denn Waldorfschulen verstehen sich als Schulen aus christlichem Geist.

• Die tägliche Unterrichtszeit gliedert sich in den allmorgendlichen zweistündigen „Hauptunterricht“, in welchem jedes der traditionellen Hauptfächer nur ein- bis zweimal pro Jahr in „Epochen“ von drei bis vier Wochen täglich gelehrt wird, und in den einstündigen „Fachunterricht“, der sich auf die Fremdsprachen, die künstlerisch-handwerklichen Fächer und Religion erstreckt.

• Der Klassenlehrer erteilt in den ersten acht Schuljahren der Unterstufe den täglichen Hauptunterricht in allen Fächern. Für die Tätigkeit eines Klassenlehrers wird der Abschluss einer spezifischen Waldorflehrer-Ausbildung vorausgesetzt.

Auf Grund der strukturellen Ähnlichkeiten mit den kindorientierten „Lebensgemeinschaftsschulen“ der klassischen Reformpädagogik (vgl. Skiera 2003) – den Montessori-, Jena-Plan- und Freinet-Schulen – und der zeitlichen Parallele ihrer Gründung im Jahre 1919 wird die Freie Waldorfschule in der Öffentlichkeit zumeist als reformpädagogisches Schulmodell diskutiert.

Ich möchte im Folgenden zeigen, dass diese Art der Rezeption viel zu kurz greift und die tiefgründige weltanschauliche Prägung dieser Schulkultur konzeptionell verfehlt.

2. Die Freie Waldorfschule – eine Schule aus dem Geist der Anthroposophie

Die Waldorfschule versteht sich offiziell als eine Schule mit einer besonderen pädagogischen Prägung, nicht als eine Weltanschauungsschule, in welcher den Schülern eine religiöse oder wissenschaftliche Doktrin gelehrt wird. Obwohl der größte Teil der Lehrerschaft sich innerlich der Anthroposophie Rudolf Steiners verpflichtet fühlt, wird Anthroposophie als Schulfach bzw. als Inhalt eines Faches offiziell nicht gelehrt. Darauf hat schon Steiner selber in seinen Ansprachen für die Eltern, Lehrer und Kinder der ersten Waldorfschule insistiert: „Das Wie im Unterricht, das ist es, was wir gewinnen wollen aus unserer geistigen Erkenntnis. […] Auf dieses Wie wollen wir sehen, nicht auf das Was“ (Steiner GA 298, 1958, S. 64). Ich möchte im Folgenden genauer darstellen, in welchen Formen und in welchem Umfang dieses anthroposophische „Wie“ an der Waldorfschule realisiert wird.

a. Das pädagogische Verhältnis – Führung durch den Klassenlehrer

Anders als in den genuin reformpädagogischen Konzeptionen steht dem Kind in der Zeit zwischen der Schulreife und der Pubertät in der Waldorfschule eine „richtunggebende Persönlichkeit“ (Leber) gegenüber, die sein Temperament harmonisieren und durch einen anschaulich gestalteten Unterricht ein vielseitiges Interesse veranlagen soll. Diese Aufgaben einer „geliebten Autorität“ (Steiner) soll der Klassenlehrer erfüllen. Er möchte ein „universeller Geist“ sein, kein Spezialist. Deshalb unterrichtet er die Schüler „seiner“ Klasse in der Regel vom ersten bis zum achten Schuljahr in nahezu allen Schulfächern mit Ausnahme der Fremdsprachen und der musisch-praktischen Fächer.

Eine der zentralen Aufgaben des Klassenlehrers in der Waldorfschule ist die Temperamentserziehung (vgl. Ullrich 1991, S. 145ff). Das Temperament des Kindes wird zur Richtschnur zahlreicher unterrichtlicher Maßnahmen. So setzen Klassenlehrer in vielen Waldorfschulen ihre Schüler entsprechend ihrem Temperamentstyp in vier Gruppen; nach den Angaben Steiners sollen die Phlegmatiker und die Choleriker außen, die Melancholiker und Sanguiniker dazwischen ihren Platz haben. Eine „Behandlung“ der Temperamente im Unterricht findet auch dadurch statt, dass der Lehrer nacheinander im Wechsel immer eine andere Gruppe mit dem ihrem Temperament entsprechenden Impuls anspricht: Bei der Einführung der Buchstaben in der ersten Klasse gestaltet er etwa das „K“ lautlich und bildlich gemäß dem cholerischen Temperament; beim Rechnen lässt er die Phlegmatiker addieren, die Sanguiniker multiplizieren usw.; beim Musizieren setzt er den Melancholiker mit einem Streich- und den Sanguiniker mit einem Blasinstrument ein; und in der Wahl seiner Erzählungen wird er im Blick auf die Temperamente der Kinder durch entsprechende Identifikationsfiguren ihre moralischen Kräfte wecken. Das Ziel der Temperamentserziehung ist es, die seelische Konstitution des Kindes ins Gleichgewicht zu bringen, um aus Vereinseitigungen entspringenden Erkrankungen vorzubeugen.

Eine weitere Hauptaufgabe des Klassenlehrers ist das Unterrichten nach dem Grundsatz der Bildhaftigkeit zur Kultivierung der „freigewordenen“ ätherischen Bildekräfte. Im vorhergehenden ersten Jahrsiebt hatten sich bekanntlich im Kind durch die vor allem im Spiel erfolgende tätige Nachahmung die äußeren Sinne ausgebildet. Das Kind war hier „ganz Sinnesorgan und Plastiker“ (Steiner); das Motto der Weltbegegnung im Kindergarten lautete: die Welt ist nachahmenswert gut. Im zweiten Jahrsiebt entfaltet nun die zur bildhaft-künstlerischen Nachfolge anregende Autorität des Klassenlehrers die inneren Sinne – die Anschauung, das Gedächtnis und die Phantasie. Das Kind ist „Zuhörer und Musiker“ (Steiner). Das didaktische Motto ist jetzt: die Welt ist schön. Alles, was gesagt und getan wird, soll schön sein, sei es die Art, wie der Lehrer spricht oder auch wie er an die Tafel schreibt. Der bevorzugte didaktische Ort für die bildhafte Darstellung ist die tägliche Erzählung des Klassenlehrers in der letzten Phase des Hauptunterrichts. Hier werden die Schüler im Laufe der ersten acht Schuljahre durch die Abfolge der Erzählstoffe von den Märchen, Legenden und Fabeln über nachweisbare Historie und Biographie bis zu den Gründern unserer wissenschaftlichen Zivilisation geführt. Der zunehmende Realismus der Erzählstoffe soll auch mit den beiden seelischen Entwicklungsschritten des Kindes innerhalb des zweiten Jahrsiebts in Einklang stehen: dem Erwachen des Ich-Bewusstseins um das neunte und des kausal-begrifflichen Denkens um das zwölfte Lebensjahr herum. Im anschließenden dritten Jahrsiebt bilden sich die abstrakt-begriffliche Erkenntnis und das selbstständige Urteilsvermögen heraus; das Motto des wissenschaftsorientierten Fachunterrichts lautet jetzt: Die Welt ist wahr.

Die dritte Hauptaufgabe des Klassenlehrers, die aus den beiden anderen folgt, ist die individualisierte Zeugnisgestaltung. Das notenfreie Waldorfzeugnis besteht in den ersten acht Schuljahren aus der in der Regel eine ganze Seite umfassenden Gesamtcharakteristik des Schülers durch den Klassenlehrer und den jeweils nur in wenige Zeilen gefassten Kurzberichten der Fachlehrer. In seiner Charakteristik misst der Klassenlehrer den Schüler nicht an einer Sachnorm oder an der Leistung seiner Mitschüler; er will vielmehr Angaben über die Persönlichkeit und über die Entwicklung des Schülers machen, sein „Wesensbild“ skizzieren. Dies geschieht zumeist aus der Perspektive der anthroposophischen Menschenkunde, insbesondere der Lehre von den vier Temperamenten und der Lehre von der Entwicklung in Jahrsiebten, welche in sich wieder dreifach untergliedert sind. Der „objektive“ Teil des Zeugnisses ist eine Art Lernbericht, ein Rückblick auf den Lernweg und die Lernerfolge des Schülers in den verschiedenen Lernbereichen und Epochen des Hauptunterrichts.

