Gottfried Küenzlen

Die Entzauberung der Welt. Studien zu Kultur, Gesellschaft und Religion in der Moderne

Gottfried Küenzlen: Die Entzauberung der Welt. Studien zu Kultur, Gesellschaft und Religion in der Moderne, Schriften des Instituts für Theologie und Ethik der Universität der Bundeswehr München Bd. 5, LIT Verlag, Berlin 2019, 136 Seiten, 29,90 Euro.

Das Buch Gottfried Küenzlens (emeritierter Professor für Evangelische Theologie an der Universität der Bundeswehr), erschienen in der von ihm mit herausgegebenen Reihe (neben Thomas Bohrmann und Friedrich Lohmann) seiner ehemaligen Universität, ist eine Sammlung von zehn Beiträgen, die um eine theologische und soziologische Deutung der Moderne kreisen. Der Autor ist in der evangelischen Weltanschauungsarbeit bekannt. Vor seiner Berufung an die Universität der Bundeswehr in München war er als Pfarrer der württembergischen Landeskirche Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Bis in den Ruhestand hinein war er Mitglied und Vorsitzender des landeskirchlichen Beirats für Weltanschauungsfragen.

Zum Inhalt: Die Kapitel III und IV befassen sich mit der Bedeutung von Max Webers (1864 – 1920) Werk für eine Analyse der gesellschaftlichen Gegenwart, Kapitel V mit dem Verständnis von Säkularität bei dem kanadischen Politikwissenschaftler und Philosophen Charles Taylor (geb. 1931). Kapitel VII skizziert anhand von Leben und Ideen des russischen Philosophen Alexander Herzen (1812 – 1870) die Geschichte des revolutionären Denkens im 19. Jahrhundert. Überraschend (für den Rezensenten) befasst sich Kapitel VIII mit der radikalen Kritik des modernen Fortschrittsglaubens bei Albert Camus (1913 – 1960), dem französischen Existentialisten und Dichter. Eindrücklich wird der Unterschied erläutert zwischen der Revolution – einem vergeblichen Hoffen auf Sinn durch den Umsturz des Bestehenden – und der Revolte, dem Protest gegen die unaufhebbare Absurdität menschlicher Existenz, der allein sinnhaft bleibt.

Die Einleitung (Kapitel I) und Kapitel II schaffen einen Zugang zum Titelthema „Entzauberung der Welt“ anhand von Überlegungen zu den Werken von Friedrich Schiller, Friedrich Nietzsche und wiederum Max Weber. In Kapitel VI geht es um ein für die wissenschaftliche Arbeit Gottfried Küenzlens zentrales Thema, die säkulare Glaubensgeschichte der Moderne, insbesondere die Utopie von der Schaffung des „Neuen Menschen“. Die abschließenden Kapitel IX und X befassen sich mit der Kulturbedeutung von Jubiläen und (in persönlicher Form) mit der Arbeit des Inter-University-Centres in Dubrovnik (Kroatien).

Man kann das Buch nicht nur als soziologisch-theologische Fachlektüre, sondern auch als einen Zugang zur Geistesgeschichte der westlichen Moderne betrachten, besonders in Bezug auf ihr Changieren zwischen Utopie und Utopiekritik, die von Friedrich Schiller bis Albert Camus nachgezeichnet wird. Erkenntnisleitend für die Einzelbeiträge ist die Voraussetzung, dass die „These von der Entzauberung der Welt“ zwar „kein universales, gar geschichtsphilosophisch grundiertes Erklärungsmuster darstellen kann“. Sie ist „aber als Deutungskategorie geeignet, bestimmte historisch-kulturelle Entwicklungen zu begreifen“. „Die okzipitale Moderne ist … ohne die in ihr wirkungsmächtigen Prozesse der Entzauberung nicht zu verstehen“ (13).

Insgesamt ist das eher schmächtige Buch eine Demonstration der bleibenden Wichtigkeit „deutender Soziologie“ in der Tradition von Max Weber, die Gesellschaft und Kultur anhand von „idealtypischen Konstruktionen“ verstehen und ihre Abläufe ursächlich erklären will. Einer „reduktionistischen“ Soziologie, die das Individuum lediglich als akzidentelle Bündelung von gesellschaftlichen Einflüssen versteht, wird eine Absage erteilt. Die theologischen Konnotationen, die Analyseergebnisse begleiten, machen die Beiträge gerade für die kirchliche Rezeption bedeutsam. Der Autor zitiert zum Beispiel Friedrich Nietzsche mit dem Diktum: „Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe und Weiher zurück.“ Und er merkt an: „Die kulturelle Entmächtigung des europäischen Christentums ist gegenwartsbestimmende Realität“ (17). Man wünscht sich, dass diejenigen in den Kirchen und außerhalb, die jahraus, jahrein kurzatmig und geschichtsblind auf die statistische Entwicklung der kirchlichen Mitgliederzahlen reagieren, sich von Küenzlen über den Hintergrund dieser Entwicklung belehren ließen. Nach der Lektüre von Kapitel IV „Max Weber: Wissenschaft und Religion“ würden manche Ursachenzuschreibungen für die Mitgliederverluste anders ausfallen und manche billigen Rezepte ganz entfallen.

Bei aller wissenschaftlichen Distanz ist zu spüren, dass für den Autor die These von der Entzauberung der Welt auf eine „Verlustdiagnose“ hinausläuft: Entzauberung bedeutet keineswegs nur, aber eben auch, Geist- und Sinnverlust. Gelegentlich zeigt sich diese kritische Wahrnehmung in scharfen Formulierungen. So sei Max Webers wirkmächtige Analyse von Politik und Macht zur Quelle für „sonntägliche Selbstvergewisserungsbemühungen von Politik und Politikern geworden, dass etwa Politik zu verstehen sei als ‚ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern‘ … oder dass die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik irgendwie wichtig sei: das sind inzwischen breit gehandelte Sinnsprüche fürs politische Poesiealbum“ (30). Aber die Verlustdiagnose bedeutet weder Modernitäts- noch gar Wissenschaftsfeindlichkeit. Küenzlen ist kein Geschichtsnostalgiker. Dazu ein letztes Zitat: „Gegenwärtig scheint es also an der Zeit, die Scheidung von Wissenschaft und Religion, von Glaube und Wissen als Erwerb eines kulturellen Guts neu zu verstehen und argumentativ zu verteidigen, eines Gutes, das aufzugeben einen kulturellen Verlust bedeutete, dessen tatsächliche Folgen wir noch gar nicht kennen“ (57). Populisten und Fundamentalisten werden diesen Appell weder verstehen noch beachten, die meisten Medienschaffenden ebenso wenig. Dennoch ist er wichtig und gültig. Man kann die Lektüre des Buchs nur empfehlen.


Hansjörg Hemminger, Baiersbronn