Hans Peter Duerr

Die dunkle Nacht der Seele. Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen

Hans Peter Duerr, Die dunkle Nacht der Seele. Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen, Insel Verlag, Berlin 2015, 687 Seiten, 29,95 Euro.

Zum Autor: Es handelt sich um den Ethnologen und Philosophen Hans Peter Duerr (geb. 1943) und nicht um den Physiker Hans-Peter Duerr (1929 – 2014).

Blättert man kurz durch das voluminöse Buch, dessen Umschlag einen Ausschnitt aus dem Altarbild Hieronymus Boschs „Der Aufstieg zum Himmlischen Paradies“ zeigt, das wie kaum ein anderes Kunstwerk in der Forschung zu sog. Nahtodeserlebnissen rezipiert und interpretiert wird, so stellt sich schnell das Gefühl ein, wieder einen echten „Duerr“ in der Hand zu halten. Das fast 700-seitige Werk, mit vielfältigen Illustrationen, einem über 150-seitigen Endnotenapparat und einer nur unwesentlich kürzeren Bibliografie versehen, steht schon in dieser formalen Hinsicht in der Tradition der früheren Arbeiten. Duerr knüpft aber auch inhaltlich und methodisch an frühere von ihm bearbeitete Themen an: sowohl im Blick auf seine Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Fragen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und dem Irrationalen als auch seines Interesses an Schamanismus. Das Buch verweist somit zurück auf Duerrs Forschungsschwerpunkte der 1970er und frühen 1980er Jahre. Er thematisiert diesen Umstand selbst, wenn er schreibt, dass er das Buch eigentlich schon früher hätte schreiben wollen (10).

Duerr wählt einen Zugang, der „Nahtod-Erfahrungen“ nicht isoliert betrachtet, sondern sie in den weiteren Kontext von Außerkörperlichkeits-Erfahrungen und des sog. außerkörperlichen Reisens einordnet. Der Zusatz „Jenseitsreisen“ im Untertitel ist daher mit Bedacht gewählt und verweist darauf, dass es nicht nur um Nahtod-Erfahrungen geht, sondern dass das Buch einen weiteren Blickwinkel eröffnet und letztlich auch auf eine Reflexion über das Leib-Seele-Problem hinausläuft. Duerr wählt einen Ansatz, der phänomenologisch orientiert ist. Dieser besteht darin, dass er seine eigenen Nahtod-Erfahrungen, Außerkörperlichkeits-Erfahrungen und Erfahrungen mit halluzinogenen Substanzen wie LSD, Meskalin oder Psilocybin zur Interpretation der Erfahrungsberichte Dritter und der Sekundärliteratur hinzuzieht.

Dieser Ansatz führt ihn zu einem Unterscheidungsmuster, mit dem er sich von zwei unterschiedlichen, in der Forschung zu Nahtod-Erfahrungen häufig anzutreffenden Positionen absetzt. Er wertet sog. Nahtod-Erfahrungen und Erfahrungen von Außerkörperlichkeit, wie sie in anderen Kontexten – etwa im Kontext schamanischer Jenseitsreisen – auftreten können, als gleichartige Erfahrungen. Er grenzt diese jedoch ab von Erfahrungen, die durch halluzinogene Substanzen induziert werden (241), da dem Konsumenten bewusst sei, dass das unter dem Einfluss von Halluzinogenen Erlebte nicht der äußeren Wirklichkeit entspricht. Duerr setzt sich mit dieser Unterscheidung einerseits von Positionen ab, die – wie im Begriff Nahtod-Erfahrungen schon impliziert – diese Erfahrungen zwingend mit einer Todesnähe und den damit einhergehenden physischen Veränderungen verknüpft sehen, und andererseits von Positionen, die sie auf einer Ebene mit drogeninduzierten Erfahrungen sehen. Nahtod-Erfahrungen sind für ihn somit weder Erfahrungen einer eigenen Art, da sie eben auch abseits von Todesnähe und Sauerstoffmangel auftreten können, noch können sie einfach gleichgesetzt werden mit anderen Formen veränderter Bewusstseinszustände.

Zur Charakterisierung dieser Erfahrung entlehnt er den aus der ethnologischen Literatur, insbesondere der klassischen Schamanismusforschung im Anschluss an Mircea Eliade bekannten Begriff der „Seelenreise“. Nun darf hieraus nicht der Schluss gezogen werden, dass Duerr von einem Leib-Seele-Dualismus ausgeht und annimmt, eine substanziell gedachte Seele könne sich unabhängig vom Körper im physischen Raum bewegen oder vollständig unabhängig von Körperfunktionen weiterbestehen. Er zielt mit dieser Bestimmung auf die Charakterisierung der Erfahrung ab, die auf psychische Prozesse zurückzuführen sei, die sich aber in ihrer Qualität von anderen veränderten Bewusstseinszuständen unterscheide und durchaus realer wirke als beispielsweise durch Halluzinogene induzierte Zustände oder Träume, da man tatsächlich annehme, den Ort, an dem man sich gerade befindet, zu verlassen.