Im „subjektiven“ Teil wendet sich der Klassenlehrer oft, wie in einem kurzen Brief, direkt an den Schüler. Den Schluss des Zeugnisses bildet dann der Zeugnisspruch, welchen der Klassenlehrer speziell für diesen Schüler selbst verfasst oder aus einer der von Waldorflehrern publiziert vorliegenden Spruchsammlungen ausgewählt hat. Diesen „seinen“ Spruch soll der Schüler im folgenden Schuljahr allwöchentlich an dem Wochentag, an dem er geboren wurde, zu Beginn des Hauptunterrichts vor der Klasse vortragen, um gleichsam daran zu wachsen. Durch seine sprachliche Gestalt, insbesondere seine Metrik, soll auch der Zeugnisspruch zur Harmonisierung der Schülerpersönlichkeit beitragen (vgl. Müller 1977, S. 22). Das folgende, vom Klassenlehrer handschriftlich verfasste Zeugnis ist am Ende des dritten Schuljahrs für Franziska (anonymisiert) an einer deutschen Waldorfschule ausgestellt worden:

Freie Waldorfschule A.

Einheitliche Volks- und höhere Schule

Dieses Zeugnis

wird Franziska B. geboren am 23.05. XX in C.

für die Klasse 3 im Schuljahr 2000/2001 gegeben.

Franziska kommt morgens als eine der Letzten in den Klassenraum. Sie begrüßt dann fix ihren Lehrer mit offenem, erwartungsvollem Blick und reiht sich bescheiden in die Klassengemeinschaft ein. Das allmorgendliche Rätsel ist für Franziska ein besonderer Reiz. Wenn sich ihr Finger hebt, hat zumindest einer die Lösung gefunden. Sie ist unsere Rätselkönigin.

Franziska hat sich in diesem Schuljahr sehr verändert. Ihr Temperament hat sie den Rubikon tief durchleben lassen und zu Schuljahresbeginn war sie sehr auf der Suche. Mit ihrem neuen Haarschnitt ist sie auch zu einem neuen gestärkten Selbstbewusstsein gekommen und steht viel fester auf ihren Füßen. Franziska weiß genau, was sie will, und doch begegnet sie ihren Klassenkameraden liebevoll und zuhörend. Sie ist ein geschätzter Kamerad.

In den Morgenspruch und die rhythmischen Sprüche und Lieder bringt sich Franziska ganz ein. Sie kann einen Rhythmus mittragen. Wenn Franziska ihren Zeugnisspruch aufsagt, ist es ganz ruhig. Die anderen wissen, dass sie sehr leise spricht.

Franziskas feingliedriges Wesen zeigt sich auch im Formenzeichnen. Ihre Formen sind harmonisch und dünnwandig. In der zweiten Epoche sind sie deutlich kraftvoller und klarer. Ihre Beziehung zum Räumlichen ist gesund entwickelt.

Im Rechnen hat Franziska in diesem Schuljahr gute Fortschritte gemacht. Das kleine Einmaleins hat sie sicher parat und ist bei unseren mündlichen und schriftlichen Übungen als eine der Schnellsten „gefürchtet“. In der vierten Klasse wird Franziska noch lernen, ein Rechenheft vom Anfang bis zum Ende ganz sorgfältig und ordentlich zu führen.

In Schrift und Sprache ist Franziska eine der Klassenbesten. Sie liest geübte und unbekannte Texte flüssig und fehlerfrei. Ihre Sicherheit lässt sie manchmal zu schnell werden und die Ausdruckskraft vernachlässigen. Von der Tafel schreibt Franziska fehlerfrei ab. In kleinen freien Aufsätzen ist sie sehr fleißig und zeigt, dass sie die Rechtschreibung schon gut beherrscht.

In den praktisch-handwerklichen Epochen hat Franziska interessiert mitgearbeitet und den Unterricht mit ihrer Klarheit unterstützt. Sie hat fleißig Kartoffeln aufgelesen, ein schönes Körbchen geflochten und kräftig mitgebaut.

Franziska kann mit dem Wässrigen besonders feinfühlig umgehen. Sie vertieft sich in das Wasserfarbenmalen und malt stets eines unserer schönsten Bilder. Für ihre weitere Entwicklung scheint es eine pädagogische Herausforderung, ihre tiefe Innerlichkeit mehr noch in Lebens- und Durchsetzungskraft zu verwandeln.

Für Franziska:

Alles fügt sich und erfüllt sich, musst es nur erwarten können

Und dem Werden deines Glückes Jahr’ und Felder reichlich gönnen,

Bis du eines Tages jenen reifen Duft der Körner spürest

Und dich aufmachst und die Ernte in die tiefen Speicher führest.

(Christian Morgenstern)

Dieses Waldorfzeugnis2 stellt nicht nur eine lerndiagnostisch weit ausgreifende positive Beurteilung einer Schülerin dar; es ist zugleich auch ein Dokument für eine harmonische – und vermutlich auch für Franziska produktive – Lehrer-Schüler-Beziehung. Es müsste noch um andere ergänzt werden, aus denen nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken dieses gewollt engen pädagogischen Verhältnisses zwischen dem Klassenlehrer und den Schülern „seiner“ Klasse hervortreten. Es steht zu vermuten, dass die besondere affektive Nähe dieser langjährigen Beziehungen und der mit ihr verbundene hohe persönlichkeitsdiagnostische Anspruch nicht nur zu größerer Sympathie und tieferem Verständnis, sondern auch zu stärkeren Spannungen und zu unbewussten Verkennungen der Schülerindividualität führen können (vgl. dazu Idel 2006).

b. Das Lehrgefüge – genetisch, organisch, rhythmisch

Für den Waldorflehrer ergibt sich allein schon aus dem Entwicklungsrhythmus innerhalb des zweiten Jahrsiebts „genetisch“ der maßgebende Gesichtspunkt für den Aufbau seines Sachunterrichts. Das Kind lebt für ihn vom siebten bis zum zehnten Lebensjahr noch im „Märchenalter“, in einer naiven Verbundenheit mit seiner Sach- und Mitwelt. Deshalb sollen die Tiere, Pflanzen und Dinge auch noch so wie in Märchen, Fabeln und Legenden persönlich zu ihm sprechen; sie sollen „erlebt“ werden. Im Alter von ca. zehn Jahren stellt sich die Dingwelt dem Kinde gegenüber, nachdem es gemäß Steiner den „Rubikon“ zum Ich-Bewusstsein unwiderruflich überschritten hat. Jetzt beginnt die morphologisch-„verstehende“ Naturkunde, welche von der plastischen Erfahrung der Form des Menschen zur bildhaften Erfassung der Gestalten der Tiere und Pflanzen „hinab“ schreitet. Vom zwölften Lebensjahr an setzt – mit dem Hervortreten des kausalen Denkens – der „erklärende“ Unterricht ein, der die Heranwachsenden in Geologie, Physik und Chemie zu den elementaren Naturgesetzen hinführt.

Der Waldorflehrplan will kein mechanisches Aggregat von Stoffreihen sein, die mit der Entwicklung des Kindes nur in loser Beziehung stehen. Er soll vielmehr– durch den über lange Jahre vom Klassenlehrer gestifteten organischen Zusammenhang der Lehrstoffe – gewährleisten, dass das Kind die Welt nicht in einzelne Wissensgebiete auseinander gerissen erlebt, sondern als geordneten Vorstellungskreis empfindet. Dies soll ein Lehrplan verbürgen, dessen Inhalte vertikal nach menschheitlichen Kulturstufen3 strukturiert und horizontal um altersspezifische Erzählstoffe herum konzentrisch gruppiert sind, welche der Klassenlehrer im täglichen Hauptunterricht vorträgt oder mit den Schülern liest. Der Kulturstufenlehrplan soll die Lebensaltersstufen des Kindes mit denen der Menschheit historisch-genetisch synchronisieren; er zeichnet dabei von den magisch-animistischen über die mythisch-religiösen bis zu den rational-wissenschaftlichen Weltauffassungen die Bewusstseinsgeschichte unseres Kulturkreises nach und stellt die Schülerinnen und Schüler schließlich vor die Herausforderungen ihrer Gegenwart. Auf jeder Stufe soll ein bestimmter Erzählstoff den Fokus bilden, gleichsam den Stamm für die Äste der übrigen Bildungsstoffe eines Schuljahres. Dieselbe „organische Stufenordnung“, nach der die Erzählstoffe von den Märchen, den Fabeln und Legenden über die Geschichten des Alten Testamentes, die germanischen Götter- und Heldensagen, die Mythologie der Griechen und Römer, Biographien aus Mittelalter und Reformationszeit bis zu solchen aus der bürgerlichen Klassik und der beginnenden Moderne „aufsteigen“, sie findet sich auch in den anderen kultur- und naturkundlichen Epochen und Fächern des Waldorfcurriculums – ebenso wie in Handarbeit und Werken. Hier wird die Nadelarbeit der ersten vier Schuljahre (erst Stricken, dann Häkeln, Sticken und Nähen) ab der fünften Klasse ergänzt durch handwerkliche Formen der Holzbearbeitung (erst Schnitzen, dann Raspeln, Sägen und Hobeln) und vom neunten Schuljahr an erweitert sowohl durch die kunsthandwerklichen Tätigkeiten des Kupfertreibens, Korbflechtens und Buchbindens als auch durch die technisch-industrielle Fertigung von Geräten aus Metall (Schmieden und Schlossern).

