Sebastian Schüler

Die Emerging-Church-Bewegung

Liminalität als Identität

Einführung

Die Emerging-Church-Bewegung (ECB) kann mittlerweile auf etwa 20 Jahre ihrer Geschichte und Entwicklung zurückblicken. Während sie dabei lange unter dem Radar der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geblieben ist und auch anfänglich kritisch von verschiedenen christlichen Einrichtungen beäugt wurde, erfährt sie in den letzten Jahren immer mehr Zuspruch. Ihre transformierende Dynamik zeigt sich dabei zunehmend in ihrer Popularisierung durch teils unbewusste Adaptionen einiger ihrer Ideen und Praktiken durch etablierte Kirchen und Freikirchen (Freudenberg 2018).

Die Emerging Church wird oft als postmoderne und überkonfessionelle Kirche bzw. Bewegung bezeichnet (Rönz 2012, Schüler 2015, 2017), die sich insbesondere durch ihre dezentrale und flexible Struktur einerseits und ihre kreative und spirituelle Praxis andererseits auszeichnet. Sie ist zudem eine äußerst heterogene Bewegung, bestehend aus unterschiedlichen Teilbewegungen, einzelnen Gruppen und Gemeinden, Netzwerken und Plattformen, die jedoch bestimmte Ideen und Praktiken teilen. In der wenigen wissenschaftlichen Literatur wird dabei häufig ihre kritische Auseinandersetzung mit dem Evangelikalismus und dem charismatischen Christentum betont, denen die ECB eine zu enge ideologische Nähe zu den Idealen der Moderne, insbesondere dem Neoliberalismus vorwirft (Bielo 2011, Packard 2012, Freudenberg 2016). Demnach seien christliche Gemeinden und Kirchen zu sehr damit beschäftigt, institutionelle Strukturen zu bilden, zielgruppenorientierte Programme anzubieten und das Gemeindewachstum sowie die Gemeindegründung systematisch wie ein Unternehmen voranzutreiben. Daraus hat sich eine kritische Reflexion und Diskussion im Kontext der ECB darüber entspannt, inwiefern das Christentum in vielen Teilen nur noch Konsumkultur ist und wie man Kirche wieder authentisch gestalten kann (Bielo 2011).

Der rezente Wunsch nach Veränderung von Kirche und Christsein führte in den letzten 20 Jahren zu unterschiedlichen Projekten, Bewegungen und Netzwerken, wobei die ECB nur eine von vielen ist. Andere Bewegungen mit den gleichen oder ähnlichen Anliegen sind etwa die Fresh-Expression-Bewegung (Fresh X) oder aber die 24-7Prayer-Bewegung (Schüler 2013, 2014, 2019), die beide aus England stammen. Hinzu kommen diverse kleinere Netzwerke oder Plattformen wie etwa Kirchehoch2, All for One oder die katholisch initiierte Gebetshausbewegung, die alle einen explizit ökumenischen Fokus besitzen und Wege der Erneuerung für Kirche und Glauben suchen. Obwohl die ECB bereits global verbreitet und translokal vernetzt ist, beschränkt sich dieses Phänomen jedoch vorwiegend auf westlich geprägte Gesellschaften und findet sich insbesondere in den USA, Europa, Kanada, Neuseeland und Australien (Rönz 2012). Dies schließt natürlich nicht aus, dass es ähnliche Initiativen auch in anderen Erdteilen und Ländern gibt, jedoch sind in Südamerika, Afrika (südlich der Saharazone) sowie in Asien (etwa Südkorea) besonders pfingstliche und neocharismatische Gruppen präsent. Und auch in den sogenannten westlichen Ländern ist die ECB eine marginale Bewegung (abseits des lutherischen Christentums, des evangelikal-charismatischen Spektrums und des Katholizismus), deren Ideen und Praktiken jedoch zunehmend in den christlichen Mainstream unterschiedlicher Konfessionen hineindiffundieren (Schüler 2019).

Im Folgenden sollen die zentralen Merkmale der Bewegung vorgestellt werden. Daran soll zudem gezeigt werden, dass weniger die kritische Abgrenzung von bisherigen „modernen“ christlichen Formaten die ECB kennzeichnet, sondern deren Suche nach Identität vielmehr durch einen dauerhaften Balanceakt gekennzeichnet ist. Dieser liminale Zustand entsteht bei dem Versuch, die kulturellen und sozialen Ambivalenzen unserer spätmodernen Gesellschaft auszuhalten, damit umzugehen und darin eine Möglichkeit für ein kulturreflexives, diesseitsorientiertes Christentum zu finden.