Das Buch zählt definitiv nicht zu jenen Büchern über Nahtod-Erfahrungen, die Hoffnung auf Unsterblichkeit machen oder diese gar beweisen möchten. Dass seine Botschaft aber dennoch nicht deprimierend ist, zeigt sich in den letzten Worten des Anhangs: „Der Optimist glaubt, daß die Menschheit eines Tages den Tod besiegen wird. Und der Pessimist befürchtet, daß ihr dies tatsächlich gelingen könnte“ (408).

Abgeschlossen wird das Buch mit zwei Anhängen, der erste befasst sich mit der Frage, seit wann „Seelenreisen“ dokumentiert sind (383-406). In diesem diskutiert der Autor primär die Frage, ob bestimmte Höhlenmalereien als Darstellungen schamanischer „Seelenreisen“ gedeutet werden können, eine Frage, die er bejaht. Im zweiten Anhang diskutiert er, ob „Nahtod-Erfahrungen“ eine Hoffnung auf Unsterblichkeit nahelegen (407-408). Dieser Schlussfolgerung steht er hingegen kritisch gegenüber.

Das Buch kann jedem empfohlen werden, der sich mit der Thematik der Nahtod-Erfahrungen oder des Schamanismus befasst, da es mit einer Fülle auch älterer Quellentexte bekannt macht und vielfältige Anregungen zu geben vermag. Wer sich mit der Leib-Seele-Problematik beschäftigt und einen vielleicht etwas unkonventionellen Zugang sucht, mag das Buch mit Gewinn lesen. Es erscheint jedoch ratsam, bereits Vorkenntnisse zu besitzen, da Duerr gleich in die Diskussion einsteigt und weder einen allgemeinen Überblick über die Forschungsgeschichte noch eine systematische Einführung bietet. Der Leser wird vielmehr auf eine Seelenreise mitgenommen, in deren Verlauf er mit einer Vielzahl von Forschungspositionen konfrontiert wird, mit denen sich Duerr in gewohnt kritischer Weise befasst.

Leider ist der Endnotenapparat unübersichtlich gestaltet, und es lässt sich teils schwer nachvollziehen, welcher Autor denn nun genau zitiert bzw. referiert wird. So lassen sich dann auch Aussagen Duerrs, die offensichtlich problematisch sind, etwa die Behauptung, dass „viele moderne Lutheraner“ von der Existenz eines Astralleibes ausgehen (373f) – auf eine Mehrzahl kontemporärer eschatologischer Entwürfe deutschsprachiger evangelischer Theologinnen und Theologen bezieht er sich hier wohl kaum –, nicht wirklich überprüfen. Im Gegensatz zu Duerrs Meinung dominieren heute sicherlich Varianten des „Ganztodes-Neuschöpfungs-Ansatzes“, der gänzlich ohne Astralleiber oder ähnliche metaphysische Hilfskonstruktionen auskommt.

Hinsichtlich des Umgangs mit Quellen ist anzumerken, dass Duerr – so kritisch er auch mit Interpretationsansätzen aus der Forschungsliteratur umgeht – es letztlich nicht schafft, seine Bewertungskriterien für die von ihm herangezogenen Quellen transparent zu machen. Es verbleibt vieles auf der Ebene der direkten Korrelation mit eigenen Erfahrungen. Dies liest sich einerseits sehr spannend, andererseits erscheint das Buch passagenweise als eine durchaus willkürlich erscheinende Aneinanderreihung der Zusammenfassungen unterschiedlicher „Berichte“ von „Jenseitsreisen“, „Visionen“ und „Nahtodeserlebnissen“, ohne deren jeweilige literarische Gattung und Zielsetzung zu hinterfragen. Es ist zu bedauern, dass Duerr dieses Buch nicht früher, näher an den Diskussionen um „Nahtodeserlebnisse“ der 1990er Jahre oder, wie ja ursprünglich geplant, in den 1980er Jahren veröffentlicht hat. Ob das Buch eine Renaissance der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema in Deutschland einleiten kann, ist abzuwarten, wahrscheinlich ist es hierfür jedoch zu wissenschaftlich-sperrig, und die Forschungsergebnisse sind zu ernüchternd.


Harald Grauer, Sankt Augustin