Im „ganzheitlichen Bildungsprogramm“ der Waldorfschulen haben die musisch-künstlerischen und die handwerklich-praktischen Fächer seit jeher ein vergleichsweise stärkeres Gewicht als an den Regelschulen. Denn für eine harmonische Entwicklung der Individualität des Schülers hält es der Waldorfpädagoge für nötig, nicht nur die Gedankenwelt, die ihren Sitz im Nerven-Sinnes-Systems („Kopf“) hat, anzusprechen, sondern über die Künste ebenso seine Gefühlswelt im Herz-Kreislauf-System („Herz“) zu kultivieren und über das Handwerk seine Willenstätigkeit im „Gliedmaßen-Stoffwechsel-System“.

Ein „einheitlicher Kosmos“ soll indes in der Waldorfpädagogik nicht nur der Lehrplan sein, sondern die gesamte Erziehungswirklichkeit der Schule. Und so ist die Praxis der Waldorfschulen nicht nur in ihrer inhaltlichen, sondern auch in ihrer räumlichen, zeitlichen und sozialen Dimension durchgehend entwicklungsgemäß gestaltet, „rhythmisiert“.

In ihrer an das Steinersche „Goetheanum“ gemahnenden „organischen“ Architektur ist die räumliche Welt der Waldorfschule nach der Wesensgliederung des Menschen anthropomorph als Kopf, Herz und Hand gestaltet. In bewusster Meidung des rechtwinkligen Formprinzips will sie durch ihre „metamorphosierende“ Bauform dem Schüler ein entwicklungsgemäßer Lern- und Lebensraum sein. Durch die festlich sich weitende Eingangshalle betreten Schüler und Lehrer die Schule als einen Raum, in dem sie sich unter einem Dach zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die sich im zyklischen Rhythmus der Jahreszeiten regelmäßig im Festsaal, dem „Herz“ der Schule zu Feiern versammelt. Im Schulbau soll somit von der Gesamtgestalt über die Proportion, die Akustik, die Farbgebung, die Bildmotivik, den Lichteinfall bis zur Himmelsrichtung die Räumlichkeit ganz auf die Erfordernisse der Erziehung bezogen werden. In den Schulklassen wandeln sich z. B. die Farbgebung der Wände und die Motive der Wandbilder „altersstufengemäß“ von Jahr zu Jahr. Die Farbgebung schreitet nach den Angaben Steiners vom ersten bis zum achten Schuljahr die Spektralfarben in der Richtung vom Rot übers Gelb, Grün, Blau bis zum Violett ab; die Bildmotive in den Klassenräumen orientieren sich ebenso schematisch an der Abfolge der Erzählstoffe des Waldorflehrplans. Die Sitzordnung der Schüler schließlich wird in den ersten acht Schuljahren oft nach ihren (vier) Temperamentstypen gebildet.

Wie die räumliche ist auch die zeitliche Dimension der Erziehungswirklichkeit durch zahlensymbolische Zeitgestalten „rhythmisch“ gegliedert. Den äußeren Rahmen der Schulzeit bilden die durch die „Geburten“ der Wesenskräfte des Menschen bestimmten Jahrsiebte der Entwicklung, die sich – wie schon bei Hippokrates – am Beginn des Zahnwechsels bzw. der Geschlechtsreife ablesen lassen sollen. Jedes Jahrsiebt wird nochmals „rhythmisch“ in drei Abschnitte von je 2 1/3 Jahren gegliedert, in denen bei den Seelenkräften zuerst das Wollen, dann das Fühlen und schließlich das Denken dominiert.

Im Jahreslauf wird in Anlehnung an das christliche Kirchenjahr der Beginn der vier Jahreszeiten mit besonderen Festen und darauf vorbereitenden Erzählungen akzentuiert: Weihnachtsspiel, Ostern bzw. Frühlingsanfang, Sommerfest, Michaeli. Dem Monat entsprechende Rhythmen entstehen durch die stoffliche Gliederung des Hauptunterrichts in Epochen und durch die sog. Monatsfeiern, in denen die Schüler im Unterricht Erarbeitetes vor der gesamten Schulöffentlichkeit im Festsaal zur Darbietung bringen. Der Wochenrhythmus entsteht durch die wöchentliche Wiederkehr des Aufsagens der Zeugnissprüche. Jeden Donnerstagnachmittag ist die Konferenz der Lehrer. Der Rhythmus des einzelnen Tages entsteht dadurch, dass täglich im Nacheinander zunächst die mehr betrachtenden Fächer, dann die künstlerischen und schließlich die mehr handwerklichen und technischen Tätigkeiten unterrichtet werden.

Denselben Rhythmus im Kleinen soll der Hauptunterricht des Klassenlehrers aufweisen: Nach der Begrüßung eines jeden Schülers per Handschlag und dem Aufsagen der Zeugnissprüche, der chorischen Rezitation eines Gedichts bzw. gemeinsamem Gesang erfolgt die Einführung von Neuem bzw. die Einübung von Bekanntem; am Schluss der Stunde wird gespielt, nochmals gesungen oder dem Erzählstoff des Lehrers Gehör geschenkt. Jede Stunde ist also in der Regel so gestaltet, dass in einem „rhythmischen Teil“ der Wille, in dem „mittleren Teil“ das Gefühl und in einem „ruhigen Abschluss“ das Denken des Kindes angesprochen wird.

Schließlich ist auch die soziale Mitwelt des Schülers „rhythmisch“ gegliedert. Sie ist untergliedert in den Nahbereich der Beziehung zu dem bewusst erziehenden Klassenlehrer und in die weiter entfernte Zone der Kontakte zu der nur unterrichtenden Fachlehrerschaft. Der Wechsel in die Oberstufe zu Beginn des dritten Jahrsiebts bedeutet zugleich den abrupten Übergang vom Klassen- zum Fachlehrerprinzip, vom Primat der Person und des Bildes zum Primat der Sache und des Begriffs.

c. Die Organisation des Unterrichts – leistungsheterogen und epochal

Die Waldorfpädagogik vertritt programmatisch eine Pädagogik der altersgemäßen Förderung, nicht der leistungsorientierten Auslese. Die Schülerschaft einer Klasse soll deshalb grundsätzlich von der Einschulung bis zum Schulabschluss als ein stabiler „sozialer Organismus“ erhalten bleiben, innerhalb dessen jeder Einzelne seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert werden soll. Deshalb gibt es weder das Wiederholen einer Klasse für die schwächsten Schüler noch besondere Leistungskurse für die stärker begabten wie etwa an Integrierten Gesamtschulen. Ein wichtiger Effekt dieser auf Förderung und Integration gerichteten Praxis ist das hohe Ausmaß an personaler Stabilität, aber auch an Leistungsheterogenität unter der Schülerschaft einer Waldorfklasse. Der Umgang mit einem solch hohen Grad an Differenz zwischen den fachlichen Lernleistungen in einer Klasse stellt den Waldorflehrer – und auch die Mitschüler – vor besondere Anforderungen.