Kurze Geschichte der ECB

Die Wurzeln der Emerging Church in den USA lassen sich auf den Erfolg evangelikaler Megakirchen in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zurückführen. Mit dem Anwachsen der Megakirchen wurden die Mitarbeiter nach Unternehmensmodellen geschult. Der klassische Prediger und Lehrer musste immer mehr wie ein CEO eines großen Unternehmens agieren, und es wurden gezielt Führungs- und Wachstumsmodelle in die Kirchenorganisation übernommen. Diese Verschmelzung von ökonomischen Modellen und megakirchlichen Organisationsstrukturen schuf neue Möglichkeiten für religiöse Unternehmer.

Ein solcher Unternehmer war Bob Buford, der The Leadership Network (TLN) gründete, eine Organisation, die Pastoren und Gemeindeleiter in geschäftsähnlichen Methoden des Gemeindewachstums ausbildete. Für die jüngere Generation erfolgreicher Pastoren wurde von TLN das Young Leaders Network (YLN) gegründet, das als eine Diskussions- und Austauschplattform zur Entwicklung zeitgemäßer Theologien und Gemeindestrukturen diente. 1996 fand die erste YLN-Konferenz mit dem Titel „Ministering to Generation X“ in Colorado Springs mit etwa 250 Teilnehmern statt.

In den folgenden Jahren verschob sich der Fokus der Diskussion von der Frage nach der Anpassung der Kirche an eine bestimmte Generation junger Menschen (Generation X) auf die Frage, wie Kirche in einer postmodernen Gesellschaft aussehen sollte. Im Jahr 2000 wurde das YLN in Terra Nova Project (TNP) umbenannt (immer noch unter der Regie von TLN), in dem Arbeitsgruppen neue Ideen zu Theologie, Führerschaft, Gerechtigkeit und Kreativität entwickeln sollten.

Aus diesem Umfeld erwuchsen in den folgenden Jahren (entkoppelt von TLN) unterschiedliche Bewegungen, Netzwerke, Gemeinden sowie diverse Publikationen, die zusammen das ergeben, was heute meist mit dem Oberbegriff Emerging-Church-Bewegung (ECB) bezeichnet wird. Dazu stellen sich solche Bezeichnungen wie emergent conversation, postmodern ministry oder einfach emerging Christianity. Zentrale Protagonisten, die zum Teil auch aktiv im YLN beteiligt waren und die alle durch ihre Publikationen wichtige Impulse für die Emerging Church gegeben haben, sind u. a. Mark Driscoll, Dan Kimball, Brian McLaren, Neil Cole, Alan Hirsch, Rob Bell, Michael Frost und Shane Claiborne (alle USA).

Die neu entstandene ECB etablierte sich einerseits lokal in bestehenden Gemeinden, die Raum für diese neuen, experimentellen Formate boten. Andererseits vernetzten sich einzelne Personen über Standorte hinweg. 2001 folgte die Gründung von Emergent Village, einem Netzwerk, das durch Austausch im „geschützten Raum“ die Ideen der ECB vorantrieb, ohne dass die Mitwirkenden Gefahr liefen, in ihren Heimatgemeinden auf Ablehnung oder Häresievorwürfe zu stoßen. Die erste Emerging-Church-Konferenz wurde im Zusammenhang mit der National Pastors Conference 2002 abgehalten (Bielo 2011). Seitdem wurden die Konferenzen der Emerging Church kleiner und regionaler und konzentrieren sich in der Regel auf den kreativen Ausdruck von Glauben und auf soziale Gerechtigkeit. Zudem sind Gruppen und Netzwerke in der ECB sehr egalitär organisiert, mit flachen Hierarchien. Die organisatorische Teilhabe vieler Gemeindemitglieder soll die Möglichkeit bieten, den individuellen Charakter einer Gemeinde entstehen zu lassen, anstatt auf standardisierte Formate, Programme und Strukturen zurückzugreifen, was Packard (2012) auch den „Do-It-Ourself (DIO)-Ansatz“ in der ECB nennt.

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