An die Stelle der standardisierten Lehrwerke treten in den Waldorfschulen auf der Seite des Lehrers zumeist der lebendige Vortrag, die Demonstration und das Experiment sowie der kunstvolle Tafelanschrieb, auf der Schülerseite die je individuelle Anfertigung der Epochenhefte – der mit eigener Hand geschriebenen und gemalten Merkbücher der Schüler. Für jede neue Unterrichtsepoche, d.h. ca. alle drei bis vier Wochen, wird ein neues, unliniertes Heft angelegt, in welches nach Aufforderung durch den Lehrer alles hineingeschrieben und -gezeichnet wird, was zum Thema gehört. Die Epochenhefte dienen als Grundlage für die Lernkontrollen; ihre sorgfältige Bearbeitung soll von den Lehrern regelmäßig begutachtet werden.

Im Epochenunterricht wird drei bis vier Wochen lang an jedem Morgen ein Unterrichtsfach eindreiviertel Stunden lang ohne Pause behandelt. In den traditionellen „Hauptfächern“ wird das gesamte Lernpensum des Schuljahres in zwei Epochen, in den „Nebenfächern“, z.B. in Physik, in einer einzigen zwei- bis dreiwöchigen Epoche vermittelt. Im Epochenunterricht sollen die Schüler gründlicher und nachhaltiger als in den üblichen Kurzstunden lernen können. Die größten Herausforderungen des Epochenunterrichts liegen für die Waldorfpädagogen thematisch in der Auswahl und Ordnung des Stoffes von einer fruchtbaren Leitidee aus und organisatorisch im verantwortlichen Umgang mit der zunächst üppig erscheinenden, schließlich aber kaum ausreichenden Zeit. Denn in vielen Fächern gibt es nur eine Epoche pro Schuljahr, z.B. nur einmal Physik – wenn auch zwei bis drei Wochen lang an jedem Morgen. Danach tritt eine Pause von ca. elf Monaten ein.

d. Die Methode des Lehrens – goetheanistisch

Das Lehren soll „ganzheitlich“ und schülernah erfolgen. Die Waldorfpädagogen wollen die Schüler lehren, die Phänomene der Natur und die Werke der Kultur „erlebend zu verstehen“, indem sie sich eng „mit der Welt verbinden“. Deshalb soll z.B. die ursprüngliche physiognomisch-imaginative Naturauffassung des Kindes im Voranschreiten zum exakten, begrifflich-abstrakten Denken der modernen Naturwissenschaft nicht einfach verabschiedet, sondern in einer phänomenologischen Naturkunde bewahrt werden. An den Phänomenen sollen die Schüler jenes Denken und jene produktive Imaginationskraft entwickeln, durch welche sich in ihnen etwas von dem lebendigen Zusammenhang und dem schöpferischen Wesen der Natur aussprechen kann. Deshalb geht es im Naturkundeunterricht der Waldorfschule nicht nur um elementare wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ebenso um die emotionale Einfühlung und künstlerische Nachbildung sowie um weltanschaulich-existentielle Fragen. Die phänomenologische Naturkunde bescheidet sich also nicht mit der Beobachtung, Beschreibung und Erklärung der Naturerscheinungen; sie versucht vielmehr hinter die Dinge zu kommen und die Natur zu „verstehen“. Dem Schüler sollen sich der universale Zusammenhang des erkennenden Menschen mit der von ihm zur Sprache gebrachten Natur sowie seine Stellung in diesem Ganzen zeigen. Das Vorbild für diese verstehende Naturkunde stellt für die Waldorfpädagogen die morphologische Naturanschauung Goethes dar. Für den Naturkundeunterricht insbesondere der Mittelstufe bedeutet dies eine bewusste Abkehr von der quantitativ-experimentellen (sog. „materialistischen“) Forschungsweise der modernen Naturwissenschaften und ihren Modellen. Auf den Spuren Goethes sollen die Schüler also die Naturerscheinungen als „natura naturata“ betrachten und aus ihren Gestalten auf die „dahinter“ waltenden schöpferisch-geistigen Prozesse der „natura naturans“ schließen. Am Beispiel einer naturkundlichen Epoche möchte ich die für die Waldorfpädagogik zentrale „goetheanistische Methode“ illustrieren und dabei ihre Voraussetzungen herausarbeiten.

Im Biologie-Unterricht des fünften und sechsten Schuljahres sollen die Schüler die Gestaltenvielfalt der Pflanzenwelt, insbesondere der Blütenpflanzen, genauer kennen lernen. Dazu werden sie in eine physiognomische Pflanzenbetrachtung eingeführt. Diese geht von der Erfahrung aus, dass verschiedene Blütenpflanzen den Menschen in unterschiedlicher Weise ästhetisch beeindrucken. Die von ihnen ausgelöste seelische Empfindung entspringt aus der „Gebärde“, die sich in der Gestalt der Pflanze zum Ausdruck bringt. Man kann es auch anders ausdrücken: Dieselbe Regung, welche der menschliche Betrachter innerseelisch erlebt, kommt auch in der äußeren Gestalt der Pflanze zum Ausdruck. Dann sind die Gestalten der Pflanzen als Manifestationen von Empfindungen zu betrachten, die sich sowohl in der Seele des Schülers als auch in der „Seele der Erde“ vollziehen: im Krokus die Sehnsucht, im Buschwindröschen das Erstaunen, der Wunsch in der Schwertlilie, die Gläubigkeit in der Glockenblume und die Trauer in der Herbstzeitlosen. „Was man im Mienenspiel des Menschen kennen lernt, ist Ausdruck seiner Seele. […] Ebenso begegnet man in dem in der Natur auflebenden Mienenspiel der Offenbarung eines Seelenwesens“ (Kranich 1995, S. 134f). Die Pflanzenwelt ist für den Waldorflehrer die Seelenwelt der Erde. Die zentralen metaphysischen Voraussetzungen der hier skizzierten „Pflanzen-Seelen-Kunde“ des fünften und sechsten Schuljahres lauten: In allem Naturdasein lebt ein Geistig-Seelisches, welches der Mensch erkennen kann, weil er als Mikrokosmos alle Seinsbestandteile der Welt auch in sich selber trägt. In den Gestalten der Pflanzenwelt erscheint ihm die Seele der Erde, welche aufs Engste mit der seinen verwandt ist.

Es ist unschwer erkennbar, dass sich die Grundlagen und Resultate dieser Pflanzenkunde an der Waldorfschule nicht ohne weiteres schon aus der Goetheschen Naturforschung ergeben. Vielmehr bezieht der Waldorflehrer hier in seine „goetheanistische“ Naturauffassung eine spirituelle Dimension mit ein, die sich nur von der Anthroposophie Rudolf Steiners her erschließt. Die Waldorfschulen sind hier also – insbesondere in der Klassenlehrerzeit – nicht nur anthropologisch und methodisch, sondern durchaus auch inhaltlich inspiriert vom Geist der Anthroposophie.

e. Die Leitung der Schule – Kollegiale Selbstverwaltung in einheitlichem Geist

Die Lehrerschaft leitet „ihre“ Schule gemäß einer kollegialen Verfassung selbst. Sie tagt dazu in wöchentlichen Konferenzen und entscheidet in allen Beschlussangelegenheiten einmütig. Diese Selbstverwaltung erfordert einen hohen Grad an Kooperationsfähigkeit und birgt in sich zugleich ein großes Konfliktpotential, da für die meisten Angelegenheiten – anders als an staatlichen Schulen – kaum formale Vorgaben existieren. Obwohl zahlreiche empirische Untersuchungen über Schulqualität inzwischen übereinstimmend die Bedeutung einer direktorialen Leitung und einer die Schule beratenden Schulaufsicht für die pädagogische Kultur und unterrichtliche Effektivität einer Schule belegen, halten die Waldorfpädagogen unbeirrbar an der Steinerschen Idee der „Lehrer-Republik“ fest. Denn die damit verbundene Vorstellung von Autonomie ist nicht nur – wie bei den reformpädagogischen Zeitgenossen Steiners – pädagogisch oder politisch begründet, sondern entspringt letztlich aus der Gedankenwelt der Anthroposophie. Der Ausgangspunkt und die Grundlage der Waldorfschulbewegung ist das umfassende Sozialkonzept Steiners, die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus. Im rechtlich-politischen Bereich soll die Idee der Gleichheit, im Wirtschaftsleben die der Brüderlichkeit und auf dem geistig-kulturellen Gebiet, zu welchem die Schule gehört, die Idee der Freiheit bestimmend sein.

Steiner formuliert sein soziales Reformprogramm indes nur vordergründig im radikaldemokratischen Geist der Französischen Revolution. Die Letztbegründung seines sozialen Dreigliederungsimpulses erfolgt im Lichte der Weltanschauung der Anthroposophie mit ihren Grundgesetzen des Mikrokosmos und der Reinkarnation des Geistigen: Der politisch-rechtliche Bereich entspreche dem physischen Leib, der nach dem Tode wieder zu Materie zerfalle; das Wirtschaftsleben entspreche dem seelisch-astralischen Leib des Menschen, dessen brüderlich-solidarische Gesinnung über die Schwelle des Todes mit in die übersinnliche Welt hineingelangen könne; das kulturelle Leben entspreche schließlich der geistigen Ich-Wesenheit des Menschen; deshalb wirkt sich das engagierte Handeln in diesem Bereich auch noch positiv in der nächsten Inkarnation aus (vgl. Steiner 1919, 1945, S. 25ff). Die Freiheit der Schule ist zwar auch eine pädagogische Voraussetzung für die freiheitliche Erziehung der jungen Generation; in der kosmisch-menschheitlichen Sicht der Anthroposophie dient sie aber vor allem der Befreiung des „höheren“ menschlichen Geistes aus den Fesseln der „niederen“ politischen und ökonomischen Zwecke.

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit weit verbreitete Ansicht, die Freie Waldorfschule sei eine Schule mit einer besonderen reformpädagogisch-kindorientierten Prägung, gleichsam zu kurz greift. Die Waldorfschule ist, insbesondere in den acht Jahren der Klassenlehrerzeit, in ihren pädagogischen Normen und Formen eine Schule aus einem einheitlichen Geist, dem Geist der Anthroposophie. Sie unterscheidet sich von den anderen Schulen der Reformpädagogik bis heute durch den hohen Grad der „Spiritualisierung“ und Ritualisierung in allen Bereichen ihrer Schulkultur. Im Hinblick auf das Ausmaß an weltanschaulicher Geschlossenheit darf die Freie Waldorfschule hierzulande als beispiellos gelten.

3. Der weltweite Erfolg der Pädagogik Rudolf Steiners

Heute findet man Freie Waldorfschulen und die mit ihnen verwandten vorschulischen und heilpädagogischen Einrichtungen auf allen fünf Kontinenten. Die anthroposophische Schulbewegung kann mittlerweile neben der Montessori-Pädagogik als die erfolgreichste Reforminitiative gelten, die aus der klassischen Epoche der Reformpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Dieser erstaunliche Sachverhalt schlägt sich in den auf Seite 53 dokumentierten Zahlen nieder, welche die Ausbreitung der Schulbewegung in ausgewählten europäischen und außereuropäischen Staaten wiedergeben sollen.

Die Ursachen und Gründe für diese erstaunlich starke, aber erst relativ spät einsetzende internationale Expansion der Rudolf-Steiner-Schulen sowie der Waldorfkindergärten und heilpädagogischen Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage sind sicher vielfältig. Eine fundierte Klärung der Gründe für die Aktualität, die Akzeptanz und den Erfolg von Waldorfschulen kann nur durch empirische Forschung erfolgen. Um erste und vorläufige Antworten auf diese Fragen zu geben, sollen im Folgenden Ergebnisse aus drei aktuellen empirischen Studien vorgestellt werden, einer Evaluations-, einer Absolventen- und einer Schulkulturstudie.

1951 1971 1981 1991 2005

Deutschland 24 32 72 134 191

Schweiz 4 8 24 33 36

Niederlande 7 8 41 85 92

Großbritannien 6 6 16 26 30

Schweden 1 3 10 22 41

Europa 47 74 207 298 639

USA 5 10 23 67 121

Kanada 0 2 5 10 7

Australien 0 1 8 17 31

Neuseeland 0 1 4 4 9

Südafrika 0 3 4 6 18

weltweit 53 95 259 524 894

Anzahl der Freien Waldorfschulen (Angaben: Bund der Freien Waldorfschulen 1/2006)

4. Welche Lernerfolge erzielen die Schüler der Freien Waldorfschulen?

Die aktuellste Evaluationsstudie über Waldorfschulen ist die vor kurzem in Schweden veröffentlichte Dreijahresstudie von Bo Dahlin u.a (2005). Eine besondere Stärke dieser ausschließlich quantitativ angelegten Fragebogenstudie liegt in der Möglichkeit des Vergleichs der sozialen Milieus, der Lernergebnisse und der Bildungsmotivationen der schwedischen Waldorfschüler mit denen der Schülerschaft der öffentlichen Schulen.

Bezüglich der sozialen Herkunft der Waldorfschüler ergab eine Fragebogenerhebung in 851 Elternhäusern (Rücklauf: 60%), dass Waldorfeltern in Schweden eine relativ homogene soziale Gruppe darstellen. Sie sprechen zu neun Zehnteln schwedisch als Muttersprache, verfügen im Allgemeinen über eine gute Ausbildung und ein Mittelschicht-Einkommen; sie gehen zumeist „weichen“, d.h. sozialen und pflegerischen Berufstätigkeiten nach; ihre politischen Sympathien liegen eher auf der ökologisch bestimmten linken Seite des Spektrums. Ihre weltanschauliche Orientierung ist mehrheitlich religiös bzw. spirituell bestimmt und veranlasst sie zu einer eher solidarischen Haltung gegenüber den sozial Schwachen in der schwedischen Gesellschaft.

Durch diesen hohen Grad an sozialer Homogenität ihrer Elternschaft trägt die Waldorfschule – programmatisch ungewollt – zu einer gewissen sozialen und kulturellen Segregation in der schwedischen Gesellschaft bei. Im Unterschied zur Elternschaft anderer privater Schulen ist dieser Distinktionsprozess bei den Waldorfeltern weniger durch das ökonomische oder soziale Kapital bestimmt, sondern vor allem (bei 70%) durch die Wahl einer bestimmten Erziehungskultur.

Bezüglich der Ergebnisse in den nationalen Schulleistungstests in den Fächern Schwedisch, Englisch und Mathematik am Ende des neunten Schuljahres ergab der Vergleich zwischen 493 Waldorf- und 21 208 Regelschülern, dass ein größerer Teil der Waldorfschüler die vorgegebenen Standards – insbesondere im Fach Mathematik – nicht erreichte. Die Waldorfpädagogen erklären sich dies dadurch, dass ihre Schüler nicht mit dieser Art der Leistungsmessung vertraut sind und dass einige der gefragten Sachverhalte gemäß dem auf zwölf Schuljahre angelegten Waldorflehrplan erst zu einem späteren Zeit­ punkt als in den Regelschulen behandelt werden.

Aus den Antworten auf den zusätzlich ausgefüllten Fragebögen ergab sich, dass die befragten 196 Waldorfschüler sich an ihrer Schule wohler fühlten als die 5 941 Schüler der Regelschulen, dass die Waldorfschüler ein positiveres Bild von ihren Schulleistungen besaßen und ein größeres Interesse an den in Frage stehenden Fächern zeigten. Gleichwohl fühlten sie sich weniger gut in der Lage als die Regelschüler, die Anforderungen der standardisierten Tests in den drei Fächern zu meistern.

Ein viel positiveres Bild ergibt sich für die Waldorfschüler desselben Schuljahres im Hinblick auf ihre sozialen Kompetenzen. Zwei Befragungen von 325 bzw. 196 Waldorf- und 407 bzw. 5 941 Regelschülern erbrachten, dass Waldorfschüler in höherem Grad die Leitziele demokratischer Erziehung erreichten. Sie entwickelten beispielsweise mehr Offenheit und Toleranz gegenüber gesellschaftlichen Außenseitern – mit Ausnahme der Kriminellen, Nazis und Rassisten, gegen welche sie sich entschlossen wehren würden. Insgesamt legen die Antworten die Schlussfolgerung nahe, dass die Waldorfschulen noch mehr aktive, verantwortungsbereite, demokratische junge Bürger hervorbringen als die Regelschulen. Inwieweit dies allein die Wirkung der Inhalte, Methoden und pädagogischen Beziehungen dieser Schule ist oder auch auf den spezifischen kulturellen Ansprüchen und Werten ihrer Elternschaft basiert, lässt sich aus den vorliegenden Daten nicht entscheiden.

Obwohl die Waldorfschüler in den nationalen Tests im 9. Schuljahr fachlich nur mäßige Erfolge erzielen, entscheidet sich später der größte Teil von ihnen (58%) für das Hochschulstudium. Dies ergibt sich aus einem an 871 ehemalige Waldorfschüler geschickten Fragebogen (Rücklauf 68%). Frühere Waldorfschüler findet man in allen Fachbereichen der Universitäten; sie studieren die gewählten Fächer stärker aus persönlichem Interesse als aufgrund von Erwägungen der Nützlichkeit für eine spätere berufliche Karriere. Die meisten von ihnen fühlen sich für die Anforderungen ihres Studiums von ihrer Schule besser gerüstet als ihre Kommilitonen aus den öffentlichen Schulen. Bis auf wenige Ausnahmen (6%) sind sie der Ansicht, dass ihnen die Waldorfschule viel Selbstvertrauen, einen selbstständigen und kritischen Umgang mit dem wissenschaftlichen Wissen sowie die Bereitschaft zum lebenslangen Weiterlernen vermittelt habe.

5. Was wird später aus den Waldorfschülern und wie sehen sie ihre Schule im Rückblick?

Kurz vor der Veröffentlichung stehen die Ergebnisse einer von Heiner Barz und Dirk Randoll geleiteten Ehemaligen-Studie. Von den 3 500 versendeten Fragebögen wurden 1 127 ausgefüllt zurückgeschickt (Rücklauf 32,2%). Die Gesamtstichprobe wurde aus Angehörigen dreier verschiedener Waldorfschülergenerationen (1939-1942; 1945-1954; 1967-1974) gebildet, um unterschiedliche wirtschaftliche, soziokulturelle und familiäre Bedingungen des Aufwachsens und verschiedene Etappen der Waldorfschulbewegung in Deutschland zu repräsentieren.

Die gleichsam „härtesten“ Daten mit der Möglichkeit des Vergleichs mit der Gesamtbevölkerung liefert die Teilstudie von Anne Bonhoeffer und Michael Brater (2007) über die berufliche Entwicklung der ehemaligen Waldorfschüler. Die Auswertung zu den Berufen der Eltern ergibt, dass die ehemaligen Waldorfschüler in Deutschland weiterhin überwiegend aus der gehobenen, akademisch ausgebildeten Mittelschicht stammen, dem früher so genannten „Bildungsbürgertum“. Während der Anteil der Akademiker in der deutschen Bevölkerung im Mikrozensus des Jahres 2004 bei 12% lag, gehörten mehr als 40% der Väter der ehemaligen Waldorfschüler dieser Gruppe an. Fast ein Fünftel der Waldorfeltern – mit steigender Tendenz in den jüngeren Alterskohorten – waren Lehrerinnen und Lehrer (aller Schulstufen und -arten); bei den Vätern folgten ihnen in der Häufigkeit die Ingenieure vor den Kaufleuten und den Unternehmern bzw. Organisatoren. Bei der größten Elterngruppe der Lehrer handelt es sich hauptsächlich um solche, die an staatlichen Schulen tätig sind.

Wie schon bei ihren Eltern stellen auch unter den ehemaligen Waldorfschülern die Lehrerinnen und Lehrer mit 14,6% die größte Berufsgruppe dar. Wie bei den Waldorf-Vätern steht an zweiter Stelle der Beruf des Ingenieurs (9,8%), auch die Anteile der Gesundheitsdienstberufe (8,6%) sowie der Ärzte und Apotheker (7,7%) sind bei den Absolventen und ihren Vätern bzw. Müttern identisch. Dreimal so hoch wie bei ihren Vätern ist der Anteil der geistes- und naturwissenschaftlichen Berufe (9,5%) und doppelt so hoch ist die Zahl der Künstler (7,2%) unter den ehemaligen Waldorfschülern. Viel niedriger ist bei ihnen dagegen der Anteil der Kaufleute.

Im Vergleich mit der deutschen Gesamtbevölkerung ist also der Anteil der Lehrer unter den Waldorfschulabsolventen fast um das Fünffache und derjenige der Ingenieure um das Vierfache höher. Noch größer ist die Differenz bei den geistes- und naturwissenschaftlichen Berufen, bei Ärzten, Apothekern und bei Künstlern. Insgesamt ergibt sich, dass die ehemaligen Waldorfschüler fast viermal häufiger als die Grundgesamtheit (46,8% vs. 12%) eine Hochschulausbildung absolviert und überdurchschnittlich häufig akademische, künstlerische, medizinisch-therapeutische und sozialpflegerische Berufe erlernt haben. Unterdurchschnittlich seltener gehen sie in Berufe aus den Gruppen der Kaufleute und Bürofachkräfte, was auf eine eher wirtschaftsferne berufliche Orientierung hindeutet. Bemerkenswert ist auch der Befund, dass nur 2,7% aller befragten ehemaligen Waldorfschüler zum Zeitpunkt der Befragung arbeitslos waren, als die amtliche deutsche Statistik 12,0% auswies. Die Befriedigungspotentiale ihrer Berufstätigkeit liegen für die früheren Waldorfschüler weniger oft in extrinsischen Anreizen wie Freizeit, Prestige und Aufstiegschancen als vielmehr intrinsisch in den Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Arbeit als solcher.

Als die wichtigsten Ergebnisse ihrer Teilstudie halten Bonhoeffer und Brater fest: (1.) Die Waldorfschule ist faktisch nach wie vor keine Schule für alle Kinder, sondern zentral eine Schule des Bildungsbürgertums, welches sich hier habituell reproduziert. (2.) Das Vorurteil, Waldorfschulen brächten nur Künstler und lebensuntüchtige Schöngeister hervor, darf angesichts des breiten Spektrums anspruchsvoller Berufstätigkeiten der ehemaligen Waldorfschüler als eindeutig widerlegt gelten. (3.) Die Waldorfschulen besitzen eine erstaunlich hohe pädagogische Effektivität; denn sie befähigen, trotz des Verzichts auf die Selektionspraxis und Leistungsdifferenzierung der staatlichen Schulen, ihre Schülerschaft zu erfolgreichen beruflichen Karrieren; ehemalige Waldorfschüler vermögen es offenbar, in ihren Berufen den Stürmen des Arbeitsmarktes relativ gut standzuhalten. (4.) Waldorfschulen sind Schulen für eine pädagogisch kompetente Elternschaft, welche aufmerksam über die pädagogische Qualität ihrer Schule wacht; dieser Schluss liegt nahe angesichts des außerordentlich hohen Anteils an Lehrerfamilien, die ihre Kinder den Waldorfschulen anvertrauen. In der Schulwahl dieser Eltern steckt implizit ein kritisches Urteil über die pädagogische Qualität der staatlichen Schulen.

Aus der Teilstudie von Dirk Randoll (2007) über die Einstellungen ehemaliger Waldorfschüler zu ihrer Schule sind ergänzend noch die folgenden Einzelbefunde von Interesse: Der Prozentsatz der ehemaligen Waldorfschüler, welche ihr Verhältnis zur Anthroposophie als „praktizierend/engagiert“ bezeichnen, ist innerhalb von drei Jahrzehnten von 17,0% auf 7,2% zurückgegangen; der schon starke Anteil der Indifferenten und Kritiker der Steinerschen Lehre unter den Absolventen hat sich dagegen von 53,4% auf 61,4% weiter erhöht. Auch wenn für 58,7% der Probanden die Waldorfschulen zu wenig leistungsorientiert sind und mehr als die Hälfte der Befragten (52,2% – sogar 64,0% aus der jüngsten Generation) der Auffassung ist, dass die Waldorfschulen gegenüber neueren pädagogischen Entwicklungen nicht aufgeschlossen sind, halten insgesamt 62,8% unter ihnen die Waldorfschulen doch für die besten Schulen, welche sie kennen.

Im Rückblick auf Zeit in der Schule hat sich die überwiegende Anzahl der Absolventen (mehr als 80%) in der Waldorfschule zugehörig, wohl und geborgen gefühlt; ein ähnlich hoher Anteil von ihnen würde – heute vor die Wahl gestellt – noch einmal auf eine Waldorfschule gehen. Knapp die Hälfte der Befragten (45,7%) hat auch die eigenen Kinder wieder einer Waldorfschule anvertraut bzw. hat die Absicht, dies in Zukunft zu tun; ein noch höherer Prozentanteil (58,7%) bejaht die Aussage, bei der Erziehung der eigenen Kinder Elemente der Waldorfpädagogik aufgegriffen zu haben. Die überwiegende Mehrheit der Probanden (84,1%) hat die im Unterricht der Waldorfschule vermittelten Inhalte als sinnvoll erlebt und hier auch eigene Ideen verwirklichen können (73,5%). Als kritische Punkte des Waldorfunterrichts erscheinen für mehr als die Hälfte der Befragten die geringe Bedeutung der naturwissenschaftlichen Fächer sowie der Politik und des Sports; 38% der ehemaligen Waldorfschüler haben während der Schulzeit privaten Zusatz- bzw. Nachhilfeunterricht genommen.

Im Unterricht und im Schulleben hat die Anthroposophie Rudolf Steiners nach Ansicht von 60,8% der Ehemaligen aus allen drei Alterskohorten kaum eine Rolle gespielt; nur 15,8% (bei den Jüngeren 19,0%) befürworteten die gegenteilige Fragebogen-Antwort „Ich fühlte mich in der Schule zur Anthroposophie hin gedrängt“.

Als Besonderheiten ehemaliger Waldorfschüler, durch die sie sich von den Mitmenschen unterscheiden, die keine Rudolf-Steiner-Schule besucht haben, werden von den Befragten die folgenden Aspekte genannt: Sie sehen sich als offener, interessierter, kreativer, selbstständiger, toleranter und selbstsicherer, fühlen sich allerdings unterlegen im Hinblick auf Leistungsorientierung, Durchsetzungsvermögen, Exaktheit und Selbstdisziplin. Die Vorteile ihrer Bildung sehen sie darin, besser in übergreifenden Zusammenhängen denken zu können sowie über stärker ausgeprägte musisch-künstlerische und handwerklich-praktische Interessen und Fähigkeiten zu verfügen Ehemalige Waldorfschüler erleben sich gegenüber ihren Mitmenschen als empathischer, sozial interessierter und engagierter, nehmen sich aber auch häufig als Sonderlinge und Außenseiter wahr.

6. Wie erleben Lehrer und Schüler den Alltag in der Waldorfschule?

Über den Alltag der Waldorfschulen, die dort stattfindenden Interaktionen zwischen den Lehrern und Schülern und die sie leitenden Orientierungen liegen bislang nur wenige Forschungsbefunde vor.

In einer größtenteils noch unveröffentlichten Studie (vgl. Ullrich u. a. 2007; Graßhoff u. a. 2006) haben wir im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Lehrer-Schüler-Beziehungen an Waldorfschulen“ die besondere Qualität des pädagogischen Verhältnisses zwischen frühadoleszenten Waldorfschülern und ihren Klassenlehrern untersucht, von welchen sie bereits acht Jahre lang ununterbrochen im Hauptunterricht unterrichtet worden sind. Angesichts der sozialwissenschaftlichen Diagnosen zum Strukturwandel des Aufwachsens und zur Erosion der personalen Vorbilder wollten wir untersuchen, ob und inwieweit in einer Reformschule, deren Pädagogik diesen gesellschaftlich dominierenden Entwicklungen geradezu entgegengesetzt ist, heute noch eine Lehrer-Schüler-Beziehung von besonderer personaler Qualität generiert werden kann und ob bzw. inwieweit ein solch enges, an emotionaler Nähe und Asymmetrie orientiertes pädagogisches Verhältnis für heutige frühadoleszente Schüler auch erhebliche Probleme mit sich bringt.

An drei schulkulturell deutlich kontrastierenden Waldorfschulen wurden der Hauptunterricht des Klassenlehrers eine Woche lang videographiert, berufsbiographische Interviews mit den Klassenlehrern durchgeführt, (schul-)biographische Interviews mit mindestens vier ausgewählten Schülerinnen und Schülern der achten Klasse erhoben, für diese Schüler zusätzlich die Verbalzeugnisse der siebten Klasse dokumentiert und schließlich in jeder der drei Waldorfschulen eine Gruppendiskussion mit ausgewählten Lehrern und Repräsentanten aufgezeichnet. Für jede von uns untersuchte achte Klasse an den drei Waldorfschulen liegen inzwischen mindestens drei Rekonstruktionen von maximal kontrastierenden „Eckfällen“ vor, die sich jeweils als harmonische, antagonistische und ambivalente Passungsverhältnisse zwischen Klassenlehrer- und Schülerpersonen begreifen lassen.

Als ein zentraler Befund unserer Fallrekonstruktionen lässt sich festhalten, dass Waldorfschulen offensichtlich durch ihre besondere pädagogische Prägung soziale Räume und Atmosphären bieten, in denen langjährige Lehrer-Schüler-Beziehungen so intensiv ausgestaltet werden können, dass sie die an öffentlichen Schulen gängigen Rollenerwartungen weit transzendieren. Die von uns untersuchten drei Klassenlehrer agieren nicht nur als Organisationsvertreter oder pädagogische Professionelle, sondern werden auch zu signifikanten Bezugspersonen bei einigen der ihnen anvertrauten Edukanden. Das pädagogisch entgrenzte Selbstverständnis dieser Lehrpersonen hängt eng mit ihren jeweiligen Professionalisierungspfaden zusammen. Die Wege von Frau Weber und Herrn Friedrich in den Lehrerberuf sind biographisch tief verankert und folgen anscheinend einer inneren Entwicklung – im ersten Fall der Entfaltung eines ursprünglichen pädagogischen Impetus, im zweiten der Realisierung einer spirituellen Berufung. Nur bei Herrn Krüger erscheint der Zugang weniger konsistent und eher von zufälligen situativen Herausforderungen bestimmt; doch diese werden von ihm als „Rufe des Schicksals“ gedeutet, denen Folge zu leisten ist.

Dem jeweiligen berufsbiographischen Selbstentwurf entsprechend, realisiert jede der drei Lehrpersonen als Klassenlehrer bzw. als Klassenlehrerin gegenüber ihrem Lieblingsschüler eine andere Form der „pädagogischen Liebe“. Während die Beziehung von Frau Weber zu ihrem Problemkind Martin von fürsorglicher Mütterlichkeit bestimmt ist, wird diejenige von Herrn Friedrich zu seinem Jünger Jonas von einem platonisch-idealistischen Erweckungswillen getragen. Die besondere Sympathie von Herrn Krüger für seine jugendliche Protagonistin Persephone entspringt primär einem tiefgründigen ästhetischen Wohlgefallen an ihrem souveränen schulischen Rollenspiel als Hauptdarstellerin seines Klassenensembles.

Auch für diese drei Schülerpersonen lässt sich übrigens als eine Voraussetzung für das harmonische Passungsverhältnis zur Klassenlehrerperson ein besonderer biographischer Zugang zur Waldorfschule als der Schule ihrer – gleichsam nachträglichen – persönlichen Wahl nachweisen. Für Martin ist sie die eigentliche Heimat im Strudel seiner turbulenten geographischen Mobilität und seiner sich auflösenden familiären Beziehungen, für Persephone ist sie der soziale Ort, an dem die anthroposophisch inspirierte Lebensform ihres Elternhauses nahtlos ihre Fortsetzung finden kann, und für Jonas ist sie nach seinem mehrfachen Scheitern an öffentlichen Schulen der einzige ihm verbliebene bekömmliche Lern- und Lebensraum.

Die enge pädagogische Beziehung zwischen den Waldorfklassenlehrern und ihren „prominenten“ Schülern bringt für diese nicht nur Chancen, sondern auch Risiken mit sich. In jedem der harmonischen Passungsverhältnisse eröffnet die Lehrperson für eine ihr habituell affine und biographisch verwandte Schülerperson – wie beispielsweise Frau Weber für Martin – einen entwicklungsproduktiven Raum der emotionalen, kognitiven und sozialen Anerkennung. Hierin können sowohl durch Halt gebende Unterstützung außerschulische Probleme und familiäre Defizite bearbeitet als auch durch besondere künstlerische und intellektuelle Herausforderungen zusätzliche Entwicklungsimpulse ausgelöst werden. Aus den damit in unterschiedlichem Maße einhergehenden Tendenzen der Intimisierung des pädagogischen Verhältnisses und seiner Entgrenzung über den Zeitraum des Unterrichts hinaus erwächst für den Schüler allerdings auch die Gefahr, unbewusst für die Erfüllung der persönlichen Ambitionen und Nähe-Bedürfnisse des Klassenlehrers instrumentalisiert und dadurch in seinen eigenen adoleszenten Ablösungsprozessen behindert zu werden. Wenn dem Schüler also nicht zugleich auch Möglichkeiten zur rollenförmigen Distanzierung zugestanden werden, wird die exklusive Beziehung zum Klassenlehrer mit Verlusten an Autonomie erkauft – ganz zu schweigen von der Stigmatisierung und drohenden Isolation durch die Mitschüler.

Die Rückseite der „pädagogischen Liebe“ der Klassenlehrerperson, aus welcher sich für einen mit ihr „kongruenten“ Schüler ein harmonisches Passungsverhältnis ergeben hat, bilden die spannungsvollen Beziehungen mit solchen Schülerinnen und Schülern, die diesem Lehrerhabitus diametral widersprechen – z.B. zwischen Frau Weber und Anna durch deren frühadoleszente Distanzierungsbewegungen und Autonomiebehauptungen oder zwischen Herrn Friedrich und Lydia wegen deren hedonistisch-jugendkultureller Orientierung und Provokationslust. Die stärksten Spannungen zeigt die Beziehung zwischen Herrn Krüger und Sebastian. Dessen frühadoleszente Distanzierungsbewegungen, seine starke fachliche Leistungsmotivation und seine sportiv-medial ausgeprägten Freizeitinteressen widerstreiten sowohl dem waldorfpädagogischen Selbstverständnis von Herrn Krüger als auch den hochkulturellen und lebensreformerischen Orientierungen des Waldorfschulmilieus. Während für Martin die achtjährige Beziehung zu Frau Weber eine Stabilisierung seiner persönlichen Entwicklung und eine Beheimatung in der Klassengemeinschaft mit sich gebracht hat, bedeutet für Sebastian die Beziehung zu Herrn Krüger zunehmend eine Missachtung seiner Identitätskonstruktion, was schließlich zu seiner Etikettierung als Problemschüler und zur faktischen (Selbst-)Ausschließung aus dem Unterrichtsgeschehen führt.

Ein wichtiger Grund für diese diskrepanten Beziehungsverläufe liegt in der unterschiedlichen Einstellung der Schüler auf die Autoritätskonzepte ihrer Klassenlehrerpersonen: Martin hat keine Mühe damit, sich – durchaus taktierend – der mütterlichen Fürsorge von Frau Weber weiterhin anzuvertrauen und in einer pädagogischen Dyade innerhalb der Klasse noch ihr „Kind“ zu bleiben; Sebastian hingegen kollidiert mit dem hartnäckigen (Theater-)Regisseur Krüger, weil er es selbstbewusst ablehnt, die für ihn vorgesehene Rolle im Ensemble des Klassenkollektivs zu spielen.

In allen dargestellten Beziehungen geht es also nicht zuletzt um den Umgang der frühadoleszenten Schüler mit der Macht ihrer Klassenlehrer, welche an Waldorfschulen fachlich und pädagogisch so unbeschränkt bzw. „entgrenzt“ erscheint wie an keiner anderen uns bekannten Schulform der Sekundarstufe4.

7. Schluss

Auf Grund der hier referierten Forschungsergebnisse, insbesondere der Befunde der eigenen qualitativen Studie über die Praxis des Klassenlehrerkonzepts, möchte ich abschließend als Diskussionsthese formulieren: Waldorfschulen stellen im Vergleich zu Regelschulen – speziell den Gymnasien – pädagogische Gegenwelten dar, die durch reflexiv entmodernisierende Züge gekennzeichnet sind.

Reflexiv, weil sie sich selbst als eine pädagogische Antwort verstehen auf die Problematiken der immer früheren Verselbständigung der Heranwachsenden, der weiter durchgreifenden Rationalisierung und Standardisierung des schulischen Lernens und des Rückgangs verlässlicher Wertorientierungen und personaler Vorbilder.

Entmodernisierend, weil es hier um die Errichtung schulischer Gegenwelten geht, die durch die „Entgrenzung“ des pädagogischen Verhältnisses und des fachlichen Lernens genau diese Modernisierungsrisiken beschränken und kompensieren sollen. Dies erklärt auch, warum die Waldorfschulen nicht nur die familiären Milieus ansprechen, die selbst entmodernisierenden Lebensformen nahe stehen, sondern auch für solche Eltern interessant sind, die gerade durch die Lasten und Risiken der Modernisierung gekennzeichnet sind oder modernisierungskritische Haltungen zeigen. Gerade für jene familiären Milieus kann der Bezug auf die Waldorfschule als bewusste Wahl einer pädagogischen Gegenwelt verstanden werden, welche das kompensieren und ermöglichen soll, was bereitzustellen den Familien selber heute immer größere Schwierigkeiten bereitet. So gesehen ist die Tatsache, dass der Anteil der „Scheidungskinder“ an keiner Schulform so hoch ist wie an der Waldorfschule, auch nicht mehr erstaunlich.


Heiner Ullrich, Mainz


Anmerkungen

1 Dieser Beitrag entstand auf der Grundlage eines Vortrags, den der Verfasser auf einer Tagung der EZW zum Thema „Anthroposophie und christlicher Glaube“ (13.-15.11.2006) gehalten hat (vgl. MD 1/2007, 10ff).

2 Ich verdanke dieses Zeugnisdokument Sebastian Idel, der es in seiner Dissertation im Zusammenhang mit der Rekonstruktion des Passungsverhältnisses zwischen Franziska und ihrer Waldorfschulkultur einer objektiv-hermeneutischen Interpretation (sensu Oevermann) unterzieht (vgl. Idel 2007).

3 Rudolf Steiner und seine Schülerschaft beerben nicht nur mit diesem Konzept des Kulturstufenlehrplans den schulpädagogischen Herbartianismus des späten 19. Jahrhunderts (vgl. dazu Prange 2000).

4 Auch wenn das acht Jahre lange Klassenlehrer-Regime in jedem der von uns rekonstruierten Fälle in unterschiedlichem Maße Chancen und Risiken für die Schüler mit sich bringt, sollten die Waldorfschulen doch – gerade angesichts der dokumentierten negativen Fälle – intensiv darüber nachdenken, ob sie nicht die Macht der Klassenlehrer zeitlich und fachlich enger begrenzen sollten. Die an einigen wenigen Waldorfschulen schon praktizierten neuen Mittelstufenmodelle, in denen der Klassenlehrer nach der sechsten Klasse abgelöst und den Fachlehrern ein stärkeres Gewicht gegeben wird, bieten m. E. einen eher zeitgemäßen und pädagogisch produktiveren Kompromiss. Sie tragen damit auch den immer wieder bestätigten Befunden der Schul- und Jugendforschung eher Rechnung, dass durchschnittlich nach dem sechsten Schuljahr ein Umbau der Lernmotivation erfolgt und eine stärkere Orientierung an den außerschulischen Interessen der Gleichaltrigenkultur einsetzt.


Literatur

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Graßhoff, G. / Höblich, D. / Stelmaszyk, B. / Ullrich, H.: (2006): Klassenlehrer-Schüler-Beziehungen als biografische Passungsverhältnisse, in: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006), S. 571-590

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Prange, K.: Erziehung zur Anthroposophie. Darstellung und Kritik der Waldorfpädagogik, 3. Aufl. Bad Heilbrunn/Obb. 2000

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Skiera, E.: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung, München/Wien 2003

Steiner, R.: Der innere Aspekt des sozialen Rätsels – Die soziale Frage als Wendepunkt der Menschheitsentwicklung (1919), Dornach 1945

Steiner, R.: Ansprachen für die Kinder, Eltern und Lehrer (1919-1924), Stuttgart 1958 (GA 298)

Ullrich, H.: Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung, 3. Aufl. Weinheim/München 1991

Ullrich, H. / Helsper, W. / Stelmaszyk, B. /Graßhoff, G. / Höblich, D. / Jung, D.: Autorität und Schule. Klassenlehrer-Schüler-Beziehungen an Waldorfschulen, Wiesbaden 2007